Rezension über:

Pamela-Jane Shaw: Discrepancies in Olympiad Dating and Chronological Problems of Archaic Peloponnesian History (= Historia. Einzelschriften; Heft 166), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003, 304 S., ISBN 978-3-515-08174-0, EUR 44,00
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Rezension von:
Uwe Walter
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Uwe Walter: Rezension von: Pamela-Jane Shaw: Discrepancies in Olympiad Dating and Chronological Problems of Archaic Peloponnesian History, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 9 [15.09.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/09/5969.html


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Pamela-Jane Shaw: Discrepancies in Olympiad Dating and Chronological Problems of Archaic Peloponnesian History

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Von Zeit zu Zeit wird in metikulösen chronologischen Spezialstudien der Versuch unternommen, das allgemeine, aber meist folgenlose Unbehagen beim Hantieren mit den gängigen Daten der frühen griechischen (und römischen!) Geschichte zu konkretisieren. [1] Dabei ergibt sich eine merkwürdige Spaltung: Während der kritisch-destruktive Teil solcher Arbeiten, in dem die Brüchigkeit der Datierungsgrundlagen im technischen Sinn aufgezeigt wird, oft nicht mehr als zögernd-seufzende Zustimmung erlaubt, findet der konstruktive Teil, nämlich die Neudatierung von Personen, Texten und Ereignissen, oft viel weniger Anklang und lässt die gelehrten Verfasser sogar als schrullige Einzelgänger erscheinen, weil ihre Vorschläge so befremdlich vorkommen. Neudatierungen haben meist nur dann eine Chance, wenn sie eingebettet sind in eine umfassende historische Rekonstruktion [2]; Anerkennung findet gelegentlich auch, wer einzelne Daten durch Kontextuntersuchungen plausibel infrage stellt [3] oder - besser noch - das chronologische Verfahren eines ergiebigen Autors studiert.

Auch die Studie von Pamela-Jane Shaw besteht im angedeuteten Sinn aus zwei Hauptteilen. Die beiden ersten Kapitel nach der knappen Einleitung (13-17) dekonstruieren, während die folgenden sechs Kapitel (100-238) an Fallstudien zur peloponnesischen Geschichte positive Folgerungen aus dem vorherigen Problematisierungswerk zu ziehen suchen. Eine nützliche Zusammenfassung (239-253), Bibliografie und zwei (im Inhaltsverzeichnis vergessene) Indices (General und locorum) beschließen das Buch.

Shaws Vorüberlegungen (zusammengefasst 86-90) überzeugen durchaus: In der Tat gingen und gehen viele Althistoriker kaum reflektiert davon aus, dass schon in der Antike eine mit der ihren vergleichbare chronologische Mentalität verbreitet gewesen sei, also das Bedürfnis und Bestreben, Ereignisse und Lebensdaten mittels eines einzigen, allgemein anerkannten und benutzten, kohärenten Systems zeitlich zu verankern und sie so miteinander in Beziehung zu setzen. Tatsächlich aber blieb diese Art von "cognitive state, or mind-set" (25) auf die gelehrten Chronografen beschränkt, die mit den bekannten Verfahren scheinbar immer genauere Daten produzierten, die dann in einem weiteren Schritt auf den julianischen Kalender projiziert wurden. Damit war zugleich jedes Ereignis zu einem Datum geworden, eine Vorstellung, die dem historischen Denken in der archaischen und frühklassischen Epoche ganz fremd war, wie man noch bei Herodot und Thukydides sehen kann, die durch die bekannten Verbindungen markanter Ereignisse mit eponymen Amtsträgern nicht etwa datieren, sondern das Gewicht, das "axiologon" dieser Ereignisse unterstreichen wollten (49). Shaw anerkennt fairerweise, dass 'Daten' wie '1184' oder '776' ihr zähes Leben ganz wesentlich den Bedürfnissen des Unterrichts wie der wissenschaftlichen Kommunikation verdanken, die beide - das sei hinzugefügt - auf diesem Feld weit weniger als etwa bei der Begrifflichkeit das nur im neuzeitlichen Horizont Selbstverständliche zu erkennen und einzuklammern vermögen. Nach Ansicht des Rezensenten besitzt dieser Konventionalismus des Sprechens, der natürlich zugleich einer des Denkens ist, durchaus auch einige Dignität.

