Matthias Springer: Die Sachsen, Stuttgart: W. Kohlhammer 2004, 308 S., ISBN 978-3-17-016588-5, EUR 18,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Zur Frühgeschichte der Sachsen halten sich bis in die gegenwärtige Literatur längst überholte Legenden, die inzwischen als Folge allzu zeitgebundener Interpretationen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gelten. Obwohl die spärlich fließenden Quellen Aussagen über die Sachsen als gens für die Zeit vor dem 5. Jahrhundert nahezu unmöglich machen, wurden bisweilen recht plastisch Siedlungsland und Ausdehnung der Sachsen schon für die Zeitenwende entworfen. Sehr gewagt und wissenschaftlich keinesfalls belegbar bleiben beispielsweise die verbreiteten Thesen zu den sächsischen Eroberungen im 6. und zur politischen Verfasstheit der gens Saxonum bis ins 8. Jahrhundert. Umso begrüßenswerter ist deshalb das Unterfangen des Magdeburger Mediävisten Matthias Springer, mit den althergebrachten Thesen zu brechen, die bisweilen recht kruden Argumentationen der älteren Forschung zu widerlegen und die Ergebnisse in der Reihe Kohlhammer-Taschenbücher einem breiten Publikum zu präsentieren.
Die ersten drei Kapitel der sehr feingliedrigen Arbeit untersuchen in chronologischer Folge die Belege für den Sachsennamen von der Zeitenwende bis zum Beginn des 5. Jahrhunderts (11-56) und legen dabei die manchmal naive Quellenlektüre der älteren Forschung bloß. Im 4. Kapitel entlarvt Springer die sächsische Beteiligung an der Zerstörung des Thüringerreiches als Erfindung Rudolfs von Fulda (57-96). Nach einem Kapitel über das Verhältnis der Sachsen zum Merowingerreich bis ins 8. Jahrhundert (97-121) wird im 6. Kapitel die verbreitete Ethymologie des Sachsennamens hinterfragt und im Falle urindogermanischer Provenienz als "nicht deutbar" bezeichnet (130). Im 7. Kapitel bestreitet Springer die Existenz einer sächsischen Stammesversammlung (131-152), um im anschließenden Abschnitt angesichts der dürftigen Quellenaussagen sächsische Besonderheiten in Abgrenzung von der "germanische[n] Religion im Allgemeinen" weitgehend zurückzuweisen (165). Im letzten Kapitel widmet sich Springer in bisweilen etwas ermüdender Akribie dem Sachsenkrieg Karls des Großen sowie dessen Gesetzgebung in Sachsen und den Schwierigkeiten um die Interpretation der sächsischen Dreiteilung in Westfalen, Engern und Ostfalen. Springer schließt sein Buch mit einem Exkurs zum Stellingaaufstand, den er nach Widerlegung all der ideologisch verblendeten Interpretationen zu Recht letztlich nur als "ein höchst ungewöhnliches Ereignis" (270) interpretiert, das "auf die Widerherstellung vergangener Zustände und nicht auf 'gesellschaftlichen Fortschritt' gerichtet" (269) war.
