Josef Ehmer: Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1800-2000 (= Enzyklopädie deutscher Geschichte; Bd. 71), München: Oldenbourg 2004, XII + 168 S., ISBN 978-3-486-55732-9, EUR 19,80
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Bevölkerungsgeschichte und Historische Demografie gehörten in den letzten Jahren nicht gerade zu den Modethemen der deutschen Geschichtswissenschaft. Die zweitgenannte, jüngere Teilsdisziplin erlebte zwar in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren durch ihre enge Verknüpfung mit der damals neuen Alltags- und Mikrogeschichte zeitweise starke Beachtung. Dennoch ist die Rekonstruktion vergangener demografischer Prozesse und Verhaltensweisen eine Nische für Spezialisten geblieben. Angesichts des plötzlich erwachten gesellschaftlichen Interesses am gegenwärtigen demografischen Wandel, der Debatten über Kindermangel, Überalterung und der möglicherweise bald dramatischen Schrumpfung der deutschen Bevölkerung hat die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit demografischen Phänomenen aber unverhofft an Aktualität gewonnen. Insofern ist der 71. Band der Enzyklopädie deutscher Geschichte gerade zum richtigen Zeitpunkt erschienen.
Der Salzburger Historiker Joseph Ehmer bietet eine knappe, aber fundierte und gut lesbare Einführung in die Themenfelder historisch-demografischer Forschung. Dem vorgegebenen Gliederungsschema der Reihe folgend, werden im ersten, enzyklopädischen Teil zunächst die wesentlichen demografischen Trends der letzten zwei Jahrhunderte nachgezeichnet. Der zweite, etwas umfangreichere Teil diskutiert Grundprobleme und Tendenzen der Forschung, wobei auch auf die wichtigsten internationalen, namentlich angelsächsischen und französischen Entwicklungen eingegangen wird, die für Deutschland oft impulsgebend waren. Eine 333 Titel umfassende Auswahlbibliografie schließt das Buch ab. Ehmer macht auch mit den wichtigsten Quellengattungen, Begriffen, statistischen Kennziffern und Verfahren bekannt. Diese forschungspraktischen Aspekte bleiben jedoch eher am Rande: Eine Einführung in die komplexen quantitativen Methoden der historisch-demografischen Forschung kann und soll der Band nicht leisten.
Thematisch geht es primär um die Kernbereiche von Historischer Demografie und Bevölkerungsgeschichte: um die Phasen des Bevölkerungswachstums, die Veränderungen von regionaler Verteilung und Altersstruktur der Bevölkerung, von Sterblichkeit und Lebenserwartung, Fertilität und Geburtenkontrolle, von Heiratsverhalten und Unehelichkeit. Weitgehend ausgeklammert bleibt das eng benachbarte Feld der historischen Familienforschung, der ein separater Band der Enzyklopädie gewidmet ist. Einbezogen wird hingegen die historische Migrationsforschung, obwohl diese sich inzwischen zu einem so breiten und eigenständigen Forschungsbereich entwickelt hat, dass sie wohl mit gleichem Recht wie die Familiengeschichte einen eigenen Band hätte beanspruchen können.
Wie der Titel des Buches schon andeutet, handelt es sich bei Bevölkerungsgeschichte und Historischer Demografie eigentlich um zwei Teildisziplinen, die sich zwar mit demselben Gegenstandsbereich befassen, sich in ihrer Herangehensweise aber doch klar voneinander abgrenzen - ein Dualismus, der eine Besonderheit der deutschen Forschungslandschaft ist. Auf der einen Seite steht die makroanalytisch arbeitende Bevölkerungsgeschichte, die eng mit dem Namen von Wolfgang Köllmann verbunden ist, dem bis in die 1970er-Jahre einflussreichsten Bevölkerungshistoriker der Bundesrepublik; auf der anderen Seite die mikroanalytische Historische Demografie, die sich an französischen und englischen Vorbildern orientierte und seit den 1970er-Jahren zunächst vor allem von Arthur E. Imhof in Deutschland eingeführt wurde.
