Hermann Wellenreuther: Niedergang und Aufstieg. Geschichte Nordamerikas vom Beginn der Besiedlung bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts (= Geschichte Nordamerikas in atlantischer Perspektive von den Anfängen bis zur Gegenwart; Bd. 1), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2000, 744 S., 48 Abb., 5 Tab., ISBN 978-3-8258-4447-9, EUR 86,90
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Hermann Wellenreuther: Ausbildung und Neubildung. Die Geschichte Nordamerikas vom Ausgang des 17. Jahrhunderts bis zum Ausbruch der Amerikanischen Revolution 1775 (= Geschichte Nordamerikas in atlantischer Perspektive von den Anfängen bis zur Gegenwart; Bd. 2), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2001, 794 S., ISBN 978-3-8258-4446-2, EUR 86,90
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Hermann Wellenreuther (ed.): The Revolution of the People. Thoughts and Documents on the Revolutionary Process in North America, 1774-1776, Göttingen: Universitätsverlag Göttingen 2006
Hermann Wellenreuther: Von Chaos und Krieg zu Ordnung und Frieden. Der Amerikanischen Revolution erster Teil, 1775-1783, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2006
Joseph Canning / Hermann Wellenreuther (eds.): Britain and Germany Compared: Nationality, Society and Nobility in the Eighteenth Century, Göttingen: Wallstein 2001
In insgesamt sieben Bänden planen Norbert Finzsch (Köln), Ursula Lehmkuhl (Berlin) und Hermann Wellenreuther (Göttingen) die Geschichte Nordamerikas von ihren Anfängen bis zur Gegenwart darzulegen. Dies ist ein wahrhaft ambitioniertes Projekt, zumal ein vergleichbares Werk nicht existiert, das hier der Orientierung dienen könnte. Die ersten beiden Bände der Reihe liegen mittlerweile vor, und sie erstrecken sich vom Beginn der europäischen Besiedlung Amerikas bis zum Ausbruch der Revolution. Der Göttinger Historiker Hermann Wellenreuther beschreibt, konzipiert und analysiert hier also auf insgesamt über 1500 dicht bedruckten Seiten ein Vierteljahrtausend Geschichte, wobei der Schnitt zwischen den beiden Bänden um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert gesetzt wird.
Die historiografische Perspektive der beiden opulenten Bände ist die der atlantischen Geschichte. Dies gilt auch für die gesamte Reihe, deren Titel ja eine "Geschichte Nordamerikas in atlantischer Perspektive" verspricht. Gleiches signalisieren auch die Umschläge der Bände, die (vielleicht auf den ersten Blick etwas verwirrend) Nord- und Südamerika zeigen, den Atlantik zentral abbilden und Europa und Afrika zumindest erahnen lassen. In der Forschung hat die atlantische Perspektive derzeit große Konjunktur, wobei in dem vorliegenden Projekt ein dezidiert europäischer Blickwinkel eingenommen wird. Folglich ist der Atlantik als ein Raum konzipiert, der Europa und Nordamerika zu einem interdependenten Gebilde verbindet. Der Atlantik trennt nicht zwei Welten voneinander, sondern er bietet ein soziales, wirtschaftliches, geistiges und politisches Interaktionsfeld, wie Finzsch, Lehmkuhl und Wellenreuther in ihrem Vorwort zur Reihe erläutern (Band 1, vii-ix). Dass wir über die Rolle Afrikas in dieser atlantischen Geschichte Nordamerikas nur wenig erfahren, mindert nicht die Fruchtbarkeit der Perspektive, und es gehört zum guten Ton wissenschaftlichen Arbeitens, das Innovative des eigenen Ansatzes herauszustellen. Gleichwohl mag bezweifelt werden, ob man heute noch betonen muss, deutsche Amerikahistorikerinnen und -historiker wären bislang vornehmlich an der Auswanderungsgeschichte interessiert gewesen, und umgekehrt hätten amerikanische Kolleginnen und Kollegen im Wesentlichen die These des "American Exceptionalism" am Leben gehalten. Dass die Nationalgeschichte nicht der Weisheit letzter Schluss war, hat sich schon seit einigen Jahren hüben wie drüben herumgesprochen.
