Christophe Chandezon: L'élevage en Grèce (fin Ve-fin Ier s. a.C.). L'apport des sources épigraphiques (= Ausonius-Publications - Scripta Antiqua; Vol. 5), Paris: de Boccard 2003, 463 S., ISBN 978-2-910023-34-8, EUR 48,00
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Erfreulicherweise genießt die antike Wirtschaftsgeschichte in den letzten Jahren wieder die verstärkte Aufmerksamkeit der Forschung. Zwar erscheint der Gegensatz zwischen den so genannten (Neo-)Primitivisten und Modernisten insofern überwunden, als die Andersartigkeit der antiken Wirtschaft gegenüber der der Moderne in der heutigen Forschung außer Frage steht, dennoch hat die "Jahrhundertdebatte" noch einen gewissen Nachhall. Arbeiten zur Wirtschaftsgeschichte haben sich stets mit dem Gang der Forschung im Allgemeinen und der vermeintlichen neo-primitivistischen Orthodoxie im Besonderen auseinander zu setzen, zumal sich Abhandlungen, die sich dezidiert um die Einvernahme dokumentarischen Quellenmaterials für die jeweilige Fragestellung bemühen, leicht dem Vorwurf eines angeblichen Positivismus ausgesetzt sehen. Demgegenüber wurde bereits in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts insbesondere von dem niederländischen Gelehrten Henri Willy Pleket geltend gemacht, dass die primitivistisch geprägte Erforschung der Wirtschaft vor allem aufzeigte, was diese nicht gewesen sei, und mahnte, im Vergleich zu anderen vormodernen Gesellschaften die Charakteristika der Wirtschaft der römischen Kaiserzeit herauszuarbeiten und dabei dokumentarische, das heißt insbesondere epigrafische Quellen für die Behandlung des Themas in größerem Ausmaße zu berücksichtigen. [1] Die von Pleket geäußerten Sachverhalte gelten auch für die Wirtschaft des klassischen und hellenistischen Griechenland.
In der Tat hat seit der grundlegenden Arbeit Rostovtzeffs zur hellenistischen Wirtschaftsgeschichte [2] die reiche epigrafische Überlieferung der griechischen Welt in den Werken zur griechischen Wirtschaftsgeschichte häufig nicht die gebührende oder aber nur selektive Aufmerksamkeit gefunden, wobei sich allerdings in jüngerer Zeit die verstärkte Einvernahme des epigrafischen Materials beobachten lässt. [3]
Um so erfreulicher ist die nunmehr von Christophe Chandezon vorgelegte Monografie zur Viehwirtschaft im klassischen und hellenistischen Griechenland, die das Thema dezidiert auf der Grundlage der epigrafischen Quellen angeht, dabei aber - und dies gilt es zu betonen - von den aus der Analyse der Inschriften zu gewinnenden Aussagen kommend alle zur Verfügung stehenden Quellengruppen für die Betrachtung der jeweiligen Fragestellungen heranzieht.
Abgesehen von den einleitenden Bemerkungen, die den forschungsgeschichtlichen, chronologischen und geografischen Rahmen der Arbeit abstecken (9-13), gliedert sich die Monografie in zwei große Teile, von denen der erste ein epigrafisches Corpus bildet (17-272) und der zweite der Analyse der Themenstellung vorbehalten ist (275-418).
Der Katalog der Inschriften ist regional gegliedert (Attika und Peloponnes, Zentral- und Nordgriechenland, ägäische Inseln, Asia Minor, Westen und Inschriften unbekannter Herkunft). Für jede Urkunde gibt Chandezon die einschlägigen Publikationen des Textes und Arbeiten an, in denen die Inschrift oder Teile von ihr thematisiert werden. Hierauf folgen der eigentliche Text, textkritische Anmerkungen zu demselben und eine Übersetzung, worauf schließlich eine eingehende Interpretation und ein Kommentar zu dem jeweiligen epigrafischen Zeugnis geliefert wird.
Der analytische Teil der Arbeit beginnt mit einer Betrachtung der Rolle, die die Viehzucht in der griechischen Landwirtschaft spielte (275-307). Im Zuge dessen betont Chandezon im Gegensatz zur primitivistischen Forschung die Bedeutung der Viehhaltung für die Landwirtschaft. Ihre Bedeutung zeigt sich nach Ansicht von Chandezon auch in den vielfältigen Möglichkeiten, durch die Viehhaltung Einnahmen zu erwirtschaften (281-284). Zwar habe die mediterrane Trias (also die Kultivation von Cerealien, Wein und Olive, der man noch diejenige von Leguminosen hinzuzufügen hat) [4] keine spezialisierte Produktion im heutigen Sinne gebildet, aber nach Meinung von Chandezon, worin ihm gewiss zu folgen ist, sind dennoch deutliche, auf den Markt hin orientierte Schwerpunkte in der Produktion festzustellen. Angesichts des Mangels an kultivierbarer Fläche gab es dementsprechend zwei Möglichkeiten der Weidung von Vieh, namentlich auf Marginal- oder auf Brachflächen (284-286). Auch die Haltung von Vieh seitens der großen Heiligtümer sieht Chandezon durch das Streben nach Gewinn motiviert und nicht durch den Wunsch, Opfertiere vorrätig zu haben (286-293). Hierauf thematisiert Chandezon Verbote der Präsenz von Vieh auf bestimmten Territorien beziehungsweise die Maßnahmen, die man gegen ein unkontrolliertes Umherschweifen von Herden traf (293-306). Schließlich lasse sich eine deutliche Zweiteilung hinsichtlich der Haltung der Tiere insofern erkennen, als Großvieh, will sagen Rinder, in der Regel als Arbeitstiere dienten, Kleinvieh, das heißt Schafe und Ziegen, hingegen als Lieferanten von Wolle, Fleisch und Milch dienten. Die marktorientierte Viehhaltung bildete damit eine integrales Konzept des agrar-pastoralen Systems der griechischen Landwirtschaft (306-307).
