Rezension über:

Anna Scherbaum / Claudia Wiener / Georg Drescher (Hgg.): Andachtsliteratur als Künstlerbuch. Dürers Marienleben. Eine Ausstellung der Bibliothek Otto Schäfer zu einem Buchprojekt des Nürnberger Humanismus, Schweinfurt: Bibliothek Otto Schäfer 2005, 192 S., EUR 18,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches

Rezension von:
Stefan Matter
Lehrstuhl für Germanistische Mediävistik, Université de Fribourg
Redaktionelle Betreuung:
Ulrich Fürst / Martin Hirsch
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Matter: Rezension von: Anna Scherbaum / Claudia Wiener / Georg Drescher (Hgg.): Andachtsliteratur als Künstlerbuch. Dürers Marienleben. Eine Ausstellung der Bibliothek Otto Schäfer zu einem Buchprojekt des Nürnberger Humanismus, Schweinfurt: Bibliothek Otto Schäfer 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 7/8 [15.07.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/07/8339.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Anna Scherbaum / Claudia Wiener / Georg Drescher (Hgg.): Andachtsliteratur als Künstlerbuch. Dürers Marienleben

Textgröße: A A A

Die zu besprechende Ausstellung umfasst mit dem Marienleben, der Kleinen und der Großen Passion sowie der Apokalypse die vier von Dürer im Jahr 1511 veröffentlichten Buchpublikationen. [1] Ziel ist es, das Dürer'sche Marienleben in steter Zusammenschau mit den die Holzschnitte begleitenden lateinischen Versen des Nürnberger Humanisten Benedictus Chelidonius Musophilus zu sehen und dieses 'multimediale' Druckwerk in spätmittelalterlicher Frömmigkeitspraxis zu verorten (6). Dazu sind den Drucken kleinere Sektionen vorangestellt, die das 'Marienleben im Spätmittelalter und früher Neuzeit' sowie die 'Illustration und Andachtsliteratur in Nürnberg um 1500' beleuchten.

Viel Wert wird im Katalog und auch in den Begleittexten auf Dürers Zusammenarbeit mit Chelidonius gelegt. Besonders in der kleinen Passion lässt sich zeigen, dass der Text vor dem Bild bereits vorhanden war, dass Dürer also 'Zulieferer' von Druckvorlagen zu einem literarischen Werk war, das ihm den thematischen Rahmen und die Szenenauswahl bereits vorgab. [2] Unter dieser Perspektive werden die Holzschnitte mehr noch als sonst schon in enge Beziehung zu den sie begleitenden Texten gesetzt. Dies in einer Ausstellung darzustellen und die sich daraus ergebenden Einblicke in das Funktionieren einer solchen vormodernen Text-Bild-Folge einem Publikum nahe zu bringen, das nicht nur zumeist wohl keine Lateinkenntnisse mitbringt, sondern sich auch kaum in frühneuzeitlicher humanistischer Literatur auskennen wird - das ist wahrlich eine schwierige Aufgabe. Und man möchte nicht sagen, dass sie befriedigend gelöst wurde. Mit einer einzigen separat gehängten Doppelseite tritt das Werk in seiner Buchform in der Ausstellung eigentlich nicht zu Tage. [3] Dass Chelidonius seinen Marienleben-Text aus einem weit umfangreicheren Marienepos epitomisiert hat, wird dem Besucher zwar gesagt, jedoch ausstellungstechnisch lediglich so umgesetzt, dass einige Bücher des exzerpierten Baptista Mantuanus gezeigt werden. Dass dieser Ausstellungsteil zusammen mit der 'Rezeption der Holzschnitte zum Marienleben' in der Ausstellung wie auch im Katalog erst nach dem Marienleben präsentiert wird, macht die Abhängigkeitsverhältnisse nicht klarer, erlaubt allerdings die offenbar als wichtiger erachtete geschlossene Aufstellung der Marienleben-Folge.

