Hannes Stekl: Adel und Bürgertum in der Habsburgermonarchie 18. bis 20. Jahrhundert. Hannes Stekl zum 60. Geburtstag gewidmet von Ernst Bruckmüller, Franz Eder und Andrea Schnöller (= Sozial- und wirtschaftshistorische Studien; Bd. 31), München: Oldenbourg 2004, 312 S., ISBN 978-3-486-56846-2, EUR 49,80
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Wenn sich die Mittelmächte in ihrer gesellschaftlichen Struktur zu Beginn des 20. Jahrhunderts von den anderen Großmächten Europas in einem Punkt unterschieden, so betraf dies die ungebrochene Dominanz des Adels. In ganz Europa sah sich der Adel seit der Französischen Revolution, der napoleonischen Flurbereinigung, der Revolution von 1848/49 und der Ausbildung einer modernen Leistungsgesellschaft im Zuge der Industrialisierung in einer Position der Defensive, unterlag seine Rolle als dominanter Faktor in Staat und Gesellschaft einem unaufhaltsamen Machtverfall. Im kaiserlichen Deutschland und in der Habsburgermonarchie war dies, gerade im Vergleich zu England und Frankreich, ganz anders. Hier konnte der Adel seine Vorrangstellung bis zum Weltkrieg konservieren; und hier gab es die so genannte "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen": ein Nebeneinander von altständischen und modernen Strukturen, sowohl im politischen wie im gesellschaftlichen System.
Seit seiner Dissertation von 1973 über "Österreichs Aristokratie im Vormärz" hat sich der Wiener Historiker Hannes Stekl diesem Thema verschrieben, das neben seinen Forschungen zum österreichischen Bürgertum sowie zu den Unter- und Randschichten der höfisch geprägten Gesellschaft der Habsburgermonarchie zum Angelpunkt seiner sozialgeschichtlich ausgerichteten Forschungen wurde. Zu seinem sechzigsten Geburtstag liegt jetzt ein Band vor, der einen Querschnitt durch die zahlreichen Arbeiten der vergangenen Dekaden zieht. Er vereint die wichtigsten und für die sozialgeschichtliche österreichische Forschung bahnbrechenden Aufsätze des Jubilars zu Adel und Bürgertum.
Den Auftakt bildet ein Überblick über "Österreichs Hocharistokratie vom 18. bis ins 20. Jahrhundert", gefolgt von einer empirisch unterfütterten Analyse des Wiener Hofes im Vormärz, die nicht nur Einblicke in das Binnenleben von Zeremoniell, Etikette und Rangordnung bietet, sondern den höfischen Mikrokosmos in seiner personellen Struktur und in seinem Finanzbedarf auch detailliert ausleuchtet. Eine Fallstudie zum Fürstenhaus der Windisch-Graetz, eine Untersuchung zur Rolle des Adels in den Stücken Nestroys sowie eine jüngst erschienene Studie zum österreichischen Adel im 20. Jahrhundert schließen sich an. Sie stellt heraus, dass sich die Aristokraten der ehemaligen Doppelmonarchie zwar mit dem Ständestaat der Zwischenkriegszeit identifizierten, zum weit überwiegenden Teil jedoch Distanz zum Nationalsozialismus hielten und sich schließlich in die demokratische Leistungsgesellschaft der Zweiten Republik klaglos eingliederten.
Die folgenden sieben Aufsätze zu Struktur, Schichtung und kultureller Identität des österreichischen Bürgertums sind nicht weniger inhaltsreich und gewichtig. Die "Ambivalenzen von Bürgerlichkeit", wie Stekl sie in einem ersten, synoptisch angelegten Beitrag nennt, nehmen die vielfach differenzierte Welt der Mittelschichten im 19. Jahrhundert in den Blick: ihre Orientierung an adeligen Verhaltens- und Kulturmustern, die die Ausprägung eines eigenen bürgerlichen Symbolsystems behinderte; ihre "Staatsnähe" und "Systemtreue"; die Binnendifferenzierung und den Trend zur Hierarchisierung sowie die Geschlechterdifferenz von Mann und Frau, sodass eine egalitär-homogene Bürgergesellschaft gar nicht entstehen konnte. Einzelnen Segmenten und Ausprägungsformen der Bürgerlichkeit sind die folgenden Aufsätze gewidmet: dem Stadtbürgertum zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dem auch für das Bürgertum so spezifischen Konnex zwischen "Vermögen und Lebensstil", dem Zusammenhang zwischen Festkultur und Ausprägung einer bürgerlichen Identität, dem Mäzenatentum sowie dem Lebensstil, den Ritualen und den Aufstiegsmustern der bürgerlichen Jugend.
Insgesamt gelangt Stekl in seinen Studien zu ähnlichen Befunden, wie sie auch die deutsche Forschung vorgelegt hat. Die entscheidende Voraussetzung für die Beharrungskraft des Adels in Staat und Gesellschaft der Monarchie war nicht nur die adlige Leistungsbilanz in Politik und Gesellschaft, in Militär und Krieg. Ebenso bedeutend war gerade im österreichischen Fall, dass die Monarchie aufgrund ihrer integrativ defizitären strukturellen und politischen Verfasstheit bis zum Weltkrieg auf die adelige Leistungselite gar nicht verzichten konnte, wollte sie ihr Fundament, ihr Selbstverständnis und ihr monarchisches System nicht gefährden. All dies schloss freilich nicht aus, dass sich der Adel auch der Moderne öffnete, dass er sich anpassungsfähig zeigte an die Erfordernisse des marktorientierten Systems. Die grundbesitzende Aristokratie wurde, wie im Deutschen Reich, vielfach zu einer agrarischen Unternehmerklasse und beteiligte sich in großem Stil an industriellen Unternehmungen. Anders als im deutschen Fall spielten hier jedoch, vor allem für die Hocharistokratie, Nobilitierungspraxis und Heiratspolitik, die der gesellschaftlichen Elite frische Kräfte zuführten, eine geringere Rolle.
Der wesentliche Unterschied zum Kaiserreich war jedoch ein anderer. Seit Bismarcks Zeiten und verstärkt in der wilhelminischen Ära beteiligten sich die ostelbischen Rittergutsbesitzer am politischen Wettbewerb. Sie lernten rasch, moderne Parteipolitik im eigenen Interesse zu betreiben und schufen sich im Bund der Landwirte eine schlagkräftige agrarische Lobby, die großen Einfluss auf die Politik der konservativen Parteien im Reichstag ausübte. In der Habsburgermonarchie gab es diese das politische System insgesamt in seiner evolutionären Entwicklung behindernde Verflechtung von Adel und Lobbyismus so gut wie nicht. Und das mag erklären, weshalb Stekls Forschungen über eine sozialgeschichtliche Binnensicht nicht hinausgelangen. Die Schichten der Gesellschaft werden methodisch vorbildlich analysiert und in ihren Lebensstilen und Schattierungen differenziert ausgeleuchtet. Dabei gerät freilich die Frage vollkommen in den Hintergrund, welche Folgewirkungen dies für die verfassungspolitische Struktur der Monarchie insgesamt hatte und ob ein Umbau des Vielvölkergebildes im Sinne eines breiteren integrativen Fundaments gerade von Adel und Bürgertum blockiert wurde.
Rainer F. Schmidt