Im nächsten Kapitel widmet sich Chandezon dem Verhältnis von Viehzucht und Steuerhebung in den griechischen Städten und den hellenistischen Königreichen (309-330). Beachtung verdient hier vor allem seine Feststellung, dass Staatlichkeiten einen erheblichen Teil ihrer Einnahmen aus der Besteuerung beziehungsweise der Hebung von Gefällen und Gebühren in Verbindung mit der Viehhaltung zogen (319-325) und in den hellenistischen Königreichen städtische und königliche Steuerhoheiten parallel existierten (325-330).
Der nächste Schritt der Untersuchung ist der Analyse der Auswirkungen der Viehhaltung beziehungsweise der Herdenbewegungen auf die "internationalen" Beziehungen vorbehalten (331-349). Chandezon sieht unter anderem die stark ritualisierten Grenzkonflikte in der griechischen Welt auch durch ökonomische Motive, will sagen den Wunsch nach Weideland, veranlasst (338-343). Die Wichtigkeit der Viehzucht zeigt sich dementsprechend nicht zuletzt auch im Auftauchen damit verbundener Klauseln in den Staatsverträgen (344-349).
Im Anschluss daran behandelt Chandezon ausführlich die Vergabe der epinomia in Proxeniedekreten, wobei er unter anderem die mit der Verleihung verbundenen materiellen Rechte beleuchtet und die epinomia auf einer Stufe mit der enktesis ges kai oikias sieht (351-389).
Schließlich thematisiert Chandezon das in der Forschung kontrovers diskutierte Problem der Transhumanz in der griechischen Wirtschaft, wobei er eindringlich aufzuzeigen vermag, dass diese in den Quellen im von ihm behandelten Zeitraum nahezu inexistent ist (391-397).
Die Ergebnisse seiner Arbeit, die er trefflich mit Ausblicken auf den größeren Rahmen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des von ihm behandelten Zeitraums beziehungsweise der Epochen zuvor und der darauf folgenden Zeit zu verbinden weiß, führt Chandezon in einem Schlusskapitel vor (399-418), in dem er unter anderem noch einmal zu Recht den spekulativen, das heißt marktorientierten Charakter der Viehzucht betont, wobei sich freilich lediglich der Subsistenz verhaftetes Wirtschaften auf diesem Gebiet feststellen lässt.
Chandezon hat mit seiner hier angezeigten Monografie eine grundlegende und brillante Analyse der Viehwirtschaft im klassischen und hellenistischen Griechenland vorgelegt, die beispielhaft den Wert der epigrafischen Überlieferung für die Behandlung der antiken Wirtschaftsgeschichte demonstriert. Darüber hinaus ist insbesondere die Berücksichtigung aller zur Verfügung stehenden Quellengruppen durch Chandezon positiv hervorzuheben. Es bleibt zu wünschen, dass ähnlich strukturierte Arbeiten auch für andere Bereiche der klassischen und hellenistischen Wirtschaftsgeschichte angefertigt werden, um schließlich zu einer adäquaten Neubewertung der Wirtschaft dieser Zeit abseits der überholten Diskussion zwischen Primitivisten und Modernisten zu gelangen. Hierzu hat Chandezon einen grundlegenden und hervorragenden Beitrag geleistet.
Anmerkungen:
[1] Vgl. H. W. Pleket: Urban Elites and the Economy in the Greek Cities in the Roman Empire, in: Münstersche Beiträge zur antiken Handelsgeschichte 3 (1984), 3-36; ders.: Greek Epigraphy and Comparative Ancient History: Two Case Studies, in: Epigraphica Anatolica 12 (1988), 25-37; ders.: Wirtschaft, in: W. Fischer / J. A. van Houtte / H. Kellenbenz, I. Mieck / F. Vittinghoff (Hg.): Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bd. 1, Stuttgart 1990, 25-160.
[2] M.I. Rostovtzeff: The Social and Economic History of the Hellenistic World, vol. I-III, Oxford 1941.
[3] Vgl. etwa W. T. Loomis: Wages, Welfare Costs and Inflation in Classical Athens, Ann Arbor 1998.
[4] Vgl. A. Sarpaki: The Palaeoethnobotanical Approach. The Mediterranean Triad or Is It a Quartet?, in: B. Wells (Hg.): Agriculture in Ancient Greece. Proceedings of the Seventh International Symposium at the Swedish Institute at Athens, 16-17 May 1990, Stockholm 1992, 61-75.
Kai Ruffing