Dabei täte es Not, über das Verhältnis von Chelidonius' Dichtung und Dürers Grafik noch weiter nachzudenken. Zum Marienleben heißt es: "Chelidonius' Dichtung ist als eigenständige [...] Erzählung konzipiert, die erst nachträglich für die Publikation mit Dürers Holzschnitten in einzelne Abschnitte gleichen Umfangs aufgegliedert und mit Zwischenüberschriften versehen wurde, die den Leser darüber hinwegsehen lassen, daß Bild und Dichtung oft in der inhaltlichen Schwerpunktsetzung deutlich voneinander abweichen" (161). [4] Dass die Texte und die neunzehn Bilder nicht in jedem Fall völlig korrespondieren, war bekannt, die Gründe dafür liegen jedoch nicht auf der Hand. Scherbaum schließt daraus auf eine "ursprüngliche Fassung" (36), die Chelidonius später für den Druck überarbeitet hätte. Aber war denn eine vollständige Übereinstimmung von Wort und Bild überhaupt das Ziel? Es zeigen Beispiele aus verwandten Bereichen, dass dieselben Stoffe im Bild und im Text durchaus autonom gestaltet werden, dass sie ihren je eigenen Regeln unterworfen sind. [5] Dies gilt selbst da (oder gerade da?) wo sich Text und Bild nicht einfach nur gegenüberstehen, sondern sich im eigentlichen Sinne ergänzen. Das alles jedoch sind Überlegungen, die sich vor den Exponaten nicht machen lassen, da sich diese ganz auf die Bilder beschränken. Als Resultat wird die Ausstellung eben doch 'nur' als eine Präsentation von Dürers Marienleben und weniger unter dem Aspekt 'Andachtsbuch als Künstlerbuch' wahrgenommen. [6]

Ähnlich verhält es sich mit den beiden Passionsfolgen. Auch hier werden nur die Holzschnitte gezeigt, auf die ebenso interessante wie moderne Textbegriffe sprengende Kompositionsweise der Texte Chelidonius' wird lediglich am Rande hingewiesen. Dabei läge doch gerade in der so bemerkenswerten Art der Textanordnung als Cento - einer hochartifiziellen Collagetechnik einzelner Textversatzstücke aus Autoritätentexten - das Potenzial für den Sprung über die Fächergrenzen von Text- und Bildwissenschaft. [7] Dass Chelidonius in seinem Textarrangement "quasi als Moderator einer Gesprächsrunde unter theologischen Gelehrten agiert" (53), dass er durch die Textauswahl seinen Quellenautoren offenbar bewusst ein je eigenes Profil gibt, das diese von einander unterscheidbar macht und damit einen emotionalen Zugang zu ihnen ermöglicht, dürfte auch den Museumsbesucher und nicht nur den Katalogleser interessieren, ließe sich doch damit die Anbindung an die etwas unvermittelt neben den Dürer'schen Holzschnitten stehenden Andachtsbücher und vor allem die Praxis von deren Rezeption vermitteln.

Wenn auch die Ausstellung nicht das erreichen mag, was sie sich zum Ziel gesetzt hat, so sieht deren Besucher doch die vollständige Folge der vier Bücher in vorzüglichen Abzügen, was - wenn auch keine Seltenheit - alleine schon eine Reise wert sein mag. Der zu einem erschwinglichen Preis angebotene und sorgfältig gestaltete Katalog enthält neben dem bereits erwähnten Artikel noch von Georg Drescher einen Aufsatz 'Vom Schatzbehalter zu Dürers Büchern. Buchdruck, Buchillustration und Andachtsliteratur in Nürnberg um 1500', von Anna Scherbaum 'Neue Wege in der Buchkunst. Dürers vier Holzschnittfolgen und ihre Besonderheiten als Buchpublikation', einen kleinen Beitrag 'Hortulus animae'. Ein Marienbüchlein in Zusammenarbeit zwischen Nürnberg und Lyon (1511-1519)' von Elsa Kammerer sowie eine kurze Biografie Chelidonius'. Zudem ist ein vollständiges (natürlich stark verkleinertes) Faksimile des Marienlebens abgedruckt. Insgesamt muss man also festhalten, dass aus dem präsentierten Material mehr hätte gemacht werden können. Trotzdem lohnt sich eine Reise nach Schweinfurt, man sollte sich jedoch Zeit nehmen, die Bildfolge mithilfe des Kataloges auch wirklich als 'Künstlerbuch' wahrzunehmen.


