Wolfgang Hackl: Eingeborene im Paradies. Die literarische Wahrnehmung des alpinen Tourismus im 19. und 20. Jahrhundert (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 100), Tübingen: Niemeyer 2004, VI + 260 S., ISBN 978-3-484-35100-4, EUR 56,00
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Kaum eine andere europäische Region hat im 18. Jahrhundert eine ähnliche Umwertung erfahren wie die Alpen. Die Dichtungen Albrecht von Hallers und Jean Jacques Rousseaus hatten dabei ganz wesentlichen Anteil daran, dass aus der unwirtlichen und lebensfeindlichen Natur, die den Transit zwischen Nord und Süd nur zu behindern schien, eine erhaben ästhetische und moralisch erhebende Landschaft wurde. Diese Ästhetisierung des Gebirges zog zahlreiche auf Nachempfindung bedachte Reisende an, deren Ansprüche an Unterkünfte und Transportmittel dafür sorgten, dass in den Schweizer Alpen neben dem Mittelrhein und Italien eine der Wiegen des modernen Tourismus stand. In seiner Innsbrucker Habilitationsschrift knüpft Wolfgang Hackl an die Wechselwirkung von Literatur und Tourismus an, wenn er den Diskurswandel des alpinen Tourismus in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts untersucht.
Der Gegenstand der Studie sind exemplarische Texte der deutschsprachigen Alpen-Literatur. Hackl verwendet dabei einen erweiterten kulturwissenschaftlichen Literaturbegriff, der neben klassischen Gattungen auch Karikaturen aus dem Simplicissimus, Fernsehspiele und Werbetexte umfasst. Zum Teil überschneidet sich diese Auswahl mit dem Korpus der textlinguistischen Dissertation "Tourismus-Diskurse" (1997) von Ingo Thonhauser-Jursnik. Hackls Hauptanliegen gilt der Perspektive der Bereisten und weniger der Wahrnehmung der Alpen durch die Touristen. Diese Fokussierung bedingt auf der anderen Seite, dass auf eine umfassende Motiv- wie Kulturgeschichte des Alpentourismus verzichtet wird, da diese vor allem aus den Wahrnehmungsmustern der Reisenden zu rekonstruieren wäre.
Die Studie gliedert sich in vier thematische Einheiten, die durch einen kulturgeschichtlichen Abriss zum Reisen in den Alpen eingeleitet werden. Hackl spannt darin einen Bogen von der Antike bis in die Zeit des Massentourismus und führt die Forschungen zur Reisekultur und zur Alpen-Imago zusammen. Das unterlegte triadische Modell vom antiken Grenzort und locus horribilis über den idealen locus amoenus zum Konfliktraum divergierender Interessen in der Gegenwart bietet allerdings wenig Neues und dient lediglich dazu, die Alpen als historische Projektionslandschaft erkennbar werden zu lassen. Die Wahrnehmung der Einheimischen spielt gegenüber den fremden Zuschreibungen dabei kaum eine Rolle.
Der anschließende Untersuchungsteil widmet sich zunächst den Alpen als literarische Landschaft. Hackl greift dabei die von Petra Raymond gut erforschte Literarisierung der Alpen im 18. und frühen 19. Jahrhundert auf und untersucht gattungsübergreifend die Alpen-Imago der Folgezeit in Dramen von Ferdinand Raimund, Arthur Schnitzler und Ödön von Horváth sowie im Heidi-Roman von Johanna Spyri, in zwei Erzählungen aus den Bunten Steinen von Adalbert Stifter und in Hermann Brochs Roman Die Verzauberung. Die literarischen Alpenbilder, die Hackl dem zum Teil ausführlich wiedergegebenen und wenig überraschenden Korpus entnimmt, fügen sich einerseits zu einem wandlungsfähigen Motiv, wie das der Alpen als Seelensanatorium. Andererseits erweisen sie sich aber auch als vereinzelte zeithistorische Reflexe, wenn beispielsweise Horváth die Alpen zu einer Kulisse des politischen Kampfes aufbaut und Broch sie zu einem mystischen Asylraum ausdehnt. Tourismus, vor allem aber die Perspektive der Bereisten taucht in den untersuchten Texten kaum auf. Die Literarisierung der Alpen hat nur insoweit Anteil am Tourismusdiskurs, als sie Projektionen schafft, die in der Folge die Erwartungen und Ansprüche der Reisenden steuern, und mittelbar das Verhalten der Einheimischen auf Erfüllung oder Verweigerung reduziert.
