Rezension über:

Jean Wirth: La datation de la sculpture médiévale, Genève: Droz 2004, 336 S., ISBN 978-2-600-00530-2, EUR 20,00
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Rezension von:
Gerhard Lutz
Dom-Museum Hildesheim
Redaktionelle Betreuung:
Ulrich Fürst
Empfohlene Zitierweise:
Gerhard Lutz: Rezension von: Jean Wirth: La datation de la sculpture médiévale, Genève: Droz 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 10 [15.10.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/10/7420.html


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Jean Wirth: La datation de la sculpture médiévale

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Bereits der Titel des Buches "La datation de la sculpture médièvale" lässt aufhorchen. Jean Wirth wagt sich mit dieser Publikation an eines der schwierigsten Kapitel der mittelalterlichen Kunstgeschichte. Dem Autor ist, um es vorwegzunehmen, eine erfrischend kritische, spannend zu lesende Bestandsaufnahme gelungen, mit Konsequenzen weit über die Grenzen der Skulpturenforschung hinaus.

Wirth konzentriert sich im Wesentlichen auf die Skulpturen des 11. bis 13. Jahrhunderts in Frankreich und Deutschland. Er zeigt sich dabei gleichermaßen bewandert in der aktuellen französischen wie deutschen Forschung, was durchaus der Erwähnung wert ist, da gerade in Frankreich die jüngeren deutschen Publikationen stärkere Beachtung finden könnten. Wirth gebührt das Verdienst, zu einigen zentralen Themen der mittelalterlichen Skulptur die neuesten Ansätze zusammenzuführen und dem französischsprachigen Publikum vorzustellen. Allein dies eröffnet schon neue Perspektiven.

Wirths 'tour d'horizon' geht aber weit über ein Zusammentragen jüngerer Forschungsergebnisse hinaus. Sein methodisch breiter Ansatz ermöglicht es ihm, kritisch auf die Traditionen der Kunstgeschichtsschreibung einzugehen. Immer wieder rücken die wichtigen Kathedralbaustellen mit ihren Skulpturenzyklen ins Zentrum. Die enge Verflechtung der Portale mit der Bauchronologie, die Wirth ausführlich diskutiert, bringt es mit sich, dass man dieses Buch auch ohne weiteres als eine Einführung in die Datierung mittelalterlicher Sakralarchitektur benutzen kann. Doch der Reihe nach:

Schon die Einführung überrascht: Als Aufhänger wählte Wirth mit dem Grabmal Heinrichs des Löwen und seiner Frau Mathilde, dessen Datierungsvorschläge vom ausgehenden 12. Jahrhundert bis um 1240 reichen, ein gerade in den vergangenen Jahren kontrovers diskutiertes Beispiel. Robert Suckale hatte auf der Basis einer Notiz des Chronisten Arnold von Lübeck das Grabmal in das letzte Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts datiert. Dem steht die Auffassung von Klaus Niehr gegenüber, der die Anlage auf Grund stilistischer Kriterien erst gegen 1240 entstanden wissen will. Wirth führt am Bespiel der Bedeutungen des Wortes von "sepultura" Möglichkeiten und Grenzen der Quellenkritik vor Augen und charakterisiert das Zustandekommen vieler kunstgeschichtlicher Datierungen: Auf der Basis einiger mehr oder weniger gesicherter Daten werden stilistische Bezüge der Werke untereinander und darauf wiederum eine stilgeschichtliche Entwicklung aufgebaut, differenziert in verschiedene Hände, Ateliers oder Einflüsse (16). Hinweise in den Schriftquellen werden dann im Lichte dieser Modelle herangezogen und interpretiert.

Im Folgenden spricht Wirth alle wesentlichen Aspekte an, die für die Datierung eines Bildwerks eine Rolle spielen, wie Schriftquellen, archäologische Befunde, Kostümkunde, Ikonografie oder wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Der Autor spricht hier souverän Problempunkte nicht nur in der Kunstgeschichte, sondern auch in den historischen Teildisziplinen an. So zeigt er auf, dass die Epigrafiker ihre zeitlichen Einordnungen mitunter auf den kunsthistorischen Datierungen aufbauen und wiederum die Kunsthistoriker sich auf die Einschätzungen der Epigrafik stützen (75). Immer wieder wird aber deutlich, wie wichtig die möglichst genaue Erforschung der historischen Rahmenbedingungen ist: So verweist Wirth unter dem Punkt "Ikonographie" auf die Statue Karls des Großen in Müstair, die man gemeinhin um 1165, dem Jahr der Kanonisation der Kaisers, angesetzt hat. Der Autor schlägt stattdessen aus stilistischen Gründen eine Datierung in die Zeit des Abtes Norbert (1079-1088) vor, einem Anhänger Heinrichs IV. im Investiturstreit. In diesem Zusammenhang macht die Darstellung des Herrschers Sinn, als Teil eines Programms, das die kirchenpolitischen Vorstellungen Heinrichs bestätigte (82). Es handelt sich also nur vordergründig um eine ikonografische Frage, sondern vielmehr um eine Neudatierung auf Basis stilistischer und historischer Indizien.

