Erich Haag: Grenzen der Technik. Der Widerstand gegen das Kraftwerkprojekt Urseren (= Interferenzen. Studien zur Kulturgeschichte der Technik; 10), Zürich: Chronos Verlag 2004, 269 S., ISBN 978-3-0340-0694-1, EUR 24,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Birgit Metzger: "Erst stirbt der Wald, dann du!". Das Waldsterben als westdeutsches Politikum (1978-1986), Frankfurt/M.: Campus 2015
Heike Düselder / Annika Schmitt / Siegrid Westphal (Hgg.): Umweltgeschichte. Forschung und Vermittlung in Universität, Museum und Schule, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014
Monika Gisler: Göttliche Natur? Formationen im Erdbebendiskurs der Schweiz des 18. Jahrhunderts, Zürich: Chronos Verlag 2007
Peter Reinkemeier: Die Gouvernementalisierung der Natur. Deutung und handelnde Bewältigung von Naturkatastrophen im Kurfürstentum Bayern des 18. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022
Martin Forter: Falsches Spiel. Die Umweltsünden der Basler Chemie vor und nach "Schweizerhalle", Zürich: Chronos Verlag 2010
Thorsten Schulz-Walden: Anfänge globaler Umweltpolitik. Umweltsicherheit in der internationalen Politik (1969-1975), München: Oldenbourg 2013
Sebastian Stude: Roter Strom. Die Geschichte des Kernkraftwerkes Rheinsberg 1956-2000, Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2022
Frank Bösch / Rüdiger Graf (eds.): The Energy Crisis of the 1970s. Anticipations and Reactions in the Industrialized World, Mannheim: GESIS 2014
Der Widerstand gegen das Kraftwerksprojekt im Urserental führte zum Erfolg: Mehr als 30 Jahre, nachdem 1920 zum ersten Mal Planungen für einen Stausee und eine Kraftwerksanlage der Öffentlichkeit vorgestellt worden waren, verzichteten 1951 die Central-Schweizerischen Kraftwerke darauf, das Konzessionsgesuch für die Anlage weiter zu verfolgen. Die bei David Guggerli entstandene technikhistorische Dissertation von Erich Haag untersucht, warum das Stausee-Projekt scheiterte.
Obwohl es sich um ein "gigantisches" Projekt handelte, war die technische Machbarkeit (feasibility) gegeben. Jedoch wäre die Kraftwerksanlage mit einer Jahresleistung von 3 Milliarden Kilowattstunden Strom und der Stausee mit 1,2 Milliarden m³ Fassungsvermögen von Dimensionen gewesen, wie es sie vorher in der Schweiz nicht gegeben hatte. Die Strommenge, die rund einem Drittel des jährlichen damaligen Gesamtstromverbrauches der Schweiz entsprochen hätte, hätte in den 1930er-Jahren wahrscheinlich exportiert werden müssen. Beispielsweise wären die westdeutschen Rheinisch-Westfälischen-Elektrizitätswerke (RWE) vermutlich ein dankbarer Abnehmer des Stroms gewesen. [1] Die Versorgungslage änderte sich jedoch in den 1940er-Jahren. Der Elektrizitätsverbrauch in der Schweiz stieg stärker als erwartet, besonders im Winter wurde die Versorgungslage prekär, sodass die Behörden Verbrauchsbeschränkungen verfügten. Daher hatte das Hauptargument der Initiatoren des Projektes, die Versorgungssicherheit, zumindest in den 1940er-Jahren einen realen Hintergrund. Diesem wirtschaftlichen Argument stand bei den Gegnern des Projektes, den Urschnern, der Unwille gegenüber, ihr Tal zu verlassen. Mehr als 2.000 Menschen hätten umgesiedelt werden müssen. Hierzu fehlte sowohl bei der ländlich-bodenständigen Bevölkerung als auch bei den Honoratioren, Gemeinde- und Kantonsbehörden sowie der örtlichen Geistlichkeit die Bereitschaft. Von dem ersten Bekanntwerden des Projektes bis zum Scheitern stand eine feste Abwehrfront. Entscheidend war, dass sowohl die Gemeinden als auch die Kantonsbehörden jegliches Gespräch mit den Projektinitiatoren ablehnten, denen nichts anderes übrig blieb, als vergeblich die Bundesbehörden einzuschalten. Ähnlich wie bei der Durchsetzung großtechnischer Projekte - etwa kerntechnischer Anlagen oder Deponien in der Bundesrepublik Deutschland - zeigt sich hier, welch starke Rolle föderalistischen Strukturen bei einer Verzögerung oder Verhinderung zukommt.
