Marina Dmitrieva / Heidemarie Petersen (Hgg.): Jüdische Kultur im Neuen Europa - Wilna 1918-1939 (= Jüdische Kultur. Studien zur Geistesgeschichte, Religion und Literatur; Bd. 13), Wiesbaden: Harrassowitz 2004, VI + 214 S., 27 Abb., ISBN 978-3-447-05019-7, EUR 54,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Arnold Bartetzky / Marina Dmitrieva / Alfrun Kliems (Hgg.): Imaginationen des Urbanen. Konzeption, Reflexion und Fiktion von Stadt in Mittel- und Osteuropa, Berlin: Lukas Verlag 2009
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Die "Stadt der verwischten Grenzen" Wilna, die Joseph Roth in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts mit sensibler Aufmerksamkeit beschrieb, ist Gegenstand des vorliegenden Sammelbands, der auf einen Workshop des GWZO Leipzig im Jahre 2002 zurückgeht. Seinen Schwerpunkt bilden Varianten, Konzepte und Optionen einer urbanen Jüdischkeit im Spannungsfeld von ethnischer Vielfalt und nationaler Mobilisierung, die erneut den pluralistischen und fragmentierten Charakter moderner jüdischer Identitätskonstruktionen verdeutlichen. Programmatisch fordert Anna Veronika Wendland daher bereits in ihrem Eingangsbeitrag, am Beispiel Wilnas die monoperspektivisch-ethnozentrische Positionierung der traditionellen "Jüdischen Studien" zu Gunsten einer integrierten Stadtgeschichte aufzubrechen, in der die jüdische Bevölkerung als konstitutiver Bestandteil der "Stadt als Ganzes" gesehen wird (22). In überzeugender Weise arbeitet sie heraus, dass es neben den unterschiedlichen polnischen, jüdischen und litauischen Wahrnehmungsmustern, die das jeweilige Bild der Stadt prägten, auch interkulturelle Überlappungen, Wechselwirkungen und Vernetzungen gab, die nicht zuletzt aus den neuen sozialen Praktiken und Konsummustern der Moderne resultierten.
Die nachfolgenden Beiträge greifen diesen Ansatz auf. So befasst sich Kathrin Steffen mit dem Projekt eines Wilnaer Mickiewicz-Denkmals, das der jüdische Bildhauer Henryk Kuna entwarf, und untersucht die Diskurse der Gegner und Befürworter sowie die polnischen und die jüdischen Konnotationen des "Erinnerungsorts" Mickiewicz. Christian Trepte wiederum analysiert den Topos der "verlorenen Stadt Wilna" im Werk von Czesław Miłosz, der mit seinem nostalgischen Blick zurück gleichzeitig die Vision eines neuen Europa der Regionen entwarf.
Mehrere Beiträge des Sammelbands greifen die jiddischistische Kulturbewegung auf, die in Wilna ihr Zentrum hatte. Folgerichtig beschreibt Gennady Estraikh Wilna als "Hauptstadt" eines imaginären Jiddischlands, das den Nährboden für zahlreiche utopische Entwürfe zur Erneuerung der jüdischen "Nation" bot. In diesem Zusammenhang postuliert er auch ein damit intendiertes "social-engineering", ohne dies jedoch näher zu erläutern (109). Auch in den Beiträgen von Anne Lipphardt und Justin Cammy bleiben die sozialen Komponenten des links-laizistischen Jiddischismus recht vage, obwohl mit dem von Lipphardt vorgestellten Wilnaer "Zamlbukh"-Projekt des Workmen's Circle in New York von 1935 und der Literatur- und Kulturzeitschrift "Yung Vilne" (1934-1936) ein Lesepublikum angesprochen werden sollte, das nicht zur bürgerlichen Bildungselite gehörte und von Cammy sogar pauschal als "Arbeiterklasse" bezeichnet wird (118). In Lipphardts Beitrag bleibt zudem fraglich, ob das amerikanische Ideal von "diversity" und "ethnicity" tatsächlich zu den wichtigsten Inspirationen der osteuropäischen Autoren im New Yorker "zamlbukh" zählte (96). Den Nachweis eines amerikanischen Einflusses auf ostjüdische Identitätskonzepte bleibt sie schuldig und differenziert kaum zwischen den Wilnabildern der jüdischen Emigranten in New York und der Ortswahrnehmung der in Wilna Lebenden. Die Wilnaer jiddische Presse behandelt Susanne Marten-Finnis, die deren "volkserzieherische" Intention betont, dabei aber gleichzeitig ausführt, dass Wilna in der Zwischenkriegszeit keineswegs mehr ein bedeutendes jüdisches Pressezentrum war. Dies führt sie darauf zurück, dass die Stadt durch die neuen Grenzziehungen marginalisiert und Warschau nunmehr zum wichtigsten Schauplatz des jüdischen Kulturlebens im Zwischenkriegspolen wurde. Zudem verweist Marten-Finnis auf die zunehmende sprachliche Akkulturation der Wilnaer Judenheit (143); ein systematischer Überblick über die Hintergründe der sprachlichen Orientierungen steht jedoch noch aus.
Sprache ist auch das Medium der Geschichtsschreibung, deren (ost-)jüdische Varianten im letzten Themenblock vorgestellt werden. Die Verbindungslinien zwischen dem Begründer der ostjüdischen Historiografie Simon Dubnow, der seine Werke in russischer Sprache verfasste, der jiddischistischen Historischen Sektion des Wilnaer YIVO (Yidisher Visnshaftlikher Institut) und den in Warschau forschenden und lehrenden Historikern des Instituts für judaistische Wissenschaften zeichnen Anke Hillbrenner, Heidemarie Petersen und Maria Dold nach und arbeiten dabei gleichzeitig die unterschiedlichen Kontexte heraus: So war Dubnow ganz wesentlich durch seine Sozialisation als Jude im multiethnischen russländischen Imperium geprägt, während die jüdischen Historiker in Warschau durch die positivistische polnische Geschichtsschreibung beeinflusst wurden und sich die YIVO-Historiker der marxistisch-materialistischen Konzeption von Vergangenheit verpflichtet fühlten. Zu klären wären jedoch noch Rezeption und Funktionsmechanismen der geschichtswissenschaftlichen Sinndeutungs- und Identifikationsstiftungsangebote im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. Nur so wäre der Nachweis zu erbringen, dass es sich dabei um mehr als nur die Selbstvergewisserung einer kleinen Elite handelte.
Das Bildmaterial im Anhang liefert wertvolle Illustrationen. Unschön sind freilich einige Flexionen jiddischer Nomina im deutschen Text. Zusammenfassend ist aber festzuhalten, dass dieser Sammelband fraglos ein wichtiger Beitrag auf dem Weg zu einer integrierten Stadtgeschichte Ostmitteleuropas ist.
Gertrud Pickhan