Wirth geht auch ausführlich auf die Ergebnisse der so genannten Bauforschung ein, wie sie insbesondere im Rahmen der Untersuchung des Bamberger Fürstenportals gewonnen wurden. Bereits Dethard von Winterfeld hatte 1976 für das Fürstenportal eine Datierung um 1224/1225 vorgeschlagen. Die Untersuchungen der Bauforscher haben diese Annahme bestätigt und zudem für die berühmten Figuren von Ecclesia und Synagoge zu beiden Seiten des Portals dasselbe Datum ergeben. Dies hat erhebliche Konsequenzen für die Datierung der französischen Skulptur dieser Zeit, allen voran der Kathedrale von Reims. Es ist ein wichtiges Verdienst von Wirths Buch, die Widersprüchlichkeiten der derzeitigen Reims-Forschung aufzuzeigen. Auf Grundlage einer erneuten Diskussion der relevanten Schriftquellen entsteht ein plausibles Grundgerüst für die Datierung der einzelnen Bauphasen.

Der längste Abschnitt ist der Datierung anhand stilgeschichtlicher Kriterien vorbehalten. Wirth tritt hier für eine Renaissance des Künstlerbegriffs ein (165) und legt den Finger auf einen wunden Punkt: Nach der apologetischen Überhöhung einzelner Bildhauer insbesondere des 13. Jahrhunderts in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts, umgeht man heute Stilkritik vollständig oder verwendet bequem den Begriff von Werkstätten. Der Autor setzt sich hier - meines Erachtens zu Unrecht - besonders kritisch mit Kathryn Brush auseinander, die die Vorstellung vom Naumburger Meister vor dem Hintergrund einer nationalistisch ausgerichteten Kunstgeschichtsschreibung als eine seit 1897 entwickelte Fiktion bewertet (173). Ohne Zweifel: Eine Architektur wie der Naumburger Westchor muss in erster Linie die Schöpfung eines überragenden "magister operis" gewesen sein, der gleichermaßen als Architekt wie auch als Bildhauer gedacht und wohl auch gearbeitet hat. Zugleich muss man aber konstatieren, dass ein Werk wie der Naumburger Westchor mehr ist, als die Schöpfung eines Einzelnen. Vielmehr arbeiteten dort mehrere Kräfte zusammen, auffallend homogen und auf einem sehr hohen Niveau. Insofern verstellt die Verengung auf ein Künstlerindividuum weiterführende Fragen. Wirth bringt an dieser Stelle Grünewald ins Spiel, über den es ebenfalls so gut wie keine Quellen gibt. Sieht man einmal davon ab, dass man nicht ohne weiteres von Maler- auf Bildhauerateliers schließen kann, läuft man zusätzlich Gefahr, Künstlerbegriffe ohne ausreichende Grundlage über mehrere Jahrhunderte zurückzuprojizieren. Über die Bildhauer des 13. Jahrhunderts wissen wir bekanntlich fast nichts.

Hier verweist der Autor auf das Beispiel Benedetto Antelamis, der im ausgehenden 12. Jahrhundert im Abstand von nahezu 20 Jahren an der Kathedrale von Parma Bildwerke schuf, die man ohne entsprechenden Beleg nicht demselben Künstler zuschreiben würde. Darauf baut Wirth auf, wenn er wenig später die Bamberger und Magdeburger Skulpturen demselben Künstler zuschreiben möchte. Im Fall des Bamberger Fürstenportals vermutet Wirth einen Künstler, der aus Reims kam und auch die Straßburger Skulpturen gut kannte (165). Derselbe Meister könnte in seinen Augen in Magdeburg unter anderem die hl. Katharina geschaffen haben. Als ein Argument dient ihm dabei, dass es so weit östlich des Rheins nur wenige Werkstätten mit einer so intimen Kenntnis der französischen Kathedralskulptur gab, da auch die Zahl der potenziellen Auftraggeber begrenzt war. Im Hinblick auf die Bischofskirchen wird man Wirth beipflichten können, doch hat sich die damalige Klosterlandschaft weit vielfältiger dargeboten. Wirth reduziert dies zu sehr auf das prosperierende Bergbauzentrum Freiberg. Bereits der Fall von Wechselburg zeigt, dass man auch jenseits dieser Zentren mit umfangreicheren Skulpturenzyklen rechnen muss.

Eine genauere Betrachtung der Skulpturenzyklen von Freiberg und Wechselburg, auf die Wirth wiederholt zu sprechen kommt, verdeutlicht aber auch, dass eine Reduktion auf wenige Künstlerpersönlichkeiten weiterer Diskussion bedarf. Der Autor sieht in beiden Fällen dieselbe Werkstatt tätig (278), ohne die erheblichen, qualitativen Unterschiede zwischen den Figuren der Goldenen Pforte und den zum Teil eher mäßigen Arbeiten des Lettners ausreichend zu thematisieren. Dies kann nicht chronologisch mit der Veränderung eines Künstlerindividuums erklärt werden. Vielmehr hat man davon auszugehen, dass beide Ensembles zwar in einem engen Zusammenhang zu sehen sind, wobei Wechselburg wohl das jüngere ist, deren Figuren aber von weniger talentierten Bildhauern geschaffen wurden.

Wirth hat mit seinem Buch, dem man möglichst schnell Übersetzungen ins Deutsche und Englische wünschen würde, einen notwendigen und überfälligen Diskussionsanstoß gegeben. Es ist auch zu hoffen, dass seine kritische Bestandsaufnahme der Bauchronologie so zentraler Bauwerke wie den Kathedralen von Reims und Amiens nicht ohne Resonanz bleibt. Zudem wird Wirths Eintreten für eine Neubewertung des mittelalterlichen Bildhauers als Künstler der künftigen Forschung vielfältigen Diskussionsstoff geben.

Gerhard Lutz