Krzysztof Ruchniewicz / Stefan Troebst (Hgg.): Diktaturbewältigung und nationale Selbstvergewisserung. Geschichtskulturen in Polen und Spanien im Vergleich (= Monografie Centrum Studiów Niemieckich i Europejskich im. Willy Brandta; 12), Wrocław: Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego 2004, 276 S., ISBN 978-83-229-2504-1
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Svjatoslav Pacholkiv: Emanzipation durch Bildung. Entwicklung und gesellschaftliche Rolle der ukrainischen Intelligenz im habsburgischen Galizien (1890-1914), München: Oldenbourg 2002
Claudia Weber: Krieg der Täter. Die Massenerschiessungen von Katyń, Hamburg: Hamburger Edition 2015
Shimon Redlich: Together and Apart in Brzezany. Poles, Jews, and Ukrainians, 1919-1945, Bloomington, IN: Indiana University Press 2002
Friedhelm Boll / Krzysztof Ruchniewicz (Hgg.): Nie mehr eine Politik über Polen hinweg. Willy Brandt und Polen, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2010
Agnieszka Gasior / Lars Karl / Stefan Troebst (Hgg.): Post-Panslavismus. Slavizität, Slavische Idee und Antislavismus im 20. und 21. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2014
Detlef Brandes / Holm Sundhaussen / Stefan Troebst (Hgg.): Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedelung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts, Wien: Böhlau 2010
Die große Mehrheit der europäischen Nationen hat im Verlauf des 20. Jahrhunderts mehr oder weniger lange Phasen diktatorischer Herrschaft erlebt. Ja, der Aufstieg und die Überwindung der Diktaturen können, wie Stefan Troebst in seinem einleitenden Beitrag feststellt, geradezu als "Signum des 20. Jahrhunderts" gelten (27). Die betroffenen Nationen stehen nach dem Ende der Diktaturen vor der Herausforderung, wie sie mit deren Erbe umgehen sollen, denn diese hinterlassen Gesellschaften, die gespalten sind zwischen denen, die sie unterstützt und von ihrer Herrschaft profitiert, und denjenigen, die sie bekämpft und zu ihrem Sturz beigetragen haben. Wie die Zeit der Diktatur im Kontext nationaler Geschichte gedeutet wird, hat somit auch eminente politische Bedeutung: Es geht dabei auch immer darum, wie die Gesellschaften mit den Eliten und mit Verbrechen der Diktatur umgehen, und damit auch um das Problem, ob und wie Versöhnung möglich ist. Die Antworten auf diese Frage besitzen zentrale Bedeutung für die Entwicklung demokratischer politischer Kulturen nach dem Ende der Diktaturen.
In dem zu besprechenden Band wird diesen Problemen mit einer vergleichenden Fragestellung für Polen und Spanien nachgegangen. Er ist aus einer Tagung hervorgegangen, die im Juni 2003 im niederschlesischen Kreisau, organisiert vom Leipziger Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) und dem Breslauer Willy-Brandt-Zentrum, als Teil eines am GWZO angesiedelten, vergleichenden Forschungsprojekts zu den postdiktatorischen Geschichtskulturen in Polen und Spanien stattfand. Dem Projekt liegen, wie die Beiträge des Bandes deutlich machen, im Grunde recht unterschiedliche Fälle als Vergleichsobjekte zu Grunde: Während in Polen die Zeit der kommunistischen Herrschaft in hohem Maße als sowjetische Fremdherrschaft in einer Kontinuität mit der Zeit der Teilungen vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1918 gesehen wird, war die Diktatur Francos in erster Linie das Resultat innerer Konflikte. Die Erfahrung des ihr vorausgegangenen, mit zahlreichen Gräueltaten auf beiden Seiten verbundenen Bürgerkriegs mag ein wesentlicher Faktor dafür gewesen sein, dass auch nach dem Ende der Diktatur über mehr als zwei Jahrzehnte an diese schmerzlichen Aspekte spanischer Geschichte nur wenig gerührt wurde. Die Furcht vor einem erneuten Aufbrechen der Konflikte war offenbar zu groß. Erst zur Jahrtausendwende signalisierte die Öffnung von Massengräbern, die von Angehörigen hier verscharrter Opfer von Verbrechen aus der Zeit des Bürgerkrieges und der Franco-Diktatur erreicht worden war, dass diese Furcht schwand (vgl. dazu den Beitrag des Hauptinitiators dieser Bewegung, des Journalisten Emilio Silva Barrera, 69-74).
In Polen begann, auch wenn der erste nicht kommunistische Ministerpräsident Polens Tadeusz Mazowiecki 1989 zunächst, um den friedlichen Übergang der Macht abzusichern, einen "dicken Strich" unter die Vergangenheit verkündet hatte, schon Anfang der 1990er-Jahre eine vergleichsweise intensive Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Sowjetmacht und denjenigen des polnischen kommunistischen Regimes. Nun entstanden oder verstärkten sich aber auch, wie Marek Ziółkowski feststellt, dank einer "Demokratisierung der Erinnerung" selbstkritische Sichtweisen auf die "Leichen im Keller" der polnischen Geschichte in der vorkommunistischen Zeit und in den ersten Nachkriegsjahren. Dies betraf vor allem das Verhältnis zu Juden, Ukrainern und Litauern, aber auch die polnische Rolle bei der Vertreibung der Deutschen (53-68).
Gegenüber dem recht unterschiedlichen Verlauf der polnischen und der spanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und den unterschiedlichen Deutungen der Diktatur betonen die Initiatoren des Forschungsprojekts historisch-langfristige, strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen Polen und Spanien, die im 19. Jahrhundert schon den polnischen Historiker Joachim Lelewel zu einer vergleichenden Studie über diese beiden Länder in der Zeit vom 16. bis 18. Jahrhundert veranlasst hatten. Dazu sind die große Bedeutung der Adelskultur und des Katholizismus, aber vor allem auch die Erfahrung des Niedergangs und der Krise im 19. Jahrhundert zu rechnen, als sich die beiden ehemaligen Großmächte in der Peripherie europäischer Geschichte wieder fanden (vgl. die Beiträge von Stefan Troebst, 27-35 und Claudia Kraft, 37-44). Leider wird die hier aufgeworfene Frage nach der Bedeutung kollektiver Erinnerungen an frühere Zeiten für die Diktaturbewältigung in den weiteren Beiträgen des Bandes aber nur wenig berücksichtigt.
In den letzten Jahren ist zunehmend deutlich geworden, dass Fragen unterschiedlicher Geschichtskulturen, die auf divergierende historische Erfahrungen zurückgehen, für Erfolg oder Misserfolg bei der Fortentwicklung der europäischen Einigung von zentraler Bedeutung sind. Es scheint, dass die damit zusammenhängenden Probleme nur dadurch gelöst werden können, dass im Dialog ein die nationalen Gedächtnisse übergreifendes komplexes Bild unterschiedlicher Erfahrungen und Perspektiven entsteht. Dazu leistet dieser Band durch seinen unterschiedliche Erinnerungskulturen einbeziehenden Ansatz einen wichtigen Beitrag. Er ist damit an einem Schnittpunkt von historischer Forschung über kollektive Gedächtnisse und von aktuellen Problemen europäischer Politik angesiedelt.
Kai Struve