Kirill A. Levinson: Beamte in Städten des Reiches im 16. und 17. Jahrhundert. Unter besonderer Berücksichtigung der Freien Reichsstadt Augsburg (= Schriftenreihe zur Geistes- und Kulturgeschichte), Halle: Hallescher Verlag 2004, 303 S., ISBN 978-3-929887-34-1, EUR 44,90
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Bei dem anzuzeigenden Band handelt es sich um die deutsche Übersetzung einer unter Betreuung von Michail Bojcov an der Historischen Fakultät der Moskauer Lomonosov-Universität und Aaron Gurjewitsch am Institut für Allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften entstandenen Dissertation. Die Frage von eventuellen Kürzungen oder Erweiterungen gegenüber der ursprünglichen Dissertationsfassung wird in der Übersetzung nicht angesprochen. Erwähnenswert ist der Entstehungsbefund allemal, machten sich doch im Vergleich angelsächsische, insbesondere US-amerikanische Historiker in der deutschsprachigen Frühneuzeit-Forschung seit langem durch innovative Fragestellungen und quellenorientierte Empirie einen Namen, während dies für russische Forscher noch Neuland ist.
Levinsons Arbeit setzt sich ab aus dem sicher gut bestellten Feld traditioneller Verwaltungsgeschichte, wenn sie sich mit bisher kaum untersuchten Quellentypen - vor allem mit seriell überlieferten Bittschriften / Suppliken - dem Thema ausschließlich in historisch-soziologischer und kulturalistischer Sicht nähert. Insbesondere geht es um die Nachzeichnung der Lebensbilder jener Personengruppe, die unterhalb der politischen Elite in den diversen Ratsgremien frühmoderner Reichs- und Residenzstädte für die Stabilität der Verfassung sorgte und die zugleich für die Alltagsbedingungen der Menschen verantwortlich zeichnete. Die Stadtbediensteten, die innerhalb des kollegial strukturierten Verwaltungsaufbaus in einem besonderen Diskurs standen, werden mit ihren Biografien in den Kontext Max Weber'scher "Rationalität" eingeordnet. Die Geschichte der kleinen und mittleren Ratsdiener, deren Erforschung bereits in der von Kurt G. A. Jeserich, Hans Pohl und Georg-Christoph von Unruh herausgegebenen sechsbändigen Deutschen Verwaltungsgeschichte [1] angemahnt war, scheint jetzt in einer oberdeutschen Pilotstudie eingelöst zu sein.
An der Allgemeingültigkeit der getroffenen Aussagen zu den Stadtdienern als sozialer Gruppe bleiben aber Zweifel. Positiv ist zunächst zu sehen, dass sich der Verfasser zu einem großen Teil auf ungedrucktes Quellenmaterial stützt, doch bleiben viele Fragen der Auswahl und ihrer Bewertung offen. So sind mit den Archiven in Bamberg und Innsbruck auf der einen Seite Residenzstädte unter landesherrlicher Kontrolle untersucht, auf der anderen Seite wurden mit Frankfurt am Main und Augsburg zwei bedeutende freie Reichsstädte in die Betrachtung einbezogen. Kommunalistisch gesehen, mussten dort die Administratoren ein unterschiedliches Profil entwickeln.
Bei einem (zu) allgemein gehaltenen Inhaltsschwerpunkt setzte der Verfasser dabei vor allem auf die reichen Quellen des Augsburger Stadtarchivs. Ein städtetypologischer Unterschied zwischen Residenz- und Reichsstädten wurde an keiner Stelle thematisiert. Natürlich bleiben die Ergebnisse gebunden an eine einseitig ausgelegte Quellenauswahl, soweit sie sich nur auf Supplikationen, Berichte, Gutachten, Bestallungsurkunden und "Diener"-Eide stützen kann. Wichtige ergänzende Überlieferungsstränge wie die in der Urbanistik gut dokumentierten Tagebücher Handelnder und Reagierender wurden mit dem Verweis auf eine quantitative Fragestellung nicht berücksichtigt. Das weite Feld der Gerichtsakten, das sich sachlich und methodisch in die Analyse gut eingereiht hätte, bleibt ebenfalls unbeackert.
Mit der Konzentration auf serielle städtische Quellen ergibt sich ein möglicher weiterer Schwachpunkt. Er scheint darin zu liegen, dass die schwierig zu fördernde biografische Ebene in subalternen Ämtern wie Behörden, auf deren Einbeziehung aber hoher Wert gelegt wurde, angesichts kaum möglicher Querverbindung in den betroffenen Quellenreihen - Stichwort: record linkage - relativ farblos bleibt. Der Anspruch, dass wir durch den Blick auf zwar zahlreich überlieferte, aber rasterförmig entwickelte Supplikationen seitens der Ratsdiener auch eine "lebendigere und unmittelbarere Vorstellung vom Verwaltungsalltag" (257) bekämen, kann nur bedingt eingelöst werden. Fast scheint es, als wäre der Autor trotz seiner im Einleitungskapitel durchaus breit ausgelegten Methodik in eine "Quellenfalle" geraten. Er wird Befangener des limitierten Aussagewertes von Bittschriften als Massenware, die bisher zugegebenermaßen in der Verwaltungsgeschichte nur einen marginalen Rang einnahmen. Vielleicht zurecht!
