Guido O. Kirner: Strafgewalt und Provinzialherrschaft. Eine Untersuchung zur Strafgewaltschaftspraxis der römischen Statthalter (6-66 n. Chr.) (= Schriften zur Rechtsgeschichte; Heft 109), Berlin: Duncker & Humblot 2004, 396 S., ISBN 978-3-428-11381-1, EUR 82,00
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Der Berliner Althistoriker Guido O. Kirner legt mit seiner Dissertation zur provinzialen Strafgewaltpraxis in Judäa eine Arbeit zu einer rechtshistorischen Spezialfrage vor. Sie gewährt gleichzeitig einen ausführlichen Einblick in die Strukturen frühkaiserzeitlicher Provinzherrschaft.
Kirner geht dabei von zwei widersprüchlichen Ansätzen der Forschung aus: auf der einen Seite von der These Mommsens und seiner Schüler von der "selbstherrlichen Strafgerichtsbarkeit" des Statthalters; auf der anderen Seite von der Gegenposition Kunkels, der den strafrechtlichen Ermessensspielraum des Statthalters durch das normative Recht und durch provinziale Institutionen wie das consilium stark beschränkt sieht. [1]
Die Untersuchung distanziert sich ausdrücklich von der verbreiteten Methode, rechtshistorische Fragen hauptsächlich anhand des überlieferten normativen Rechts zu beantworten. Stattdessen stützt sie sich auf literarische Beschreibungen der provinzialen Wirklichkeit, nimmt freilich hierbei eine starke Selektion vor: Da mit den Schriften des Flavius Josephus sowie des Neuen Testaments das ausführlichste Material für einen geografisch und chronologisch zusammenhängenden Herrschaftsbereich vorliegt, diskutiert Kirner die Ausgangsfrage ausschließlich anhand der Zustände der Provinz Judäa des Zeitraums 6-66 n. Chr. Nur in Form eines ausführlichen Exkurses werden zusätzlich die Verres-Reden des Cicero berücksichtigt.
Mit diesem Exkurs beginnt der Hauptteil der Untersuchung: Die Quelle wird im Sinne der Ausgangsfrage im Hinblick auf die Reichweite statthalterlicher Koerzitionsgewalt beziehungsweise des Einflusses des consilium ausgewertet. Grundsätzlich ist von einer Grauzone beider Kompetenzbereiche auszugehen, die sich erst unter Berücksichtigung der näheren Umstände einzelner Strafprozesse zu der einen oder anderen Seite hin eingrenzen lässt. Die Einberufung eines consilium dürfte etwa überhaupt unterblieben sein, wenn der Beklagte von niedrigem Status war oder der Prozess in kleineren Gemeinden stattfand. Schwerwiegende Delikte wie maiestas und perduellio fielen per se in die Koerzitionsgewalt des Statthalters. Die Ausgangsfrage wird somit eher zu Gunsten Mommsens entschieden, was freilich nicht überrascht, da Cicero in seiner Anklage die willkürlich gehandhabte Strafgewalt des Verres herausarbeiten wollte.
Eine Überprüfung dieser tendenziösen Darstellung Ciceros anhand der Quellen zur Provinz Judäa schließt sich an. Die diesbezügliche Hauptquelle - Flavius Josephus - wird zunächst auf Grundlage der Forschungsliteratur in Bezug auf ihren historischen Wert diskutiert. Auf die spezifische Situation der Provinz Judäa im Hinblick auf religiöse Strukturen, regionale Traditionen und die sich daraus ergebenden spezifischen Kompetenzen des Statthalters wird ausführlich eingegangen. Einzelbesprechungen der überlieferten Fallbeispiele stellen die strafrechtlichen Reaktionen des Statthalters hinsichtlich religiöser Bewegungen, Banditentum und Protestaktionen dar. Die Kommunikationsstrukturen zwischen dem Statthalter von Judäa, der provinzialen Oberschicht, dem Statthalter von Syrien sowie dem Kaiser in Rom werden dabei detailreich herausgearbeitet und an einem Schaubild verdeutlicht. Insgesamt bestätigt sich der Eindruck eines relativ großen Ermessensspielraums der statthalterlichen Strafgewaltpraxis.
Zum Abschluss wird die Quellenbasis anhand der Überlieferungen zu den Prozessen des Statthalters von Judäa gegen Jesus von Nazareth und Paulus komplettiert. Die rechtshistorische Aussagekraft dieser religiös gefärbten Quellen wird wiederum auf der Grundlage der zahlreichen Forschungsliteratur diskutiert und, zumindest in ihrem normativen Gehalt, weitgehend positiv beantwortet. Da beide Fälle durch herrschaftspragmatische Überlegungen maßgeblich beeinflusst wurden, insbesondere der Prozessausgang gegen Jesus als Konzession an die jüdische Oberschicht zu verstehen ist, bestätigen sie das allgemeine Bild der relativ großen Entscheidungsfreiheit des Statthalters gegenüber dem fixierten Strafrecht auch bei bedeutenden Prozessen. Die provinziale Gerichtspraxis ist somit von der weitgehend formalisierten stadtrömischen abzugrenzen.
Die sich im Grenzbereich zwischen Alter Geschichte, Philologie und Rechtsgeschichte bewegenden Diskussionen sind ebenso wie die Recherchen der Forschungsliteratur von guter Qualität. Die Aufarbeitung rechtshistorischer Fragen in Auseinandersetzung mit der synthetischen Sichtweise Mommsen ist grundsätzlich als modern anzusehen. Gelegentlich wären eine größere Reduktion in der Darstellung von Einzelbeispielen sowie ein höherer Grad an Typologisierung überlegenswert gewesen. Die Übertragbarkeit der Verhältnisse in Judäa, deren spezifischer Charakter ja ausführlich herausgearbeitet wird, auf die übrigen Provinzen wird im Einleitungsteil zwar spekulativ behauptet, nicht jedoch ausführlich durch Belege untermauert.
Auch durch das praktische Sachregister eignet sich die Arbeit vorzüglich als Nachschlagewerk für die frühkaiserzeitlichen Herrschaftsstrukturen der Provinz Judäa.
Anmerkung:
[1] Th. Mommsen: Römisches Strafrecht, ND Darmstadt 1955, 235-240; W. Kunkel: Untersuchungen zur Entwicklung des römischen Kriminalverfahrens in vorsullanischer Zeit, München 1962, passim.
Dirk Rohmann