Günther Binding: Meister der Baukunst. Geschichte des Architekten- und Ingenieurberufes, Darmstadt: Primus Verlag 2004, VIII + 272 S., 48 Farb-, 286 s/w-Abb., ISBN 978-3-89678-497-1, EUR 49,90
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Außer den knappen Überblicken von Andreas Grote "Der vollkommen architectus" (1959) und Herbert Ricken "Der Architekt: ein historisches Berufsbild" (1990) gibt es keine jüngeren deutschsprachigen Versuche, eine Geschichte des Architektenberufes zu schreiben. Binding hat sich dieser Aufgabe gestellt, sie gleichsam als das Vermächtnis eines langen Architekten- und Architekturhistorikerlebens verstanden (VII). Im Titel des Buches sowie im Klappentext wird eine Geschichte der Architekten- und Ingenieursprofession bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in Aussicht gestellt, bis zu der Zeit also, in der sich diese beiden Berufssparten voneinander getrennt haben. Im Vorwort definiert Binding dagegen seine Fragestellungen anders: "Wer waren die Baumeister, [...] wem verdanken wir die großartigen Ingenieurleistungen der Vergangenheit [...]?" (VII). Die Lösung liegt für den Autor folglich in der Darstellung von Einzelbeispielen, nicht in Verallgemeinerungen oder dem Versuch, eine Entwicklungsgeschichte nachzuzeichnen. Schon die Einleitung erweist, dass die Wiedergabe der zahlreichen Originaltexte für Zeitkolorit sorgen soll, nicht aber im Sinne chronologischer Entwicklung oder analytischer Exegese zu lesen ist. Dementsprechend stehen Quellen aller Epochen und Regionen bisweilen fast beliebig zu Gebote.
Bindings Ausführungen folgen einer chronologischen und geografischen Gliederung. Die drei Großkapitel betreffen "Altertum" - Ägypten, Babylonien, Israel, Griechenland, Römisches Reich, Byzanz (36) - , "Mittelalter" - Zeit bis 1350, Italien im 14. Jahrhundert, Spätmittelalter (76) - sowie "Frühe Neuzeit (bis Mitte 18. Jh.)" - Italien, nordalpiner Raum (122). Mit 332 Abbildungen ist das Buch reich und anschaulich bebildert.
Der Autor hat seine exzellente Kenntnis der nordalpinen mittelalterlichen Quellen und Dokumente, des Baugewerbes und der Baumeisterfrage schon verschiedentlich unter Beweis gestellt, so dass diesem Teil des Buches hier weniger Beachtung geschenkt werden muss. Interessant erscheint vielmehr die Frage, inwieweit der Autor der Fülle des Materials auch der anderen Epochen Herr wird und zu einer Synthese der Informationen gelangt.
Sicherlich ist nicht zu erwarten, dass alle Epochen und Aspekte in gleicher Tiefe ausgelotet werden können, dennoch fallen einige eigentümliche Asymmetrien der Gewichtung auf. So ist das Kapitel Babylonien auf wenige Zeilen mit Auszügen aus Hammurabis Gesetzeswerk beschränkt, Israel ist lediglich durch die Bibelstellen zur Errichtung des salomonischen Tempels und des Bundeszeltes sowie Ezechiels Vision repräsentiert. Arabische und maurische Baumeister finden gar keine Berücksichtigung. 1000 Jahre byzantinischer Architektur sind weitgehend auf die Besprechung der Hagia Sophia reduziert und ebenso auf zwei Seiten beschränkt wie die Ausführungen zu Italien im 14. Jahrhundert. Letzteres ist umso erstaunlicher, als die Bauprojekte in Siena, Orvieto, Florenz und Bologna das denkbar reichste Material für die Analyse der Geschichte des "Architektenberufes" bereithalten. Da Binding seine Abhandlung auf biografischer Grundlage erschließt, gibt es wenig zu berichten, wenn keine Namen bekannt sind. Bezüglich der byzantinischen Kultur seien die mageren Erkenntnisse auf die "teilweise bewusste Anonymität byzantinischer Baumeister" - hier zitiert Binding ohne Nachweis eine unbelegte These von Petronotis 1984 - und die uneinheitlichen "Bezeichnungen für Architekten, Ingenieure, Konstrukteure, Handwerksmeister und Bauhandwerker" zurückzuführen (60).
