Holger Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum. Die deutsche Presse und der Weg zur Aufklärung. Hamburg und Altona als Beispiel (= Presse und Geschichte - Neue Beiträge; Bd. 5), Bremen: edition lumière 2002, 316 S., ISBN 978-3-934686-08-3, EUR 34,00
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Im Mittelpunkt der 2002 erschienenen Studie von Holger Böning steht die Ausbildung und die Rolle der verschiedenen Mediengattungen wie Zeitung und Zeitschrift im Hinblick auf die Aufklärung. Es handelt sich dabei um den ersten Band einer chronologisch konzipierten Reihe zur Pressegeschichte Hamburgs und seiner Nachbarorte. Der Untersuchungszeitraum dieses ersten Bandes reicht vom 17. bis in die Anfänge des 18. Jahrhunderts. Der Schwerpunkt der Studie liegt auf der Präsentation der Zeitung, da sie, so Böning, durch ihre periodische Erscheinungsweise nicht nur die 'politische Welt' einem potenziell größeren Publikum öffnete bzw. "eroberte", sondern auch geradezu als Schrittmacher für die Entstehung weiterer periodischer Literatur und der Ausbildung eines "komplexen Informations- und Kommunikationssystems" (14-15) zu gelten habe. Damit hätten die Zeitung und insbesondere die im Zuge der weiteren Ausdifferenzierung der periodischen Medien entstehenden Gattungen wie Zeitschrift und Wochenschrift maßgeblich am Aufklärungsprozess Anteil. Anhand des "gemeinsamen Raumes urbaner Verdichtung" (15), den die freie Reichsstadt Hamburg zusammen mit ihrem dänischen Konkurrenten Altona und den Nachbarorten Wandsbeck, Schiffbeck und Harburg bildete, wird dessen Pressegeschichte, die nach Böning repräsentativ für die deutsche Pressegeschichte sei, detailliert beleuchtet. Die Konzentration auf das 17. Jahrhundert begründet Böning damit, dass dieses Säculum "in seiner Bedeutung für die Herausbildung der Moderne sehr unterschätzt wird" (11). Denn schon im frühen 17. Jahrhundert sei mit dem Entstehen der Zeitungen der Beginn eines "Strukturwandels der Öffentlichkeit" anzusiedeln (11). Grundlage der sehr materialreichen Studie bilden die Forschungsergebnisse der Bremer Presseforschung und die von Holger Böning und Emmy Moeps in den Jahren 1996 bis 1997 herausgegebene, vierbändige Bibliografie zu den mehr als 1000 periodischen Schriften Hamburgs und seiner Nachbarorte, die in der Zeit vom 15. Jahrhundert bis 1815 erschienen (11, 16).
In vier Kapiteln werden nicht nur die Gattungen Zeitung, Zeitschrift, moralische Wochenschrift und Intelligenzblatt vorgestellt, sondern es wird zugleich der Entwicklungsprozess innerhalb der Zeitung und der Ausdifferenzierungsprozess in Gestalt neuer Gattungen kommentiert.