Springer sieht das selbst formulierte, verdienstvolle Ziel seiner Arbeit darin, "den Unterschied zwischen dem klar zu machen, was gegeben ist, und was die Geschichtsforschung daraus erschlossen hat" (9). Zu diesem Zweck folgt sein Vorgehen stets demselben Schema: Er nennt die betreffenden Quellenaussagen, erweitert sie mit den Interpretationen der Forschung, erklärt, wie und warum die Historiker dabei diversen Irrtümern erlegen sind und zeigt, dass auch nachfolgende Generationen "die verzerrende Sicht der späteren Geschichtsschreiber nicht immer in ausreichendem Maße berücksichtigt" hätten (9). Springer berichtigt - allerdings keinesfalls immer als Erster - deren Interpretationen und legt offen, für welche Konstruktionen der Forschung keine hinreichenden Belege existieren, so zum Beispiel für die Kenntnis des Sachsennamens bei Ptolomäus (27 f.), für eine sächsische Stammesversammlung im Allgemeinen (152), für die Existenz des Ortes Marklo in Sachsen im Besonderen (146), für ein sächsisches Zentralheiligtum (165). Doch ist sich Springer im Klaren darüber, dass ein fehlender Beleg wiederum kein Beleg für die Nichtexistenz eines Phänomens sein muss. Entsprechend bleiben seine eigenen Stellungnahmen oft recht unklar: "Nach der herrschenden Meinung, die nicht bestritten werden soll, die aber auch nicht zwingend richtig sein muss, besteht ein Zusammenhang zwischen dem Namen der Sachsen und dem altgermanischen Wort sahs" (130). Springer hinterfragt konsequent alte Thesen, bisweilen allerdings ohne sie vollends zu widerlegen oder gar durch eine neue Sichtweise zu ersetzen.
Die Genese und das Beharrungsvermögen falscher Thesen stellt Springer mit schonungsloser, bisweilen fast polemischer Deutlichkeit bloß, die offenbar an der Wissenschaftlichkeit der historischen Zunft Zweifel aufkommen lassen soll (63 ff., 70, 85, 109, 138), weil deren Darstellungen zum Teil auch heute noch "ein wenig bekömmliches Gemisch aus Romantik und Positivismus" (68) enthielten und im Rahmen wissenschaftlicher Quellenkritik nicht selten "der geschichtliche Kern das ist, was den heutigen Historikern gerade passt" (63). Springer hält es entsprechend für nötig, dem Leser - nach seiner Ansicht wohl oft vernachlässigte - methodische Grundkenntnisse wissenschaftlichen Arbeitens zu vermitteln und etwa zu erklären: "Die Widmungen, die den Schriften gewöhnlich vorausgingen, sind also kein zu vernachlässigendes Beiwerk, sondern für das Verständnis der jeweiligen literarischen Hervorbringung unentbehrlich" (68).
Erwecken derartige Formulierung die Vermutung, Springer schriebe nicht für ein Fachpublikum, so setzen seine Argumentationen an anderer Stelle so viel Wissen voraus, dass ein Laie kaum mehr zu folgen vermag. Das betrifft auch die vier Karten, die zum Teil von recht schlechter fotografischer Qualität sind und für das Thema besonders wichtige Einträge wie etwa die Unstrut oder den Ort Hadeln vermissen lassen (176). Zum Verständnis seiner Quelleninterpretationen bietet Springer zudem leider nur selten das lateinische Originalzitat; stattdessen liest man "die maßgebliche englische Übersetzung" (131).
Springers Buch ist dennoch ein wichtiger Beitrag für die Frühgeschichte der Sachsen, bereinigt es doch jetzt vor einem breiteren Publikum das bisherige Bild von zahlreichen immer noch verbreiteten Fehlinterpretationen aus älterer Zeit. Völlig berechtigt werden Ansichten zurechtgerückt, die in ihrer Entstehung dem jeweiligen Zeitgeist unterworfen waren; allerdings bleiben sogar die sehr hilfreichen Zusammenfassungen am Ende jeden Kapitels recht "ergebnislos", weil anstelle der widerlegten Meinung kein alternatives Konstrukt gestellt wird. Der Lerneffekt liegt daher vornehmlich auf methodischer Ebene, etwa darin zu sehen, "wie ein einziges Wort als Unterbau eines hochragenden Lehrgebäudes dienen kann" (142), wie sehr historische Forschung zwangsläufig ihrem eigenen historischen Kontext unterworfen ist und wie oft sie in ihren Ergebnissen weit über das aus den Quellen Belegbare hinausgeht.
Trotz der oft ausführlichen und manchmal recht komplizierten Argumentationen ist das Buch wegen seiner klaren und detaillierten Gliederung sowie der bündigen Zusammenfassungen nach jedem Kapitel angenehm zu lesen.
Florian Hartmann