Holger Sonnabend: Thukydides (= Studienbücher Antike; Bd. 13), Hildesheim: Olms 2004, 140 S., ISBN 978-3-487-12787-3, EUR 18,00
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Das 15 Seiten umfassende Literaturverzeichnis im Anhang dieses Studienbuches bestätigt eindrucksvoll die Aktualität des "Besitzes für immer", den der bedeutendste Historiker der Antike mit seinem Werk hinterlassen wollte. Die Zielsetzung Sonnabends, einen komprimierten Überblick über Leben und Historiografie des Thukydides zu bieten, erforderte freilich eine Beschränkung auf wesentliche Aspekte der zu behandelnden Thematik. Sonnabend ist dieser Aufgabe durchaus gerecht geworden, wenn auch die zweifellos unvermeidliche Kürze der Darstellung verschiedentlich zu einer bedauerlichen Verengung der Perspektiven geführt hat.
In der Interpretation der biografischen Nachrichten über Thukydides (9-16) fällt dies zwar nicht ins Gewicht. Die folgende Skizze der athenischen Politik in der Pentekontaëtie (16-25) und die Erörterung des "geistigen Umfeldes" des Thukydides (16-25) lassen aber Fragen offen, sodass Leser, die mit den behandelten Problemen weniger vertraut sind, nicht ausreichend informiert werden. Sonnabend übernimmt beispielsweise die ältere Forschungsthese, dass Perikles den Athenern zu Beginn des Peloponnesischen Krieges eine defensive Strategie "verordnet" habe (20). Dies trifft zwar auf die Konzeption der Verteidigung Attikas und auf die Vermeidung einer offenen Feldschlacht gegen die überlegene peloponnesische Hoplitenstreitmacht zu. Zu berücksichtigen sind aber auch die Pläne des Perikles, durch amphibische Operationen die Peloponnes "ringsum mit Krieg zu umgeben", wie Thukydides 2,7,3 bemerkt. Missverständlich sind auch die Ausführungen Sonnabends (22), dass die athenischen Theten in dem "Adligen" Ephialtes einen "prominenten Fürsprecher" gefunden hätten, "der zusammen mit Perikles als Architekt der radikalen Demokratie" gelte und den "alten Adelsrat" vom Areopag entmachtet habe. Die heutigen Begriffe "Adel" und "Aristokratie" können allenfalls als Chiffren für bestimmte Kreise der athenischen Führungsschicht im 5. Jahrhundert vor Christus gelten und erfordern daher ebenso eine Erklärung wie der Terminus "radikale Demokratie", der implizit eine negative Wertung zum Ausdruck bringt, die nicht dem politischen Selbstverständnis der Mehrzahl der Bürger Athens entspricht. Zudem kann die Anhängerschaft des Ephialtes nicht auf die Theten reduziert werden. Seine Reformen haben letztlich entscheidend dazu beigetragen, dass in der Folgezeit die politische Ordnung Athens als eine von allen Schichten der Bürgerschaft getragene Demokratie empfunden wurde. Wünschenswert wäre in diesem Abschnitt etwa auch ein Hinweis auf die Frage, ob "der sogenannte Kallias-Frieden" (18) tatsächlich ein regulärer Friedensschluss mit dem persischen Großkönig war, der einen universalen Herrschaftsanspruch vertrat.
Im folgenden zweiten Kapitel (26-41) erörtert Sonnabend den Namen und den Aufbau des Geschichtswerkes des Thukydides sowie die "Thukydideische Frage", die das Problem der Entstehung seines Opus betrifft. Sonnabend skizziert übersichtlich die Positionen der "Analytiker" und der "Unitarier" sowie die neueren Bemühungen um eine Harmonisierung der konträren Standpunkte, wobei er den Argumenten der Analytiker, die von einer inneren Entwicklung des Historikers ausgehen, mit Recht den Vorzug gibt.
In dem zentralen dritten Kapitel (42-58) behandelt Sonnabend die Geschichtsauffassung und die historische Methode des Thukydides, indem er ihn zunächst mit Hekataios und Herodot kontrastiert, um hierdurch die Voraussetzungen für eine Interpretation des "Methodenkapitels" (Thukydides 1,22) zu schaffen. Sonnabends Anliegen ist in diesem Zusammenhang die Erläuterung der Zielsetzung des Thukydides, der die aus dem Studium der Geschichte und aus der Differenzierung zwischen Ursachen und Anlässen sich ergebenden politischen Lehren zu vermitteln suchte. Auch hier ist die Kürze der Darstellung für den Leserkreis, den Sonnabend erreichen möchte, nicht unbedingt förderlich. Ein bloßer Hinweis auf die umstrittene Monografie von G. E. M. de Ste. Croix (The Origins of the Peloponnesian War, London 1972) ist in der schwierigen Frage der Kriegsbereitschaft der Spartaner wenig hilfreich (54, Anm. 36), zumal de Ste. Croix mit seiner These, dass die Megarer in Athen selbst 432 vor Christus nur von der Agora im topografischen Sinne ausgeschlossen werden sollten, in der Forschung keine Zustimmung gefunden hat.
