Claudia Lichte / Jürgen Lenssen (Hgg.): Tilman Riemenschneider. Werke seiner Blütezeit / Werke seiner Glaubenswelt. Katalog zur Ausstellung im Mainfränkischen Museum Würzburg und im Museum am Dom, Würzburg, 24.3.-13.6.2004, Regensburg: Schnell & Steiner 2004, 2 Bde., 383 S. + 345 S., 549 meist farb. Abb., ISBN 978-3-7954-1661-4, EUR 39,00
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Das Interesse an der Kunst der Spätgotik hat in den letzten Jahren wieder zugenommen. Tagungen, Ausstellungen und Dissertationen haben mit neuen Fragestellungen diesem Forschungsgebiet neue Impulse gegeben. In diesen Rahmen reiht sich auch der hier angezeigte Ausstellungskatalog ein.
Aus Anlass des 1300-jährigen Stadtjubiläums der Stadt Würzburg haben die Würzburger Museen im Jahre 2004 zwei parallele Ausstellungen einem der größten Künstler der Stadt gewidmet, dem spätgotischen Bildschnitzer Tilman Riemenschneider (um 1460-1531). Die Schau im Mainfränkischen Museum galt den "Werken seiner Blütezeit", diejenige im Museum am Dom den "Werken seiner Glaubenswelt". Nach der 1981 von der Skulpturengalerie der Staatlichen Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz im Mainfränkischen Museum gezeigten Ausstellung zum Frühwerk des Meisters standen nun die reifen Werke der Jahre 1500-1525 im Mittelpunkt. Zu beiden Ausstellungen gemeinsam erschien ein von Schnell und Steiner in Regensburg verlegter, zweibändiger, opulent bebilderter Katalog in sehr schöner Aufmachung. Beide Bände bieten zusammen einen fundierten Überblick über Leben und Werk des Künstlers. Claudia Lichte vom Mainfränkischen Museum und Wolfgang Schneider vom Museum am Dom konnten für den Katalog namhafte Spezialisten gewinnen.
Im ersten Band sollten stilistische Analysen "gleichberechtigt neben der Erfassung von Bearbeitungstechniken" stehen (C. Lichte im Vorwort, 14). Im Vorfeld waren an einigen Figuren moderne Übermalungen abgenommen worden, sodass sie sich eingehenden technischen Untersuchungen neu erschlossen. In 13 Aufsätzen werden sehr unterschiedliche Aspekte beleuchtet, die die vielschichtigen Bedeutungen, Funktionen und ursprünglichen Zusammenhänge der Werke wiedererstehen lassen:
Julien Chapuis, der bereits mit den Ausstellungen in New York und Washington und dem Washingtoner Symposion von 1999 wichtige Anregungen für dieses Thema gegeben hatte [1], bietet zunächst einen fundierten Überblick über Leben und Kunst Riemenschneiders (19-39). Er befasst sich unter anderem mit der Wirkung der Werke an ihrem ursprünglichen Aufstellungsort sowie deren stilistischer Chronologie, und beleuchtet anhand von Quellen die zeitgenössischen Qualitätskriterien. Er zeigt eine Entwicklung im persönlichen Stil des Künstlers von den plastisch angelegten, frühen Werken zu den eher grafisch-linear gedachten Arbeiten der Blüte- und Spätzeit auf. Zu seinen Hinweisen auf Schongauerstiche als Vorlage für Riemenschneider (36-39) sei hier eine bibliografische Ergänzung angemerkt: Jan Nicolaisen behandelt diesen Aspekt in seiner 1995 leider nur als Microfiche publizierten Dissertation zu Schongauer. [2]
Hans-Peter Trenschel (41-55) und Iris Kalden-Rosenfeld (57-81) versuchen in ihren Beiträgen (die leider nicht ganz frei von Überschneidungen sind), anhand der zeitgenössischen Quellen beziehungsweise anhand einer Analyse der Rolle Riemenschneiders als Werkstattleiter und Ratsmitglied, sich der historischen Person des Bildhauers zu nähern. Sie entwerfen ein lebendiges Bild von der damaligen, städtischen Verfassung und dem Funktionieren einer großen Werkstatt. Kalden-Rosenfeld wiederholt hier in Teilen Ergebnisse ihrer Hamburger Dissertation von 1989 [3] und bietet den Versuch einer exemplarischen Händescheidung. In einem zweiten Beitrag über die Förderer des Künstlers (105-117) widmet sie sich den politischen und sozialgeschichtlichen Bedingungen der Auftragsvergabe.
Als Gegenpol zur zeitgenössischen Sicht auf den Meister bietet Claudia Lichte einen Überblick über die wechselvolle Rezeptionsgeschichte des lange Zeit völlig vergessenen Künstlers im Laufe der Jahrhunderte (119-135).