Ehmer privilegiert keine der beiden Richtungen, betont vielmehr die Notwendigkeit einer Synthese. Allerdings verdeutlicht er doch, wie sehr gerade die mikrohistorischen Fallstudien viele der früheren vermeintlichen Gewissheiten ins Wanken gebracht und somit neue Fragen angestoßen haben. Gab es wirklich eine durch 'ungehemmte Fortpflanzung' der Unterschichten ausgelöste Bevölkerungsexplosion im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts, oder ist diese Annahme eine durch ungenaue Volkszählungen und den Pauperismusdiskurs erzeugte Illusion? Die amtliche Statistik verbesserte sich zusehends, sodass über die groben Züge der weiteren Entwicklung von Fertilitäts- und Mortalitätsraten wenig Zweifel bestehen können. Wie aber erklären sich die enormen regionalen, ja selbst lokalen Variationen und die im Detail sehr unterschiedlichen Verlaufsmuster? Wie komplex und noch keineswegs geklärt die Zusammenhänge sind, führt Ehmer anhand der quantitativ besonders ins Gewicht fallenden Säuglingssterblichkeit vor: Sie hing zwar zweifellos mit dem Stillverhalten zusammen; wer dieses aber erklären will, muss über den engeren Bereich der Demografie hinausblicken und nach den jeweils spezifischen Einstellungen, Werthaltungen, Traditionen und Normen der Menschen fragen. Ähnliches gilt für die regional so unterschiedlichen Muster des Heiratsverhaltens oder der Unehelichkeitsquoten. Die mikrohistorische Demografie war denn auch von Beginn an offen gegenüber der Mentalitäts-, Alltags-, Kultur- und Geschlechtergeschichte, zu deren Etablierung ihre führenden Repräsentanten maßgeblich beitrugen.
Die neueren empirischen Befunde haben nicht nur Teilaspekte der demografischen Entwicklung in einem differenzierteren Licht erscheinen lassen, sondern den übergreifenden theoretischen Rahmen der demografisch-bevölkerungsgeschichtlichen Forschung insgesamt unterhöhlt: Der frühere Optimismus, dass mit dem Konzept des 'demografischen Übergangs' ein allgemein gültiges Verlaufs- und Erklärungsmodell gefunden sei, das die demografische Entwicklung mit den langfristigen sozio-ökonomischen Modernisierungsprozessen in Beziehung setze, hat sich weitgehend verflüchtigt. Nicht zuletzt die Annahme des Modells, dass in der post-transitorischen Phase eine neue Balance zwischen Mortalität und Fertilität eintreten werde, hat sich ja offensichtlich als unrealistisch erwiesen. So steht die historisch-demografische Forschung heute vor einer produktiven Verunsicherung. Letztlich, so Ehmers Fazit, ist ihre Grundannahme eines systematischen Zusammenhangs zwischen den einzelnen demographischen Variablen ins Wanken geraten; es sei somit nicht auszuschließen, dass eines Tages nicht nur die Theorie des demographischen Übergangs, sondern überhaupt die Einheit der Bevölkerungsgeschichte als bloßes Konstrukt erscheinen werde (127).
Erfreulicherweise bietet Ehmer nicht nur einen Überblick über die mehr oder weniger realen demographischen Entwicklungen und ihre Diskussion seitens der neueren Forschung, sondern widmet auch einen recht ausführlichen Abschnitt der Geschichte von Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik. Dies ist wohl der gegenwärtig am stärksten expandierende Zweig der bevölkerungsgeschichtlichen Forschung, der weit über den engeren Kreis der Demografie-Experten hinaus auf starkes Interesse stößt und zugleich eine kritische Auseinandersetzung mit den problematischen Traditionen der Disziplin beinhaltet. Die Bevölkerungslehre zeichnete sich von Beginn an durch eine große Staats- und Politiknähe aus, von der kameralistischen Populationistik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts über die malthusianisch inspirierten Übervölkerungsprognosen des frühen 19. Jahrhunderts, die in zahlreichen deutschen Staaten rechtliche Ehehindernisse legitimierten, bis hin zu den eugenischen und rassenhygienischen Forschungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Angesichts der mittlerweile nahezu unüberblickbaren Literatur zur Radikalisierung des erbbiologischen Denkens im frühen 20. Jahrhundert und insbesondere zur nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik, die immer mehr ins Zentrum der Analyse des NS-Regimes gerückt ist, bleiben Ehmers Ausführungen hier zwangsläufig summarisch, die bibliografischen Hinweise sehr selektiv, ermöglichen aber immerhin eine erste Orientierung.
Der Abriss über die Bevölkerungsdiskurse und Bevölkerungspolitiken endet mit dem Nationalsozialismus: Auf die aktuellen Debatten geht Ehmer nicht ein. Einzig am Ende des ersten, enzyklopädischen Teils streift er sie kurz. Sein beruhigendes Fazit lautet, dass die Entwicklung der letzten beiden Jahrhunderte zur Vorsicht mahne gegenüber düsteren Prognosen, die einseitig negative wirtschaftliche und gesellschaftliche Konsequenzen aus den gegenwärtigen Verschiebungen der Altersstruktur ableiten (56).
Beate Althammer