Erst die drei folgenden Kapitel gehen auf die zentrale Frage der Studie ein und behandeln das Verhältnis von Fremden und Einheimischen in Literatur und Gebrauchstexten. Distinktion, Kampf und Satire erscheinen dabei als die beherrschenden Modi der Kommunikation und Reflexion. Am Beispiel verschiedener Karikaturen aus dem Simplicissimus zeigt Hackl, wie Kleidung, Sprache und Lebensstil im touristischen Kulturkontakt mit den Worten Christoph Hennings zu "Schlachtfeldern sozialer Distinktion" wurden, sodass schließlich aus Nachbarn ferne Exoten und folglich aus Einheimischen "Eingeborene" wurden. Umsichtig legt Hackl die politischen und sozialkritischen Schichten der jeweiligen Satire frei, um die diskursiven Muster des Kulturkontakts beschreiben zu können, ohne beispielsweise die antipreußischen Ressentiments des Simplicissimus unreflektiert dem Tourismusdiskurs zuzurechnen.
Zwar deutet sich an, dass der Kulturkontakt wechselseitig auf die jeweilige Identität der Reisenden und Bereisten einwirkt, eine befriedigende Analyse dieser Konsequenz fehlt jedoch. Gerade für die Ethnografie, auf die Hackl sich methodisch ausdrücklich beruft, stünde aber mit Bernard Crettaz' Vorschlag, dass die Schweizer Identität in Teilen als eine Art "Bricolage" auch aus touristischen Fremdbildern verstanden werden kann, ein übertragbares Konzept für den Alpenraum insgesamt zur Verfügung. Lohnend wäre daher, der unter der oberflächlichen Distinktion verlaufenden Anverwandlung touristischer Sicht- und Verhaltensweisen nachzugehen. Denn nicht immer handelt es sich um Verstellung, wenn Einheimische die Erwartungen der Touristen (über-)erfüllen. Zudem betreiben auch die Eingesessenen selbst zunehmend alpinen Tourismus, fahren Ski und suchen im Gebirge die erholsame Idylle. Im Tourismusdiskurs liegt daher ein dialektisches Verhältnis von Dissimilation und Assimilation verborgen, das die Tourismuskarikatur und die meist satirischen Zerrbilder nur bei einer Lektüre gegen den Strich preisgeben.
Nicht in jedem Fall gelingt es Hackl so gut wie bei der Analyse von Ludwig Thomas "Sommergeschichte" Altaich, den relationalen Begriff der Fremdheit hinter den Manifestationen der Andersartigkeit herauszuarbeiten. So werden Thomas humorvolle Kritik am Tourismus und die Idealisierung Altbayerns von Hackl als bittere Abwehr einer drohenden kulturellen Interaktion entlarvt. Oft reproduzieren Analysen wie die der kulturkämpferischen Attacken des Reimmichels im Tiroler Volks-Boten ebenso wie die der Satiren von Helmut Qualtinger und O. P. Zier lediglich das Klischee vom Tourismus als Bedrohung, gleichviel ob von außen oder von innen heraus.
Die erfreulich textnahen Interpretationen der Gedichte Verlogene Heimat und Der andere Blick von N. C. Kaser und Ernst Jandl führen im Schlussteil nochmals zurück zur literarischen Genese der Alpenklischees, wenngleich über den Weg der Dekonstruktion. Hackl kann an beiden Gedichten zudem zeigen, das die Gegenwartslyrik ihren Anteil an der Konstruktion von Landschaftswahrnehmung mitreflektiert.
Hackls Studie kommt das Verdienst zu, den literarischen Diskurs über den alpinen Tourismus in die Reflexion über das Eigene und Fremde in der Literatur eingebettet zu haben. Damit ergänzt er die kulturwissenschaftliche Forschung zur Alpenwahrnehmung um die bisher zu wenig beachtete Perspektive der Bereisten. An mancher Stelle bleiben die Konturen des Tourismusdiskurses in Abgrenzung zur Geschichte der Alpenwahrnehmung allerdings zu unscharf. Zwar wird Hackl nicht müde zu betonen, dass er weder eine nach Systematik noch Vollständigkeit abgeschlossene Arbeit vorlegt, ein Defizit sei aber dennoch moniert: Die Alpinismusliteratur, die lediglich eine überholte Arbeit von Aloys Dreyer aus dem Jahr 1938 erschließt, gerät gar nicht erst in den Blick, obwohl sie auf die touristische Alpenwahrnehmung entscheidend einwirkte.
Thorsten Fitzon