Überwiegend technische Fragen der Werkentstehung stehen im Mittelpunkt einer weiteren Reihe von Beiträgen. So untersucht Claudia Lichte die Frage der Wiederholung und Variation von Modellen, mithin der effizienten Werkstattorganisation (83-103). Manfred Schürmann trägt Beobachtungen zur Holzbearbeitung bei (137-151) und rollt die viel diskutierte Frage nach Fassung oder Holzsichtigkeit im Werk Riemenschneiders noch einmal auf (167-173). Mit den unterschiedlichen Materialbedingungen im Werkprozess befasst sich Hans Westhoff (153-165), denn Riemenschneider war einer der wenigen Bildhauer seiner Zeit, die gleichermaßen in Stein und Holz gearbeitet haben. Bodo Buczynski untersucht ausführlich den Skulpturenzyklus Riemenschneiders für die Würzburger Marienkapelle (175-193).
In drei weiteren Aufsätzen werden mit Hans Fries von Mergentheim und Peter Dell d. Ä. zwei Schüler Riemenschneiders und mit Franz Maidburg ein stilistischer Nachfolger Riemenschneiders (Hartmut Krohm, 225-240) in die Betrachtung einbezogen, wobei das Oeuvre Fries' hier erstmals zusammengestellt wurde (Wolfgang Schneider, 195-207).
In ungefährer Entsprechung zu den Themen der Aufsätze ist auch der Katalogteil (241-361) in neun thematische Einheiten gegliedert. Der größte Teil der 84 fachkundigen Texte stammt von Claudia Lichte und Iris Kalden-Rosenfeld, die technischen Befunde meist von Manfred Schürmann.
Fazit des ersten Bandes ist, "dass sich das Bild vom Meister mit individueller Handschrift und das Bild vom Werkstattleiter nicht ausschließen und dass die Fragen nach Funktion, Bearbeitungstechnik, Fassung oder Nicht-Fassung ein 'Meisterwerk' nicht schmälern." (Lichte, 135).
Der zweite, zur Ausstellung im Museum am Dom erstellte, ähnlich umfangreiche Band legt den Schwerpunkt - entsprechend der Ausrichtung des Museums - auf frömmigkeitsgeschichtliche Aspekte. Die gezeigten Werke stammen zumeist aus Kirchen, Kapellen oder deren Tresoren. Auch hier bieten neun fundierte Aufsätze zahlreiche neue Erkenntnisse.
Hanswernfried Muth nähert sich werkimmanent der Glaubenswelt des Künstlers (17-29), Wolfgang Brückner betrachtet den liturgischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext der Werke (31-49). Christian Hecht konkretisiert dies am Beispiel der Funktion von Flügelretabeln (51-67). Wolfgang Schneider befragt frühneuzeitliche Visitationsberichte auf ihren Quellenwert für verlorenes Inventar (69-83), Holger Simon untersucht den interessanten Komplex der Beweinungsgruppen auf ihre Bedeutung hin und ordnet sie in einen überregionalen, zeitgenössischen Kontext ein (85-105). Von Interesse sind auch die Beiträge über die Memorialkultur der Zeit (Joachim Schneider, 107-131) und der Ausblick auf Riemenschneiders Sohn Bartlmä Dill, Maler in Südtirol (Leo Andergassen, 151-167). Epigrafische (Franz X. Herrmann) und heraldisch-realienkundliche Betrachtungen (Erik Soder von Güldenstubbe) runden das Bild ab.
Die 83 genauen und einfühlsamen Beschreibungen und Würdigungen im Katalogteil (183-325) verdanken wir Michael Koller und Wolfgang Schneider.
Die Vielfalt der Themen beider Katalogteile und etliche, neue Befunde bringen großen Erkenntnisgewinn. Positiv anzumerken ist die Einbeziehung von Werken benachbarter Gattungen zur Erhellung des künstlerischen Umfeldes. Die zahlreichen, ausgezeichneten Fotografien werden in einer hervorragenden Druckqualität wiedergegeben. Die durchgehende Nummerierung der Abbildungen durch alle Beiträge und Katalognummern hindurch sowie ausführliche Namens- und Ortsregister erleichtern die Orientierung im Katalog sehr. Er wird für lange Zeit das Referenzwerk zum Thema bleiben.
Anmerkungen:
[1] Julien Chapuis (Hrsg.): Ausstellungskatalog: Tilman Riemenschneider: Master sculptor of the late Middle Ages, National Gallery of Art, Washington, The Metropolitan Museum of Art, New York, New Haven/London 1999; Julien Chapuis (Hrsg.): Tagungsband Washington 1999: Tilman Riemenschneider, c. 1460 - 1531. Proceedings of the Symposium "Tilman Riemenschneider: A Late Medieval Master Sculptor", held 3-4 December 1999 in Washington, DC, New Haven/London 2004.
[2] Jan Nicolaisen: Die Entwicklung des Kupferstichs zur eigenständigen Kunstgattung. Die Herausbildung der Plastizität als druckgraphische Kunstform und bildnerische Vorlage. Masch. Diss. Freiburg i. Br. 1993, Microfiche 1995.
[3] Iris Kalden: Tilman Riemenschneider, Werkstattleiter in Würzburg, Ammersbek bei Hamburg 1990.
Andreas Curtius