Gestützt auf ein gründliches Studium der einschlägigen chronografischen Autoren von Hellanikos bis Eusebios zeigt Shaw in zum Teil sehr voraussetzungsreicher und komplexer, hier auch nicht ansatzweise nachskizzierbarer Gedankenführung, dass die antiken Gelehrten zum Zweck der Zeitberechnung keineswegs ein verbindliches Olympiadenschema verwendeten; schon eine Angabe wie "die erste Olympiade" konnte numerisch den Beginn einer Zählung (= Ol. 1), aber auch historisch die Einrichtung des Festes bzw. eines bestimmten Wettkampfes meinen. In der Tat nahmen verschiedene antike Gelehrte vor den gezählten noch weitere, ungezählte Olympiaden an, sodass Koroibos den 'ersten' Sieg im Stadionlauf je nach Ansatz Ol. 1 oder 14 oder 28 errang; umgekehrt kann eine olympische Datierung auf verschiedene tatsächliche Zeitpunkte verweisen; "since the phrase 'the first Olympiad' may have several meanings, to express it as a calendar date - '776 BC' - is to introduce a fixed point that may be, and probably is, spurius" (242). Hinzu kamen unterschiedliche Berechnungen von Troias Fall sowie später Synchronisierungen mit der römischen Geschichte. Viele Diskrepanzen im zeitlichen Ansatz von Personen und Ereignissen erklären sich aus der interpretierenden Kombination von 'Daten' aus inkompatiblen Systemen und ihrer harmonisierenden Projektion auf ein einziges Zeitrechnungsschema. Als moderner Historiker die Chronologie 'herzustellen' bildet also nicht die Voraussetzung einer Interpretation, sondern "is likely to pre-empt its outcome" (42). Außerdem wurde eine Liste von Olympiasiegern erst durch ihre Durchnummerierung und die Verbindung dieser Nummern mit datierenden oder zu datierenden Ereignissen zu einem chronologischen Instrument. Wie viele Möglichkeiten es bei dieser Transformation gab, Abstände zu strecken - seltener zusammenzudrängen -, zeigt Shaw an einigen Beispielen. Wurden Eponymenlisten einbezogen, etwa die athenischen Archonten (durch Apollodoros), bedeutete der Zugewinn an Informationen zugleich vermehrte Möglichkeiten für eigenständige und nichtkommensurable Berechnungen (Shaw vermeidet es, Angaben antiker Chronografen und Historiker als richtig oder falsch zu bezeichnen oder ihrerseits fixe Daten vorzuschlagen; 202, 103 und öfter). Die Generation als Kategorie des sozialen Lebens und der Mythografie sowie die akmê als anthropologische Vorstellung, die zugleich dazu diente, Lehrer-Schüler-Ketten zu fassen, wurden ebenfalls zu Generatoren chronologischer Exaktheit zweckentfremdet. So nehme es nicht wunder, wenn die antiken Ansätze für die Blütejahre des Thales zwischen Ol. 8, 35 und 48/50 oder die modernen für den spartanischen Gesetzgeber Lykurg zwischen 883 und 676 v. Chr. schwanken (58 und 77 ff.); "it is impossible to ascertain to what extent the Olympiads assigned to events of the archaic and early classical eras express 'their true chronological position'" (87). Gerade wenn eine Person wie etwa Pheidon von Argos relativ früh chronografisch mit bestimmten Olympischen Spielen verbunden wurde, konnte sie zur treibenden Insel im Meer der Zeit werden.

