Doris Schwarzmann-Schafhauser: Orthopädie im Wandel. Die Herausbildung von Disziplin und Berufsstand in Bund und Kaiserreich (1815-1914) (= Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte; Beiheft 53), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, 396 S., ISBN 978-3-515-08500-7, EUR 68,00
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Im August 1918 forderten Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Orthopädische Chirurgie die Einrichtung eines staatlich zertifizierten "Ausbildungsgangs für Orthopädinnen". Nicht etwa die Gleichstellung ihrer Fachkolleginnen hatten die Herren damit im Sinn, sondern die Unterordnung von Heilpädagoginnen unter die Ausbildungshoheit approbierter Mediziner. Von Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Kaiserzeit beherrschen Turnlehrer, Heilgymnasten, Mechaniker, Wundärzte, Bandagisten und Masseure - zunächst in produktiver Kooperation, später in scharfer Konkurrenz mit Ärzten - das Feld der Orthopädie. So war es um 1850 möglich, dass die von dem angesehenen Berliner Orthopäden Heimann Wolff Berend in seiner noblen Privatanstalt angestellte Vorsteherin "Frl. Weichenthal" einen Apparat zur Behandlung der Skoliose konstruierte und wenig später ihr eigenes gymnastisch-orthopädisches Institut eröffnete.
Diese und zahlreiche weitere Karrieren lassen sich aus dem 570 Anstaltsbeschreibungen und 147 Kurzbiografien umfassenden Anhang zu der Habilitationsschrift "Orthopädie im Wandel" von Doris Schwarzmann-Schafhauser entnehmen.
Den ersten Teil der Studie nimmt der lesenswerte Versuch ein, ein Feld zu definieren, dessen einzige feststehende Konstante eine im Jahr 1741 geprägte Bezeichnung zu sein scheint. In seiner "Orthopédie" beschrieb Nicolas Andry eine Reihe äußerlicher Gebrechen des menschlichen Leibes und deren Therapie durch erzieherische Einwirkung auf den Körper. Als Sammelbegriff erhielt der Name Orthopädie jedoch erst 100 Jahre später Bedeutung, als unter ihm durch Jacob von Heine sämtliche Erkrankungen des Bewegungsapparates subsumiert wurden. Dazu gehörte eine fehlerhafte Körperhaltung ebenso wie Lähmungen der Gesichtsmuskeln, Kinderlähmung oder Knochentuberkulose.
Doch bestimmte nicht allein die Ansicht von Ärzten die Definition der Orthopädie, sondern vielmehr Angebot und Nachfrage auf einem vielseitigen Gesundheitsmarkt. Eine fast ausschließlich bürgerliche Patientenklientel frequentierte die orthopädischen Anstalten des 19. Jahrhunderts, dabei stand die orthopädische Kur der Skoliose im Vordergrund. Anhand anschaulicher Beispiele schildert Schwarzmann-Schafhauser die kulturelle Konstruktion der Skoliose im bürgerlichen Milieu. Die Nutzung aufwändiger, stets nach dem jüngsten Stand der Technik konstruierter medico-mechanischer Geräte, schwedische Heilgymnastik sowie Massagen und balneologische Anwendungen verwandelten die Therapie von Fehlhaltungen in ein attraktives Freizeitangebot. Den lukrativen Markt gymnastisch-orthopädischer Institute teilten sich Laien und Mediziner. Es verwundert kaum, dass auch in der medizinischen Literatur die Skoliose als Erkrankung von Frauen höherer Stände ausführlich problematisiert wurde.
Mit sozialem Elend verbundene orthopädische Krankheiten finden aufgrund der Eingrenzung des Themas kaum Erwähnung. Ein Blick in zeitgenössische Statistiken zeigt, dass in Industriestädten über 30 % der Kleinkinder an einer Mangelrachitis litten, die Knochen- und Gelenktuberkulose galt um die Jahrhundertwende als häufigste Todesursache bei 10- bis 15-Jährigen. Jedoch werden diese Patienten in dem besprochenen Band allein unter dem Gesichtspunkt der Disziplinengenese betrachtet. Solcher Klientel blieb ein Zugang zu medizinischer Behandlung bis zur Etablierung der so genannten "Krüppelfürsorge" verschlossen. Eine durch gesetzliche Regelungen beförderte Meldepflicht und Heimunterbringung "jugendlicher Krüppel" verhalfen der Hegemonie einer ärztlich getragenen Orthopädie schließlich zum Durchbruch.
Waren die Polikliniken der 1890er-Jahre Motor für die universitäre Etablierung der Orthopädie gewesen, so entwickelten sich die mit staatlicher Unterstützung ab 1905 gegründeten "Krüppelheime" zu den wichtigsten Forschungseinrichtungen der orthopädischen Chirurgie in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.
Wie aufschlussreich es sein kann, die Entwicklung des Faches Orthopädie zugleich anhand wissenschaftstheoretischer Methodologien sowie unter Berücksichtigung ökonomischer, sozialer und politischer Entwicklungen zu betrachten, zeigt eine Grafik mit zwei parallel verlaufenden, steil ansteigenden Kurven, welche die Eröffnungen von Zander-Instituten in Abhängigkeit von der steigenden Zahl an Versicherten visualisieren. Nachdem das "Zandern" als medico-mechanische Nachbehandlung von Patienten durch die Unfallversicherungen anerkannt wurde, stieg die Zahl orthopädischer Privatinstitute innerhalb eines Jahrzehnts um über 140 Prozent.
"Orthopädie im Wandel" schließt eine Forschungslücke, die zwischen der durch Uwehorst Paul 1985 exemplarisch beschriebenen Geschichte der universitären Orthopädie [1] und der 1995 von Klaus Dieter Thomann vorgelegten Geschichte der Krüppelfürsorge [2] bestand. Eine Stärke dieser Studie liegt darin, dass sie die Orthopädie nicht á priori als medizinisches Fach auffasst und zu keinem Zeitpunkt die Narration einer Fortschrittsgeschichte verfolgt.
Kaum ein anderes, später als medizinische Fachdisziplin etabliertes Feld wurde so stark von Nichtmedizinern bestimmt wie die Orthopädie. Es könnte sich nicht nur für die Disziplinengeschichte lohnen, die Wechselwirkungen von etablierter Medizin und medikalem Markt anhand weiterer Beispiele zu untersuchen.
Anmerkungen:
[1] Uwehorst Paul: 150 Jahre Berliner Orthopädie. Der Weg der Berliner Orthopädie und die gesellschaftliche Bedingtheit ihres Wandels, Berlin 1985.
[2] Klaus-Dieter Thomann: Das behinderte Kind. "Krüppelfürsorge" und Orthopädie in Deutschland 1886-1920 (= Forschungen zur neueren Medizin- und Biologiegeschichte; 5), Stuttgart 1995.
Philipp Osten