Rezension über:

Christian Geulen: Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert, Hamburg: Hamburger Edition 2004, 411 S., ISBN 978-3-930908-95-0, EUR 35,00
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Rezension von:
Armin Owzar
Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Armin Owzar: Rezension von: Christian Geulen: Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert, Hamburg: Hamburger Edition 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 7/8 [15.07.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/07/6107.html


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Christian Geulen: Wahlverwandte

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Bislang ist der im 19. und 20. Jahrhundert auftretende Rassismus weitgehend mit den herkömmlichen Methoden der Ideengeschichte beschrieben worden: als eine Theorie biologischer Ungleichheit zwischen bestimmten Menschengruppen, die in einigen modernen Gesellschaften die Funktion einer Rechtfertigungsideologie für die Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung von Minderheiten erfüllen sollte. Ein solches Vorgehen ist zweifelsohne sinnvoll. Aber es läuft Gefahr, den Rassismus in seiner spezifischen Dynamik zu verkennen. So wird den Rassisten in der Regel die Vorstellung unveränderbarer, gleichsam ewiger Ungleichheit von Körpern und Bevölkerungen unterstellt. Das dynamische Element einer auf Veränderung des 'Volkskörpers' zielenden Rassenpolitik tritt dadurch in den Hintergrund - und damit auch diejenigen Ideologien und Bewegungen, die dem Rassismus gedanklich zuarbeiteten, ohne dass sie dessen rassistische Positionen immer teilten. Gleichzeitig werden Traditionen behauptet und Parallelen zu solchen Ideologien gezogen, die sich bei näherem Hinsehen als problematisch erweisen. Wie etwa lässt sich Darwins Evolutionismus, der ja grundsätzlich eine universale Verwandtschaft aller Menschen voraussetzte, mit einer Ideologie rassischer Ungleichheit in Verbindung bringen? Und wieso wird der Rassismus gemeinhin nur als übersteigerte Form des Nationalismus beschrieben, wenn dieser auf ein klar begrenztes Territorium beschränkt blieb, jener hingegen zu einer Entgrenzung neigte und damit den herkömmlichen Begriff von Nation aushöhlte?

In seiner Dissertation über den Rassendiskurs im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts versucht Christian Geulen, diesen Leerstellen und Ungereimtheiten mittels eines diskursanalytischen Verfahrens auf die Spur zu kommen. Sein Ziel ist es, den Rassismus nicht nur als Ideologie der Ungleichheit so genannter Menschenrassen zu beschreiben, sondern die ihm eigentümliche Dynamik herauszuarbeiten. Denn Rassen waren den Rassisten keine historisch unveränderbaren Entitäten; sie galten als veränderbare, formbare Massen; Rassen, so die seinerzeit gängige Vorstellung, werden gemacht. In Anlehnung an Michel Foucault benutzt Geulen in diesem Zusammenhang den Begriff der 'Biopolitik': deren Vertreter plädierten dafür, das in zahlreichen Diskursen bereitgestellte Wissen über die Veränderbarkeit und Perfektionierung des Menschen zu nutzen, um im vermeintlichen Rassenkampf zu bestehen.

Ein solcher rassentheoretischer Diskurs beschränkte sich im 19. Jahrhundert keineswegs auf Deutschland. Das zeigt Geulen durch einen Exkurs zu den in den USA geführten Debatten um Rasse und Nation. Ein gut gewählter Vergleichsraum: zeigt er doch, dass es sich beim Rassismus keineswegs um ein antimodernes Phänomen handelte, sondern im Gegenteil um eine Ideologie, für die zentrale Elemente modernen Denkens geradezu konstitutiv waren. Nichtsdestoweniger erliegt Geulen nicht der Gefahr, alle länderspezifischen Unterschiede zu nivellieren. Im Gegenteil, er zeigt, dass zwei verschiedene biopolitische Lösungen für das allen modernen Industriegesellschaften gemeinsame Problem favorisiert wurden. Das Problem: die infolge zunehmender Differenzierung von vielen als belastend empfundene Heterogenität und potenzielle Konfliktvielfalt der Gesellschaft. Die Lösung: in den USA eine Verbesserung der Leistungsfähigkeit der minoritären Rassen "als Form der Verbesserung des nationalen Ganzen" (371) - in Deutschland eine forcierte Homogenisierung des Volkskörpers, eine Zielsetzung, die gleichermaßen auf eine Assimilierung wie auf eine Vertreibung oder Vernichtung abweichender Gruppen hinauslaufen konnte (Geulen vermeidet hier zurecht eine allzu lineare Verbindung zwischen dem rassistischen Diskurs des 19. Jahrhunderts und der nationalsozialistischen Rassenpolitik).