So war es letztendlich die Solidarität zwischen der betroffenen Bevölkerung und den Behörden, die das Projekt zu Fall brachte. Andere Gründe, die für das Scheitern angeführt werden, wie die Tatsache, dass die "Öffentlichkeit" die Zerstörung eines intakten Bergtales nicht hingenommen hätte, vermögen weniger zu überzeugen. Haag benennt das Naturschutzargument, aber entkräftet es gleich wieder, indem er eindrucksvoll belegt, dass der Schweizerische Bund für Naturschutz und die Schweizerische Vereinigung für Heimatschutz im Urserental kaum in Erscheinung traten. Er kommt zu dem Schluss, dass beim Widerstand der Naturschutz eine "vernachlässigbare Rolle" spielte.
Haags Dissertation ist da schlüssiger, wo die Hintergründe und verschiedenen Denk- und Sprachwelten der Projektinitiatoren und der -gegner ausgeleuchtet werden: Eine mentale Barriere trennte die Ingenieure der Central-Schweizerischen Kraftwerke von den Urschnern. Die Welt der Technik stieß auf traditionsverbundene Heimatliebe. Die Problematik der Umsiedlung der Bevölkerung wurde vom wichtigstem Promotor des Projekts, dem langjährigen Direktor und Verwaltungsratsdelegierten der CKW, Fritz Ringwald (1874-1957), unterschätzt. Für das Projekt führte er an, dass das Urnerloch eine günstige Sperrstelle darstelle, wie es sie sonst in den Alpen kaum ähnlich gebe. Schon in den 1910er-Jahren, als die Wachstumsraten der Schweizerischen Stromwirtschaft an einen Tiefpunkt gelangt waren, beschäftigte er sich mit dem Projekt und sprach von einer "großzügigen" Ausnützung der Wasserkräfte. Nur der Kraftwerksbau könne die ausreichende Landesversorgung gewährleisten, insbesondere die benötigte "Winterenergie" in genügender Menge und zu wirtschaftlich vertretbaren Gestehungskosten produzieren.
Ob ein Kraftwerk mit dieser Leistung wirklich notwendig war, wurde von den Projektgegnern, beispielsweise vom politisch führenden Kopf der Bewegung, dem aus Andermatt stammenden Regierungs- und Ständerat Ludwig Danioth (1902-1996), nicht thematisiert. Es ging vielmehr um die "Heimatscholle", um den "ererbten Grund und Boden". Der Heimatbegriff der Urschner war in dem vorwiegend bäuerlich geprägten Umfeld eng mit ihrer wirtschaftlichen Existenz verknüpft. Die zu erwartenden Ausgleichszahlungen wurden als Versuche gewertet, mit "schnödem Mammon" die Menschen zu kaufen und "ins Verderben zu stürzen". "Schlagkräftige" Argumente bekam ein Ingenieur zu spüren, nachdem damit begonnen worden war, Land für das Projekt aufzukaufen. Vor seinem Hotel versammelten sich mehrere Hundert Menschen, die ihn mit Fußtritten und Faustschlägen aus dem Tal hinausdrängten. Sehr plastisch wird die Geschichte sowohl aus der Sicht der Projektinitiatoren als auch aus der Sicht der Gegner geschildert.
Haags Dissertation ist ein spannendes, sehr gut lesbares Buch; aber ein Personen- und Sachregister hätte den schnellen Zugriff erleichtert. Die Gestaltung mit Dokumenten, Abbildungen und Fotos ist sehr ansprechend. Der Band ist einem breiten technik- und umwelthistorisch interessierten Leserkreis zu empfehlen, da es an dem Beispiel des Widerstandes gegen das Kraftwerksprojekt Urseren Mechanismen und Bedingungen aufzeigt, die einerseits das Selbstbewusstsein der ländlich geprägten schweizerischen Bevölkerung in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts verdeutlichen und andererseits für den Misserfolg von technischen Großprojekten typisch sind. Ein Vergleich zu kerntechnischen Anlagen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts drängt sich auf. [2]
Anmerkungen:
[1] Ein Alpenwasserkraftwerk für das RWE war das Vermuntkraftwerk der Vorarlberger Ilwerke AG: Dieter Schweer / Wolf Thieme (Hrsg.): Der gläserne Riese: RWE - Ein Konzern wird transparent, Wiesbaden 1998, 74.
[2] Hierzu beispielsweise Wolfgang Rüdig: Anti-Nuclear Movements. A world survey of opposition to nuclear energy, London 1990.
Anselm Tiggemann