Im vierten Kapitel (59-73) erörtert Sonnabend das Bild, das Thukydides (1,2-19) in der so genannten Archäologie am Anfang seines Werkes von der älteren Geschichte Griechenlands zeichnet. Wünschenswert wäre hier eine Korrektur der simplifizierenden Ausführungen des Thukydides (1,2) über eine angeblich ständige Suche der frühen Griechen nach neuen Siedlungsplätzen. Sonnabend nimmt an, dass Thukydides sich auf Wanderungsbewegungen "einzelner Stämme" bezieht (61). Dies geht indes nicht explizit aus der Darstellung des Thukydides hervor. Zu beachten ist zudem, dass moderne Thesen von stammesstaatlichen Organisationsformen in der griechischen Frühzeit überaus problematisch und in der Forschung umstritten sind.
Des Weiteren interpretiert Sonnabend mehrere Porträts politischer Akteure (Pausanias, Themistokles, Perikles, Kleon, Brasidas, Alkibiades) sowie einige ausgewählte Passagen, die zu den Höhepunkten der Historiografie des Thukydides zählen (74-104). Es handelt sich um die Gefallenenrede des Perikles (2,35-46), die Beschreibung der Pest in Athen (2,47-54), die Mytilenäische Debatte (3,35-50) und den Melierdialog (5,85-113). Im Mittelpunkt steht in diesen Ausführungen Sonnabends das Periklesbild. Er ist überzeugt (76), dass Thukydides 2,65 in seinem berühmten Elogium "den Idealfall des verantwortungsbewußten Politikers und Militärs" konstruieren wollte, "dessen Führung sich die Menschen bedenkenlos anvertrauen konnten". Man vermisst hier indes einen Hinweis auf den Kontrast, den Thukydides zu dem vermeintlichen Idealfall zeichnet, indem er die schwierige Meinungsbildung im Verlauf der Diskussionen über das Hilfegesuch der Kerkyraier in der athenischen Volksversammlung schildert (Thukydides 1,31-44).
Ein offenes Problem ist die Frage, ob und inwieweit Alkibiades für die Brutalität der Athener nach der Kapitulation der Melier mitverantwortlich war. Sonnabend lässt in seiner Interpretation des Melierdialogs keinen Zweifel, dass Alkibiades als Strategos "hinter dem Vorgehen der Athener in Melos" stand. Thukydides habe zeigen wollen, dass Alkibiades persönlich für seinen Anteil am Schicksal der Melier bestraft worden sei (104). Nun behauptet zwar Pseudo-Andokides 4,22-23, dass Alkibiades in der athenischen Volksversammlung den Antrag auf "Bestrafung" der Melier gestellt habe. Dies ist aber wenig wahrscheinlich. Auch die Nachricht Plutarchs (Alkibiades 16), dass Alkibiades sich für jenen Beschluss in Athen eingesetzt habe, besagt noch nicht, dass er in dieser Angelegenheit die Initiative ergriffen hat und dementsprechend die Hauptverantwortung trug.
Abschließend stellt Sonnabend die Frage, ob denn Thukydides tatsächlich der größte Historiker der Antike war. Er wägt in seinen diesbezüglichen Reflexionen Vorzüge und Defizite seiner Historiografie sorgfältig ab, akzentuiert aber gleichwohl sehr stark die selektive Präsentation der Kriegsereignisse in seinem Werk und überrascht in diesem Kontext mit der These, dass Thukydides dem Megarischen Psephisma "im Rahmen der den Krieg auslösenden Faktoren keine entscheidende Bedeutung beigemessen" habe (116). Thukydides lässt jedoch Perikles ausdrücklich darauf hinweisen, dass Spartas Verlangen, jenen Volksbeschluss aufzuheben, keine Kleinigkeit sei und weitere Forderungen zur Folge haben werde. Zweifellos wollte Thukydides hiermit zum Ausdruck bringen, dass die athenische Volksversammlung nicht zuletzt unter dem Eindruck dieser Argumente des Perikles das spartanische Ultimatum abgelehnt hat.
Insgesamt hat Sonnabend aber wichtige Probleme der Thukydides-Forschung übersichtlich dargelegt, sodass sein Buch als Einführung in diese Thematik zu empfehlen ist.
Karl-Wilhelm Welwei