Helmut Marcon / Heinrich Strecker (Hgg.): 200 Jahre Wirtschafts- und Staatswissenschaften an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Leben und Werk der Professoren. Die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Tübingen und ihre Vorgänger (1817-2002), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, 2 Bde., XIV + 1596 S., ISBN 978-3-515-06657-0, EUR 142,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Hartmut Berghoff / Jakob Vogel (Hgg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt/M.: Campus 2004
Alexander Nützenadel: Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949-1974, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005
Dierk Hoffmann / Andreas Malycha (Hgg.): Erdöl, Mais und Devisen. Die ostdeutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen 1951-1967. Eine Dokumentation, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016
Die Tübinger Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät ist die älteste ihrer Art in Deutschland und zählt noch heute zu den bedeutendsten, wie erst kürzlich im Spiegel-Ranking bestätigt wurde. Die Geschichte dieser Fakultät wird mit dem vorliegenden Werk auf zweifache Weise dokumentiert: Der erste Band enthält ein Bio-Bibliografisches Nachschlagewerk zu allen Ökonomen, die jemals in Tübingen gelehrt haben, von Friedrich List bis Horst Köhler. Die Fakultät hat stets klingende Namen wie Robert Mohl (Gründer der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft) und Albert Schäffle, Hans Peter und Norbert Kloten in ihren Reihen gehabt. Der zweite Band versammelt elf Aufsätze zur Institutionen- und Wissenschaftsgeschichte der Fakultät. Es handelt sich um ein unverzichtbares Nachschlagewerk zur Geschichte der Wirtschaftswissenschaften nicht nur an der Universität Tübingen, sondern in Deutschland überhaupt. Die Tatsache, dass die beiden Herausgeber (Helmut Marcon ist akademischer Oberrat und Heinrich Strecker war Professor für Ökonometrie an der Universität Tübingen) fast 20 Jahre für die Fertigstellung des Buches verwendeten, zeigt zugleich die Gründlichkeit wie die Mühseligkeit eines solchen Unterfangens. Das Ergebnis ist überaus beachtlich und sollte möglichst viele wirtschaftswissenschaftliche Fakultäten zur Nachahmung animieren. Der Band trägt zu der Erkenntnis bei, dass Profil und Selbstbewusstsein wirtschaftswissenschaftlicher Lehre und Forschung Produkte historischer Pfadabhängigkeiten sind, die auf diese Weise erforscht und dargestellt werden können.
Mit dem biobibliografischen Teil setzen sich die Herausgeber ein wahres Denkmal für die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften in Deutschland. Die Einträge, die chronologisch nach der Lehrtätigkeit aufgeführt werden, informieren über Herkunft, Ausbildung und beruflichen Werdegang der Ökonomen sowie über Mitgliedschaften in Vereinen, Ehrungen und außerwissenschaftliche Tätigkeit. Allein diese von Strecker und Marcon zusammengetragenen Daten könnten bereits eigene prosopografische Studien zur Sozialgeschichte der Hochschullehrerschaft anregen. Darüber hinaus unterrichtet das Verzeichnis aber auch über die Publikationen der Hochschullehrer selbst und gibt sogar zusätzliche Literaturhinweise, in denen weitere biografische Details recherchiert werden können. Fotos und Unterschriftenproben vervollständigen das Bild. Der einzige Kritikpunkt an dem ersten Band besteht darin, dass sich das Namensregister, das zu seiner Benutzung dringend erforderlich ist, im zweiten Band befindet.
Aber nicht nur als biografisches Nachschlagewerk zur Geschichte der Wirtschaftswissenschaften ist das Buch ein wichtiger Beitrag zur wissenschaftshistorischen Forschung. Auch die im zweiten Band versammelten Aufsätze liefern interessante und neue Beiträge zur wissenschaftshistorischen Forschung. Hierzu zählt auch das 90-seitige Einleitungskapitel der Herausgeber im ersten Band, das die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften in Tübingen chronologisch zusammenfasst. Marcon und Strecker konnten in ihrem Aufsatz nicht nur zahlreiche Details gegenüber der älteren, von dem Tübinger Wirtschaftshistoriker Karl Erich Born 1967 verfassten Festschrift richtig stellen. Die Einleitung offenbart auch, wie stark die Entwicklung der Disziplin von den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen abhängig gewesen ist. Dies gilt für die Stärkung der kameralwissenschaftlichen Forschung im frühen 19. Jahrhundert genauso wie für die Schwierigkeiten, mit denen die "Privatwirtschaftslehre" Wilhelm Riegers oder Robert Wilbrandt aufgrund seiner politischen Überzeugungen in den 1920er- und 1930er-Jahren konfrontiert waren.
Neuland betreten die Herausgeber freilich mit der Schilderung des Strukturwandels der Disziplin nach 1945. Der Sammelband belegt nicht nur eindrucksvoll, in welchem Maße die Wirtschaftswissenschaften seit dem Zweiten Weltkrieg expandierten, sondern auch, wie sie sich gleichzeitig veränderten. Hierzu liefern die Aufsätze im zweiten Band wertvolle Erkenntnisse: Marcon und Strecker weisen zum Beispiel darauf hin, dass die Rahmenprüfungsordnung aus dem Jahre 1937 im Hinblick auf den Kanon der vier Kernprüfungsfächer im Grunde bis 1983 fortwirkte (1189). Immo Eberl entwickelt in seinem Beitrag über die Beziehung der Wirtschaftswissenschaften zur Historischen Forschung die These, dass die verstärkte Gründung wirtschaftshistorischer Speziallehrstühle seit den 1960er-Jahren die Tendenz zur Ausschaltung historischer Fragestellungen in der Wirtschaftswissenschaft verstärkt und zementiert habe (1452). Sylvia Paletschek kann nachweisen, dass die Habilitanden der Jahre 1965-1992 im Gegensatz der vor 1965 Habilitierten in Bezug auf die geografische Mobilität, die Ausbildungswege und das Habilitationsalter ungewöhnlich homogen waren; so macht sie auf die generativen Muster des Wandels der Wissenschaft aufmerksam.
Während die Ergebnisse zur Geschichte der Wirtschaftswissenschaften für das 19. und 20. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges im Grunde bereits bekannt und in einer umfangreichen Literatur zur allgemeinen Universitätsgeschichte ausgiebig erforscht worden waren, geben die Ausführungen zur Nachkriegsgeschichte Hinweise darauf, wie überwältigend der Strukturwandel der Universitäten insgesamt, aber vor allem der Wirtschaftswissenschaft im Besonderen in dieser Phase gewesen ist. Der Band von Marcon und Strecker lässt letztlich erkennen, wie lohnend und notwendig die Beschäftigung mit der Institutionen- und Dogmengeschichte der Ökonomie in der Nachkriegszeit ist, als das Fach seine heutige Gestalt erhielt. Natürlich ist auch in diesem Strukturwandel der 1960er- und 1970er-Jahre die Tübinger Fakultät nur eine von (zunächst) 18 Fakultäten mit volkswirtschaftlichem Diplomstudiengang gewesen und andernorts verlief die Entwicklung je nach den dortigen lokalen Rahmenbedingungen unter Umständen ganz anders. Gerade deshalb sind Nachschlagewerke wie das vorliegende unentbehrlich, um den Strukturwandel und damit die soziale Einbettung wirtschaftswissenschaftlichen Fortschritts in zukünftigen Forschungen überhaupt beschreibbar zu machen.
Jan-Otmar Hesse