Mit den beiden Bänden präsentiert Hermann Wellenreuther eine Synthese jahrzehntelanger Forschung und Lehre im Bereich der Kolonialgeschichte, und die zu Grunde liegende Literatur- und Quellenbasis ist schlechthin beeindruckend. Entsprechend der konzeptionellen Vorgabe werden in dem Text sowohl nordamerikanische Binnenstrukturen als auch Entwicklungen europäischer Gesellschaften betrachtet, aufeinander bezogen und ineinander verschränkt. So werden wir umfassend über die indigenen Kulturen Nordamerikas informiert, über die europäischen Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, über die Entdeckungsfahrten der Europäer und die Bilder und Vorstellungen, die sie von Menschen und Land auf der anderen Seite des atlantischen Ozeans auf die unterschiedlichsten Arten und Weisen generierten und reproduzierten. Breit wird dann die französische wie die britische Kolonialpolitik ausgeführt, und natürlich werden auch die schwedischen und niederländischen Kolonisationsversuche, die von weniger dauerhaftem Erfolg waren, vorgestellt. Die Tiefe und Gründlichkeit der Ausführungen Wellenreuthers mag dadurch verdeutlicht werden, dass der Leser erst nach einem guten Drittel des ersten Bandes, also nach beinahe 250 Seiten, mit der Gründung der ersten englischen Siedlung Jamestown in der Kolonie Virginia im Jahr 1607 vertraut gemacht wird; und dies ist häufig ein Ausgangspunkt für Betrachtungen nordamerikanischer Kolonialgeschichte. Beinahe der gesamte zweite Teil des ersten Bandes befasst sich dann mit der "Neuordnung der Kolonialreiche" in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, einer Phase der Konsolidierung, in der auch historische Ereignisse und Phänomene wie der Pelzhandel, der "King Philip's War" oder die Hexenjagd von Salem in Massachusetts diskutiert werden, um hier nur einige wenige Beispiele herauszugreifen. Das Buch schließt mit einer Art Ausblick auf das 18. Jahrhundert. Hier wird für den zweiten Band eine Betrachtung des veränderten atlantischen Raums als ein neuer "Arbeitsmarkt" freiwilliger und erzwungener Migration in Aussicht gestellt.
Dieser zweite Band beginnt mit einem Aufriss des europäisch-amerikanischen Verhältnisses um 1700, also einer Zeit, als Amerika in den Augen vieler Europäer den Status des Kuriosums verloren hatte und zumindest in deren Bewusstsein fest und wie selbstverständlich verankert war, wie der Autor betont. Wellenreuther wendet sich zunächst der europäischen Konstellation zu, und hier vor allem dem Verhältnis Frankreichs wie Englands zu ihren Kolonien in Nordamerika. Diese Ausführungen bilden gewissermaßen den Sockel, auf dem dann die Betrachtungen der Kolonien selbst stehen. Vor allem die Vielfalt der kolonialen Konstellationen und Lebenswelten, die im zweiten Band stärker akzentuiert werden als im ersten, stellt hier hohe Anforderungen an den Verfasser. Ein weiteres zentrales Thema dieses Bandes ist (wie angekündigt) die zunehmende Migration, wobei vor allem die südlichen Kolonien durch die Zwangszuwanderung afrikanischer Sklavinnen und Sklaven geprägt wurden. Gleichwohl wird der Geschichte des atlantischen Sklavenhandels und der Sklaverei in all ihren Facetten und Bedeutungen vergleichsweise wenig Platz eingeräumt. Die Geschichte der Native Americans sowie Handels-, Religions- und Geistesgeschichte bilden die Schwerpunkte der Darstellung. Das letzte große Kapitel behandelt ausgiebig den Bruch der Kolonien mit dem Mutterland bis zu den Zusammenstößen von britischer Armee und amerikanischer Miliz in Lexington und Concord im April 1775.
Der gesamte Text beider Bände ist mit zahlreichen informativen Grafiken, Statistiken und Abbildungen illustriert. Dabei lässt die Qualität der Abbildungen leider zu wünschen übrig. Das ist insbesondere bei Reproduktionen von Karten störend und angesichts des Anspruchs des Werkes und vergleichbarer Abbildungen, die US-amerikanische Verlage in Handbüchern produzieren, erstaunlich. Interessant ist sicherlich auch die Frage nach dem Publikum dieser Bücher, die bereits Marianne Wokeck in ihrer Rezension für das "Journal of American History" aufgeworfen hat. [1] Interessierte Laien sowie US-amerikanische Kolleginnen und Kollegen werden wohl doch seltener zu diesen Bänden greifen, sind sie doch von Aufmachung und Anlage her im Wesentlichen an ein akademisches Fachpublikum gerichtet, das der deutschen Sprache mächtig ist. Mit Blick auf Studierende, die mithilfe dieses Werkes Zugang zur nordamerikanischen Kolonialgeschichte finden möchten, wäre es wohl manchmal hilfreich gewesen, deutlichere Schneisen durch das Dickicht des historischen Materials zu schlagen und stärker zu vereinfachen. Zugleich ist es aber auch die Materialfülle der Bände und deren hervorragende Dokumentation, die detaillierte Ausarbeitung, der umfassende Anmerkungsapparat, die lange Literaturliste und das Register, die dieses Werk zum geeigneten Ausgangspunkt und zur Standardreferenz weiterer verschiedenster Arbeiten zur Kolonialgeschichte machen. Auf die folgenden fünf Bände von der Revolution bis zur Gegenwart darf man gespannt sein.
Anmerkung:
[1] Marianne Wokeck, in: Journal of American History 90 (2003) 4, 1421-1422.
Jürgen Martschukat