Der Hauptteil gliedert sich zunächst in einen Abriss des Verwaltungswesens im Alten Reich vom 16. bis 17. Jahrhundert: Strategien, Taktiken, Mittel und Effekte (67-96). Die Behandlung eines der best untersuchtesten Felder der Geschichtswissenschaft ist dabei so kurz geraten, dass der Stellenwert des "Beamtentums", des Ratspersonals und der Verwaltungsstäbe - vielleicht hätte man an dieser Stelle besser von der gemein diener gesprochen - kaum nachzumessen ist. Dabei wird auch der angekündigte mentalitätsgeschichtliche Themenzugang als des Lesers Stütze zum Verständnis von Ratsherrschaft gegenüber herkömmlicher Heuristik wie der Sozialdisziplinierung zurückgenommen. Wir erfahren viel über Reglementierung, Statusfragen, gruppenbezogene Integrationsfaktoren, "sozioprofessionelles" Gruppenbewusstsein (104) oder über die Solidarität des Behördenapparats, aber zu wenig über die angekündigten Lebensbilder der Ratsdiener.
In weiteren Abschnitten des Hauptteils werden die Sozialgruppe der Bediensteten als "authentische Kategorie oder moderne Projektion?" (97-122), ihre Berufsvorstellungen (123-211) und schließlich die Auswirkungen ihres Status auf soziale Verhaltensweisen (212-256) vorgestellt. Innovativ sind in diesen Abschnitten vor allem die Ausführungen über die unsichtbare Grenze - von Etienne François [2] konfessionell belegt - zwischen öffentlichem und privatem Handeln seitens der angesprochenen Personen. Hier wird sich die republikanische Überformung der Ratspolitik und der nachgeordneten Behörden ein Stück zurücknehmen müssen zu Gunsten familiärer und freundschaftlicher Klientelsysteme, wie sie vor allem von Wolfgang Reinhard [3] und seinen Schülern fokussiert wurden. Ebenso innovativ wie vielversprechend sind die Bemerkungen des Autors über die Kanzleisprache und den Berufsjargon in den Stuben der Schreiber und Ratsdiener. Hier kann über sprachwissenschaftliche Untersuchungsfelder die Professionalisierung der Verwaltung plausibel nachgezeichnet werden. Die Soziolinguistik hat die Saat ausgelegt, die bei einer konsequenten Beschäftigung mit Institutionen, Sozialgruppen und den dort entstandenen so genannten Ego-Dokumenten [4] mit speziellen Codes auch für die Geschichtswissenschaft zur Ernte anstehen kann.
Die Arbeit Levinsons zeigt auch, dass sich die jüngere russische Forschung in einem grundlegenden Wandel befindet, der traditionelle Bewertungssysteme aus der Zeit des Ost-West-Konflikts obsolet werden lässt. Interessant ist, dass sich hierbei die Fragestellungen an die jüngere Urbanistik westlicher Prägung anlehnen. Letztlich ging es darum, soziale und kulturelle Beziehungen von Stadtbediensteten darzustellen. Netze verwandtschaftlicher, nachbarschaftlicher, freundschaftlicher oder geschäftlicher Patronage wären vor dem Hintergrund dichter Überlieferung das große Tor zur Vergangenheit der Menschen gewesen, die im Hintergrund für die Eliten in den Städten des Alten Reichs agierten. Die Quellen- und Methodenbefangenheit führen leider zu verengten Aussagen, die sich zwar von der traditionellen Verwaltungsgeschichte abheben, aber deren Ergebnisse - gewollt oder ungewollt - doch enttäuschend bleiben. Der Übersichtlichkeit hätte ein Tableau der Ratsdiener im Anhang und ein Schaubild zur ausdifferenzierten Behördenapparatur gut getan. Hier wären auf statistischer Ebene unterschiedliche Merkmale der behandelten Fallbeispiele deutlich geworden. Die Allgemeingültigkeit des "Dienens" in Ballungsräumen der Frühmoderne muss sich eben auch empirisch an örtlichen Disparitäten messen lassen.
Anmerkungen:
[1] Kurt G. A. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph von Unruh (Hgg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte, 6 Bde., Stuttgart 1983-1986.
[2] Etienne François: Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648-1806 (= Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg; Bd. 33), Sigmaringen 1991.
[3] Wolfgang Reinhard (Hg.): Augsburger Eliten des 16. Jahrhunderts. Prosopographie wirtschaftlicher und politischer Führungsgruppen 1500-1620, Berlin 1996.
[4] Winfried Schulze (Hg.): Ego-Documente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte (= Selbstzeugnisse der Neuzeit; Bd. 2), Berlin 1996.
Wolfgang Wüst