Das erste Kapitel beschreibt unter der Überschrift "Die Welt des Politischen in der Öffentlichkeit des 17. und frühen 18. Jahrhunderts" Voraussetzungen, Ausprägungen und Rahmenbedingungen der Zeitung und ihres Marktes im Raum Hamburg und Altona. Allein der Umfang und Detailreichtum dieses Kapitels hebt die Bedeutung der Zeitung für die weitere Ausdifferenzierung hervor. Wahrscheinlich schon um 1618 verfügte Hamburg über seine erste gedruckte wöchentliche Zeitung und stand damit an fünfter Stelle in der Zeitungsproduktion im Heiligen Römischen Reich (27). Erst 12 Jahre später wurde die monopolartige Stellung dieser ersten Zeitung durch eine weitere Zeitungsgründung, die "Post Zeitung", erschüttert. Der nun einsetzende Konkurrenzkampf zeichnete sich vor allem durch die Bemühungen des Zeitungsherausgebers und kaiserlichen Postmeisters Kleinhans aus, der - in Zusammenarbeit mit der Familie Taxis und dem Kaiser - für die ältere Zeitung ein Druckverbot erlangen und damit ein Zeitungsmonopol für die kaiserliche Post schaffen wollte. Dieses Vorgehen, das nicht nur in Hamburg zu beobachten ist, scheiterte letztendlich jedoch an der Hamburger Ratspolitik, die den Schutz ihrer Wirtschaftsunternehmen höher ansiedelte als kaiserliche Wünsche (34) und so dazu beitrug, dass beide Zeitungen bis in die 70er-Jahre nebeneinander existierten. Dass der Zeitungsmarkt in Hamburg anscheinend dennoch nicht gesättigt war, zeigen die nachfolgenden Gründungen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts: 1664 der "Nordische Mercurius", 1674 der "Relations-Courier" und 1696 der "Reichs-Post-Reuter". Zwei weitere Zeitungsgründungen zu Beginn des 18. Jahrhunderts folgten. Ergänzt wurde dieses beachtliche Angebot, das über mehrere Jahrzehnte hinweg existierte, durch weitere in Altona gegründete Presseorgane. Dass das bevölkerungsmäßig vergleichsweise kleine Altona über eine solche Vielfalt verfügte, erklärt sich aus der verlegerischen Konkurrenz zu Hamburg und den unterschiedlichen Zensurverhältnissen (53). Insgesamt hielten sich in Hamburg und Altona in den 80er-Jahren des 17. Jahrhunderts zeitweise acht gleichzeitig erscheinende Zeitungen, woraus die sehr hohe Zeitungsdichte des Raumes ersichtlich wird (93). Bei der genannten Anzahl sind die geschriebenen Zeitungen noch nicht einmal berücksichtigt.
Charakteristisch für die Berichterstattung von Zeitungen des 17. Jahrhunderts ist ihr informierender Charakter. Die Präsentation der Nachrichten folgte meist den einlaufenden Korrespondenzen und bietet dadurch in der Regel wenig optische und inhaltliche Übersichtlichkeit. Im Vordergrund stehen Artikel zu politischen bzw. meist außenpolitischen und militärischen Ereignissen. Offensichtlich erkennbare redaktionelle Eingriffe in den Zeitungstext und kommentierende Formen in der Berichterstattung sind nicht die Norm. Diese Befunde sind auch für die Hamburger und Altonaer Zeitungen festzuhalten, allerdings finden sich hier schon im 17. Jahrhundert neue Formen. So verfügt beispielsweise der "Nordische Mercurius" schon in den 60er-Jahren über eine redaktionelle Überarbeitung zusätzlich zur reinen Nachrichtengestaltung, z. B. mit thematischen Rubriken, Anekdoten, Anzeigen und ab 1668 sogar einen "Fortsetzungsroman" (43-44). Auch der Nachrichtenstil weist erzählende Momente, kritische Berichte und sogar ironische Kommentare auf (46). Ähnlich verhält es sich mit dem 1674 gegründeten "Relations-Courier": Auch dieser ist frühzeitig mit einem verhältnismäßig umfangreichen Anzeigenteil versehen und stellt außerdem aktuelle Flugschriften und ab 1683 so genannte "Serienzeitungen" zur Verfügung (71-72). Nach Böning sollte hier nicht nur informiert, sondern auch "Unterhaltung und Belehrung" geboten werden (73). Dass außerdem der "Versuch einer Popularisierung von Wissen" (73) bereits im 17. Jahrhundert in den Zeitungen nachweisbar ist, zeigt Böning anhand der 1682 zum Relations-Courier erschienenen gelehrten Beilagen (Relationes Curiosae) und anhand des "gelehrten Artikels" in der 1687 gegründeten Zeitung "Relation aus dem Parnasso" (87 ff.). Letztere sei zudem ein prägnantes Beispiel dafür, dass sich die politische Berichterstattung der Zeitungen schon im 17. Jahrhundert zu ändern begann: vom rein informierenden zum kommentierenden und räsonnierenden Medium (87 f., 152, 156). Damit wird in dieser Hamburger Zeitung ein Charakteristikum, das üblicherweise den Zeitschriften zugeschrieben wird, vorweggenommen (153).