Dabei entgeht dem Autor zu weiten Teilen die jüngere Standardliteratur. Für die griechische Antike wären z. B. Eiteljorg 1974, die Studien von Coulton und zuletzt Svenson-Evers 1996 heranzuziehen, die Bibliografie zu Daedalus von Brüschweiler-Mooser 1973 über Frontisi-Ducroux 1975 zu Rudd 1988 fehlt ebenso vollständig wie die zum byzantinischen Baumeister, worunter Downey 1948, Petronotis 1984 und Ousterhout 1999 anzuführen wären. Für die römische Antike stützt sich Binding v. a. auf die zwar bedeutsame Veröffentlichung von Donderer, der aber wichtige Studien von Gros 1983, Evans 1994, Scheithauer 2000 oder Taylor 2003 an die Seite zu stellen wären.
Bindings Buch entpuppt sich bei näherem Hinsehen als kurze kenntnis- und materialreiche Abhandlung über den nordalpinen Baumeister, um die herum die Biografien von Architekten diverser Regionen und Jahrhunderte sowie Quellentexte drapiert sind. Die Grundlage der Viten bilden weitgehend die Einträge im "Thieme-Becker", im "AKL" und in Pevsners "Lexikon der Weltarchitektur", aus welchen reichhaltig zitiert wird, "The Dictionary of Art" bleibt weitgehend unberücksichtigt. Angesichts der Existenz derartiger Nachschlagewerke ist jedoch zu fragen, ob die Kompilation von Künstlerkurzbiographien irgendeinen Wert hat, wenn die darin enthaltenen Informationen nicht zur Synthese geführt werden. Insbesondere für die Frühe Neuzeit nehmen die Ausführungen groteske Züge an. So schließt die Aufzählung von Raffaels Bauten mit folgendem Satz: "Weitere Bauten werden ihm zugeschrieben." (167).
Gelegenheiten zur Synthese werden vom Autor konsequent ausgelassen, das zeigt sich schon in der Einleitung im Abschnitt "Stellung und Bedeutung des Architekten" (12), der aus drei kommentarlos aneinander gereihten Zitaten von Cassiodor, Platon und Plotin besteht. Auch für andere Abschnitte sind jeweils nur einige kärgliche Fakten zusammengetragen, so zum Beispiel zu den Akademien (146), zur Pariser Académie Royale d'Architecture (224 f.), zum Kavalier-Architekten (239) oder zu Architekten-Verträgen (239 f.) - dabei bleiben die aufschlussreichen Diskussionen um den Architektenstand im Zusammenhang mit der Gründung der Florentiner "Accademia del Disegno" unberücksichtigt, dazu wäre Barzman 1985 hilfreich gewesen, neuerdings ist die Diskussion bei Burioni 2004 heranzuziehen. Ebenso werden auch andere zentrale Fragen wie die nach den Inhalten der vorakademischen Ausbildung und der Struktur des frühen institutionalisierten Unterrichts sowie deren Entwicklung, nach dem Wissensstand der Architekten, nach ihrer Stellung im Kulturleben oder nach dem Themenkomplex der Traktatliteratur nicht systematisch behandelt. Insbesondere im Hinblick auf die von Binding mehrfach betonte Zäsur, die um 1750 zur Trennung von Architekten- und Ingenieursberuf geführt habe, wäre zu erwarten gewesen, dass wenigstens die Situation in Frankreich im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert ausführlich zur Diskussion kommt. Denn mit dem Aufbrechen des Vitruvianismus und der Vitruvübersetzung von Claude Perrault im Vorfeld der Gründung der Académie Royale d'Architecture in Paris oder mit der wissenschaftlichen Ausbildung in der privaten Architekturschule von Jean-François Blondel sowie der rasanten Entwicklung in der Gattung des Architekturtraktates liegen in diesen Jahrzehnten entscheidende Wurzeln für die modernen Berufsbilder - dabei wäre zumindest die Studie von Schöller 1993 heranzuziehen gewesen.