Um seine Thesen zu belegen, zieht Geulen zahlreiche Texte heran. Darunter befinden sich nicht nur die so genannten Klassiker völkischen und antisemitischen Denkens, sondern auch Beiträge solcher Kreise, die wie die Kolonialbewegung bislang kaum unter diesem Aspekt untersucht worden sind, sowie Schriften solcher Personen und Gruppierungen, die wie der liberale Mediziner Rudolf Virchow oder die Frauenbewegung auf den ersten Blick unverdächtig wirken. Das diskursanalytische Verfahren - und das ist eines seiner Vorteile - konzentriert sich nicht nur auf die Oberfläche inhaltlicher Aussagen, sondern ist auch geeignet, die bestimmten Diskursen gemeinsamen respektive unterschiedlichen Tiefenstrukturen freizulegen, die jenseits inhaltlicher Differenzen in vielen Segmenten der deutschen Gesellschaft vorherrschten. Dabei stellt sich natürlich die Frage sowohl nach der Reichweite und der Repräsentativität der ausgewählten Teildiskurse als auch nach deren Relevanz für das beispielsweise antisemitische Handeln. Geulens Hinweise geben darauf allerdings nur unzureichend Antwort. Zwar bemüht er sich unter Rückgriff auf einige dürre Zahlen, die intensive Rezeption der von ihm ausgewählten Publikationen zu belegen. Durchweg aber wird deren Popularität eher suggeriert als bewiesen. Problematischer noch ist die von Geulen vorgenommene Auswahl. Stichproben aus Texten von Verfassern, die nicht dezidiert rassistisch denkenden Kreisen angehörten, reichen schließlich nicht aus, um das biopolitische Denken der Gesamtgesellschaft aufzudecken. Vielmehr müsste man alle größeren Segmente der Gesellschaft daraufhin befragen. Doch die deutsche Gesellschaft des Kaiserreichs erscheint wie ein homogener Block. Nach konfessionell, politisch und sozial bedingten Varianten des Denkens wird in Geulens Buch überhaupt nicht gefragt. Ein Versäumnis, das offensichtlich auf einen Mangel an sozial- und kulturgeschichtlichem Bewusstsein zurückzuführen ist. Und auch auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen rassistischem Denken und rassistischem Handeln bleibt Geulen eine Antwort schuldig.

All das ist umso ärgerlicher, als man sich durch den ganzen Text regelrecht kämpfen muss. Ein Gespür für die Erwartungen und Bedürfnisse von Lesern lässt Geulen über weite Strecken vermissen. Das manifestiert sich nicht nur im Satzbau und in der Wortwahl. Auch die oftmals verklausulierte Formulierung von Thesen, deren Bedeutung sich einem erst nach der Bewältigung mehrerer Textpassagen erschließt, ist geeignet, den Leser zu verstimmen, wenn nicht schon nach der Lektüre weniger Seiten zu verschrecken. Dies ist insofern bedauerlich, als Geulens Buch über die zumindest für Teile der deutschen Gesellschaft überzeugend wirkende Grundthese hinaus manch klugen Gedanken und einige bedenkenswerte Beobachtungen enthält. Schließlich ist die Brisanz des Themas kaum zu übersehen. Auch wenn die rassistische Variante heutzutage kaum noch eine Rolle spielt: der biopolitische Diskurs ist aktueller denn je.

Armin Owzar