Die radikalen Revisionen in der Chronologie der peloponnesischen Geschichte, die Shaw dann zu begründen sucht, ruhen also epistemologisch - verkürzt gesagt - auf einer Befreiung von der Olympiadenzählung und den mit ihr verbundenen Konstruktionen. Daher befremdet, dass Shaw der Zeitrechnung im Werk Herodots, die ja noch nicht von jenen Schematismen und Verzerrungen beeinflusst war, systematisch keine große Aufmerksamkeit schenkt; nicht einmal H. Strasburgers grundlegender Aufsatz erscheint in der Bibliografie. [4] Beim Versuch einer neuen historischen Rekonstruktion dem "contextual detail" gebührendes Gewicht einzuräumen (89) verdient dagegen volle Zustimmung - damit verlässt Shaw aber auch die überschaubar bevölkerte Nische der Chronografieforschung und 'Olympiadenkritik', wie man ihren Ansatz in Analogie zur 'Fastenkritik' in der römischen Geschichte nennen könnte, und begibt sich in die Heerschar der positiven Sinn produzierenden Historiker.

Ohne Zweifel die meisten Diskussionen auslösen wird die in Kapitel III entwickelte extreme Spätdatierung der Messenischen Kriege: Löse man sich erst einmal von den olympisch generierten und kontaminierten Standarddaten, könne man zahlreiche unabhängige Notizen in sehr verschiedenen Quellen würdigen, die einen großen Krieg in der Zeit der Schlacht von Marathon nahe legten (etwa Herodot 5,49 und Platon, Nomoi 692d. 698d-e, aber auch die so genannte Anaxilas-Affäre sowie Weihungen von Messeniern); der Erste Messenische Krieg gehöre dem Kontext der herodoteischen Nachrichten zufolge in die Zeit unmittelbar vor Polykrates von Samos, also etwa ins zweite Viertel des 6. Jahrhunderts. Da alle Datierungen von Dichtung nach sprachlichen Kriterien schwierig seien und Homer und Hesiod ohnehin heute eher später als früher angesetzt würden, könne Tyrtaios gut als spätarchaischer Dichter angesprochen werden. "The imposition of conventional Lacedaemonian austerity" (246) ebenfalls ans Ende des Jahrhunderts vor Marathon zu setzen ist dann nur ein logisch zwingender Schritt. Alkman, den sprachlich wenig von Pindar unterscheide, gehört demzufolge in die Zeit unmittelbar davor ("second half of the sixth century": 209).

In Shaws später Archaik herrscht freilich ein ziemliches Gedränge, denn auch die Schlacht von Hysiai zwischen Argos und Sparta, konventionell mit Bedenken auf 669 v. Chr. datiert, will sie in die ersten Jahre des 5. Jahrhunderts setzen und als Produkt der Einmischung eines in dieser Zeit ohnehin außenpolitisch sehr aktiven Sparta in eine innerargivische Stasis deuten (Kap. V). Auch die Entwicklung der Polisterritorien auf der Peloponnes wird von den radikalen Neudatierungen natürlich berührt; Shaw widmet diesem Aspekt längere Exkurse und einige Karten, hält es aber für letztlich unmöglich, "to discover the nature of territorial control, or to draw an ethnic and political map of the Peloponnese, before the mid-fifth century BC" (166). Methodisch besonders lehrreich ist die abschließende Fallstudie zur Chronologie der Orthagoriden in Sikyon (Kap. VII), weil Shaw hier zeigt, wie in der Forschung gegen die 'außerolympische' Tradition 'Fakten' generiert wurden (etwa die Existenz zweier Träger des Namens Myron in der Familie).