Ergänzt wird die Darstellung der Zeitung und ihrer Berichterstattung durch die Beschreibung der Rahmenbedingungen (92 ff.), unter denen beispielsweise Zensur (163 ff.) und Leserschaft (112 ff., 178 ff.) zu nennen sind. Bei der schwierigen Frage nach den Rezipienten dieser zahlreichen Presseorgane sei man weiterhin auf "Indizien" bzw. "Vermutungen" angewiesen (112). Ausgehend von der Mediendichte, den Verbreitungsorten und den Auflagenzahlen der Zeitungen, kann man mit Böning vermuten, dass sich der Leserkreis im behandelten Zeitraum ausgeweitet hat (124, 128 ff., 178 ff.). Ob die von Böning bei Habermas entlehnten Begriffe, wie "Privatpersonen" (183) und "Privatleute" (282, 283), dem Lesepublikum des 17. Jahrhunderts in der historisch erforderlichen Trennschärfe gerecht werden, bleibt hier zu fragen.
In den folgenden drei, eher überblicksartig angelegten Kapiteln (188 ff.) gibt Böning einen Ein- und Ausblick auf bzw. in die weitere Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Medien bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts. Unter der Überschrift "Welteroberung und beginnende Öffentlichkeit der Wissenschaften" skizziert Böning im zweiten Kapitel die Fortentwicklung des "gelehrten Artikels" in Gestalt der gelehrten Periodika und ersten Fachzeitschriften Hamburgs. Beide hätten im letzten Drittel des 17. Jahrhundert die Welt der Wissenschaften insbesondere durch die Verwendung der deutschen Sprache einem potenziell größeren Publikum eröffnet. Während die überwiegend gelehrten Schriften in Hamburg zum Teil recht kurzlebig waren (188 ff.), konnte sich mit den 1682 begründeten "Relationes Curiosae" eine populärwissenschaftliche und thematisch vielseitig orientierte Wochenschrift etablieren (199 ff.), die nach ihrem Ende 1691 zahlreiche Nachahmungen erfuhr (207-209). Einer der Erfolgsgründe dürfte darin liegen, dass sie von dem Zeitungsbegründer des "Relations-Courier" ins Leben gerufen und anfangs dieser Zeitung beigelegt wurde; damit erreichte sie von Anfang an einen schon existierenden Leserkreis (200). Zielsetzung der Schrift war die "Vermittlung von Wissen [...] nach aktuellem wissenschaftlichen Stand" und auf "unterhaltsame Weise" (203). Nicht nur um Wissensvermittlung, sondern auch um "öffentlichen Erfahrungsaustausch" (211) ging es der ersten medizinischen Fachzeitschrift in Hamburg bzw. im Heiligen Römischen Reich, die 1680 als Übersetzung einer französischen Zeitschrift erschien (210).
Die frühen gelehrten Zeitschriften des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts standen zwar schon als Mittel zur "Wissenschaftspopularisierung und -vermittlung" zur Verfügung, erreichten jedoch noch nicht die spätere Popularität (218, 219). Generell hält Böning fest, dass der Prozess "etwa vier Jahrzehnte [dauert], in dem sich das Hamburger Lesepublikum die Welt der Wissenschaften mehr und mehr zu eigen macht und den Umgang mit diesem Instrument der Weltkenntnis und -erklärung einübt" (218).
Unter der Überschrift "Eroberung moralischer Deutungshoheit durch ein bürgerliches Lesepublikum" widmet Böning sein drittes Kapitel (220 ff.) der Darstellung eines weiteren Zeitschriftentyps, den Moralischen Wochenschriften. Diese Schriften wollten nicht nur informieren bzw. belehren, sondern im Zuge der Informationsvermittlung rationell begründete, säkulare Deutungsmuster für lebensweltliche Umstände liefern und die moralische Urteilsfähigkeit der Leser fördern. Entgegen verbreiteter Meinung hatten, nach Böning, diese Wochenschriften ihre Vorbilder nicht nur in England, sondern verfügten auch über eigenständige deutsche Wurzeln (220). Dazu gehören beispielsweise die "moralischen Erörterungen" in Zeitungen, wie dem "Nordischen Mercurius", oder die 1676 erscheinenden "Erbaulichen Ruh-stunden" (221). Bereits in diesen Frühformen werden "zentrale Überzeugungen der deutschen Aufklärung formuliert", wie z. B. zur "Wohlfahrt des Landes" (225). Einen Durchbruch erlebte die Gattung allerdings erst mit der von 1724 bis 1726 erscheinenden Wochenschrift "Der Patriot" (233). Der Erfolg, belegt durch die rasch ansteigende Auflage von 400 auf über 5500 Stück im ersten Jahr, ist nach Böning primär auf die inhaltliche Qualität zurückzuführen. Nicht zuletzt ist jedoch auch zu berücksichtigen, dass hier die "Hauptprotagonisten" (234) der frühen Aufklärung selbst als Autoren und Herausgeber auftraten. "Das bedeutendste Wirkungszeugnis dieser Moralischen Wochenschrift" (246) sei die zeitlich unmittelbar folgende Debatte um die im "Patrioten" vertretenen, frühaufklärerischen Anschauungen, die von den Zeitgenossen in einer Vielzahl von Flugschriften (246 ff.) ausgetragen wurde und eine Reihe von kurzlebigen Nachahmungen anregte (252).