Anmerkungen:

[1] Man vgl. auch die jüngst erschienene Dissertation von Anna Scherbaum: Albrecht Dürers Marienleben. Form, Gehalt, Funktion und sozialer Ort (= Gratia; 42), Wiesbaden 2004.

[2] Vgl. den Katalogbeitrag von Katrin Lipowsky und Claudia Wiener, pia carmina cum figuris. Dürers Zusammenarbeit mit dem Dichter Benedictus Chelidonius (39-57). Dieser Sachverhalt ist von Wiener bereits betont worden in: Hochmittelalterliches Marienlob? Benedictus Chelidonius' Elegien in ihrem Verhältnis zu Baptista Mantuanus' Parthenice Mariana und Dürers Marienleben, in: Lateinische Lyrik der Frühen Neuzeit. Poetische Kleinformen und ihre Funktionen zwischen Renaissance und Aufklärung, hg. von Beate Czapla, Ralf Georg Czapla und Robert Seidel, Tübingen 2003, 96-131.

[3] Der dazugehörige Katalogeintrag von Anna Scherbaum wirkt zudem wenig vertrauenserweckend, wenn wir da etwa lesen: "Jedes Distichon besteht also aus 24 [!] Versen" (110). Auch die weit reichende Folgen implizierende Vorstellung, dass Dürer "das Gliederungskonzept der Bogen für den Druck bewusst komponierte", weil in der ersten und letzten Lage mit Geburt und Tod Mariens zwei "für die Marienvita wichtige Stationen" auf die Lagenmitte fallen, kann nicht überzeugen (111). Welchen Sinn hätte ein solches Vorgehen? Die Passage findet sich wörtlich und ohne weitere Ausführungen auch in Scherbaum: Albrecht Dürers Marienleben (Anm. 1), 190.

[4] So auch schon Scherbaum: Albrecht Dürers Marienleben (Anm. 1), 128. Wiener: Hochmittelalterliches Marienlob? (Anm. 2), 119, formulierte noch etwas vorsichtiger: "Sein [Chelidonius'] Text ist als eigenständiges Kunstwerk und weitgehend unabhängig von Dürers Zyklus entstanden und hat möglicherweise nachträglich noch an wenigen Stellen eine Bearbeitung für die gemeinsame Publikation erfahren". Wieso jedoch dem Buchprojekt eine erste Fassung des Textes vorausgegangen sein soll, wird auch dort nicht klar. Alleine die ebd., 110-112, beobachteten Verzahnungen der einzelnen Abschnitte können doch nicht ausreichendes Kriterium sein.

[5] Dies zeigte in mehreren Arbeiten grundlegend Norbert H. Ott für den Bereich der deutschsprachigen mittelalterlichen Literatur, etwa: Ikonographische Narrationen. Zu Gebrauchssituation und Deutungsangebot literarischer Bildzeugnisse in Mittelalter und früher Neuzeit, in: Lares 65 (1999), 101-117. Und das gilt umso mehr in Bereichen, über die man noch souveräner verfügen konnte, da sie Grundstock des Bildungskanons waren. Zuletzt etwa reflektiert für Stoffe des klassischen Altertums: Florian Weiland-Pollerberg: Amor und Psyche in der Renaissance. Medienspezifisches Erzählen im Bild (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; 20), Petersberg 2004.

[6] Ein einzelnes ausgelegtes Katalogexemplar und die Computerterminals, auf denen man den Text zwar auch lesen kann, dazu aber nicht vor den Bildern steht, sind hier kein Ersatz. Wieso nicht die Übersetzungen fotokopieren und dem Besucher, nötigenfalls für einen Unkostenbeitrag, an die Hand geben?

[7] Dass mit Christoph Hoch: Apollo Centonarius. Studien und Texte zur Centodichtung der italienischen Renaissance (= Romanica et Comparatistica; 26), Tübingen 1997, die bisher einzige einschlägige Publikation zur Centodichtung nicht verzeichnet ist, mag ein Versehen sein.

Stefan Matter