Auch für die athenische Geschichte hätten Shaws Neujustierungen, welche die von der Autorin ausgemachten chronografischen Streckungen zwischen dem Ende von Kroisos' Herrschaft und dem Xerxeszug korrigieren sollen, nicht unerhebliche Folgen. So sei etwa das Fragment der Archontenliste von der Agora (Meiggs-Lewis Nr. 6) nicht ins Jahr 522 v. Chr. zu datieren, sondern etwa zwanzig Jahre später, was immerhin den Vorteil hätte, dass man Herodots Zeugnis für eine dauerhafte Verbannung der Alkmaioniden in der Zeit der Tyrannis (6,123) nicht mehr verwerfen müsste (43, Anm. 80; 163 f.). Auch die ebenfalls von Herodot überlieferte, aber unter Verweis auf das Archontat 594/93 immer wieder bestrittene Begegnung Solons mit Kroisos erscheint durch Shaws Komprimierung der athenischen Chronologie des 6. Jahrhunderts wieder wahrscheinlicher. [5]

Wenn der Zeitabschnitt zwischen Kroisos' Sturz und dem Xerxeszug tatsächlich kürzer war als bisher angenommen und darin zugleich mehr Ereignisse stattfanden, die bisher wesentlich früher datiert wurden [6], ergibt sich notwendigerweise die Frage, welchen 'Inhalt' dann das nunmehr verwaiste 7. Jahrhundert hatte. Zugleich aber wäre Herodot als Quelle aufgewertet, denn wesentliche Teile der von ihm berichteten Episoden aus dem archaischen Hellas lägen von der Mitte des 5. Jahrhunderts aus gesehen noch im Drei-Generationen-Gedächtnis. Zwei Dinge sollten deshalb jetzt geschehen: Die Spezialisten sollten Shaws Buch trotz der dem Thema inhärenten Schwierigkeiten und der oft sperrigen Form der Mitteilung nicht achselzuckend beiseite legen, und die Überzeugungskraft des am Ende nur skizzierten neuen Bildes der griechischen Geschichte von Homer bis zum Manifestwerden des Dualismus von Athen und Sparta wäre zu testen, indem eine alternative Rekonstruktion und Erzählung im Vollformat vorgelegt wird.


Anmerkungen:

[1] Vgl. aus neuerer Zeit etwa Detlev Fehling: Die sieben Weisen und die frühgriechische Chronologie. Eine traditionsgeschichtliche Studie, Frankfurt am Main u.a. 1985; Fabio Mora: Fasti e schemi cronologici. La riorganizzazione annalistica del passato remoto romano, Stuttgart 1999.

[2] Wie sie etwa Mischa Meier: Aristokraten und Damoden. Untersuchungen zur inneren Entwicklung Spartas im 7. Jahrhundert v. Chr. und zur politischen Funktion der Dichtung des Tyrtaios, Stuttgart 1998, für den Ersten und Zweiten Messenischen Krieg vorgelegt hat.

[3] Vgl. etwa Astrid Möller: Elis, Olympia und das Jahr 580 v. Chr. Zur Frage der Eroberung der Pisatis, in: Robert Rollinger / Christoph Ulf (Hg.): Griechische Archaik. Interne Entwicklungen - externe Impulse, Berlin 2004, 249-270. Von der Verfasserin befindet sich eine umfassende Studie in Druckvorbereitung ("Genealogien, Listen, Synchronismen. Studien zur griechischen Chronographie"); siehe einstweilen: Greek Chronographic Traditions about the First Olympic Games, in: R. M. Rosen (Hg.): Time and Temporality in the Ancient World, Philadelphia 2004, 169-184.

[4] Hermann Strasburger: Herodots Zeitrechnung (1956), in: Walter Marg (Hg.): Herodot. Eine Auswahl aus der neueren Forschung, Darmstadt 1965, 688-736; siehe zuletzt Justus Cobet: The Organization of Time in the Historys, in: E. J. Bakker u.a. (Hg.): Brill's Companion to Herodotus, Leiden 2002, 387-412.

[5] Shaw verweist auf Seite 236 außerdem auf Solons Gastfreund Philokypros (Solon F 19 West), dessen Sohn Aristokypros während der Regierungszeit des Dareios starb. Übrigens datiert die Suda s.v. Solons akmé Ol. 56, also 556-553 v. Chr.

[6] Vgl. Seite 250: "The century preceding Xerxes' invasion was a much busier one than the conventional model would suggest".

Uwe Walter