Unter der Überschrift "Das Dreigestirn der periodischen Presse entsteht: Das erste Hamburger Intelligenzblatt" wird im vierten und letzten Kapitel die Darstellung der periodisch erscheinenden Medien vervollständigt (268 ff.). Das 1722 in Frankfurt am Main erstmals gegründete Intelligenzblatt erfreute sich im Heiligen Römischen Reich schnell großer Beliebtheit: Über 200 Blätter wurden bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gegründet (269). Dieser Erfolg war jedoch dem erstmals 1724 in Hamburg gegründeten Intelligenzblatt nicht beschieden (270 ff.). Besonders die Konkurrenz durch die Anzeigenrubriken in den Zeitungen und periodische Publikationen mit ähnlichen Inhalten verhinderten eine frühe Etablierung (274 ff.). Böning hebt die Bedeutung des Intelligenzblattes als "lokales Informationsmittel für das Alltagsleben" (268) heraus und wertet das Entstehen der Gattung als Bestandteil des Prozesses einer "Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft" (268).
Die von Böning gewählte Darstellungslinie zielt darauf, auf der Basis einer umfangreichen, qualitativen Auswertung die Bedeutung der Zeitung und der aus ihr entstehenden periodischen Gattungen für den Prozess der Aufklärung herauszuheben. Gegenüber der üblicherweise genannten literarischen Tradition bildete nach Bönig insbesondere die Presse Grundlage und Voraussetzung zugleich für die spätere Breitenwirkung der Aufklärung im 18. Jahrhundert (277). Schon im 17. Jahrhundert erobere sich das Publikum mit den Zeitungen zuerst die Welt des Politischen, dann mit den Zeitschriften den Bereich der Wissenschaften und schließlich mit den Moralischen Wochenschriften die "moralisch-ethische Deutungshoheit" (281). Mit diesem Ansatz wird anhand einer in weiten Teilen chronologisch aufgebauten Gattungsgeschichte der Presse ein stringenter, historisch nachvollziehbarer Verlauf impliziert. Aus historischer Perspektive bleibt hier zu fragen, ob es eine solche Stringenz im Entwicklungsprozess der Medien gegeben hat und ob die Zeitung dabei einen derart überragenden Part spielte. Denn in dieser Darstellungslinie werden beispielsweise die seit dem 16. Jahrhundert in vielfältigen Formen existierenden Flugblätter und Flugschriften als weitere mögliche Wegbereiter der Gattungsdifferenzierung kaum berücksichtigt, auch wenn sie in der Flugschriftendebatte um den "Patrioten" (246 ff.) ausführlich beschrieben und im Resümee explizit hervorgehoben werden (279). Ebenso werden die Wechselwirkungen zwischen den Medien selbst, aber auch mit ihren Rahmenbedingungen politischer und wirtschaftlicher Natur eher am Rande thematisiert.
Die facettenreiche Studie von Holger Böning zeichnet sich durch ihren außerordentlichen Material- und Informationsreichtum aus, bietet ein ausführliches Register und gibt eine Vielzahl von Hinweisen und Anregungen auf noch ausstehende Forschungen bzw. Desiderate. Insbesondere sind vergleichbare Studien zu konfessionell und strukturell ähnlichen, aber auch anders gelagerten Räumen wünschenswert, um weitere inhaltliche und systematische Vergleiche ziehen zu können, die Bönings These von der Repräsentanz Hamburgs für eine allgemeine Pressegeschichte auf eine reichsweite Quellenbasis stützen können.
Sonja Schultheiß-Heinz