Obgleich Binding zusammenfassende Erörterungen, die Formulierung "genereller Vorstellungen" (VII), ablehnt, geizt er mit gewagten Generalisierungen ebenso wenig wie mit der unkritischen Wiedergabe von Topoi. So sieht er mit Brunelleschi eine völlig veränderte Struktur des Architektenberufs beginnen (95), "das Aufkommen des Individualismus bestimmte die Renaissance" (146) und "in Italien hatte sich während der Barockzeit (1620-1750) für die Architekten in Selbstverständnis, Ausbildung, Stellung, Aufgaben, Entwurfspraxis und Organisation [...] nichts wesentlich verändert" (184). Die Behauptung, "im 17./18. Jh. waren für Architekten Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten fast ausschließlich am Hof des Landesfürsten zu finden" (245), mag schon kaum für die Kleinstaaterei in Deutschland gelten, denkt man an die großen europäischen Monarchien von der Habsburger über die französische bis zur englischen, erscheint sie völlig abwegig.
Erstaunlich ist auch die stillschweigende Prämisse Bindings, dass man Quellen, Dokumente und Fakten nur wiederzugeben brauche, diese sich selbst erläuterten und der Leser selbstständig die vermeintlich offensichtlichen Zusammenhänge aufdecken und verstehen werde. So ist es zwar interessant zu lesen, wie der Zimmermeister Heinrich Arnold in Konstanz laut Vertrag von 1378 als Stadtbaumeister entlohnt werden sollte. Wie die Werte aber auf der gesellschaftlichen Skala einzuordnen sind, ist mangels Angabe von Vergleichslöhnen anderer Gewerke und Berufe nicht nachzuvollziehen. Stattdessen heißt es nach Barbara Schock-Werner (1976) apodiktisch lediglich, dass die Werkmeister "zu den Großverdienern unter den Handwerkern in den mittelalterlichen Städten" gehörten (132 f.). Die gesellschaftliche Stellung einer Person lässt sich in einer ständisch und zünftisch organisierten Gesellschaft gut an ihren öffentlichen Ämtern, an der Herkunft des Ehepartners und der Mitgift ablesen - bezüglich dieser und ähnlicher Aspekte wären zusammenfassende Betrachtungen durchaus nützlich, andernfalls bleibt der Leser auf Einzelbeispiele und auf seine Gedächtnisleistung, sich dieser im Verlauf der Lektüre zu erinnern, angewiesen.
Zahlreiche Sachfehler mindern den Wert der Publikation, so die falsche Schreibung italienischer Eigennamen wie z. B. Luca Francelli (152 ff.), Poggio Braccolini, Bernardo della Porta für Buontalenti (168) oder Cesare Cesarino. Dass G. da Sangallo die Kirche S. Maria delle Carceri in Prato nicht in Rom (167) erbaut hat, die Neue Sakristei von S. Lorenzo in Florenz, nicht in Rom (149) zu bewundern ist, das Florentiner Findelhaus einen Arkaden-, keinen Kolonnadenhof (150) aufweist, die Piccolomini-Paläste in Pienza und in Siena verschiedene Bauten sind (155) und der Friede von Cateau-Cambrésis 1559 nicht die "Unterwerfung Italiens unter die spanische Krone" (169) bedeutete, ist unschwer als Versehen des Autors zu erkennen. Warum der Abschnitt zur Renaissance und die sich damals als allgemeines Anliegen ausprägende "Prachtentfaltung", die magnificenza, mit Quellen der Zeit um und nach 1600 belegt werden (145), erschließt sich jedoch nicht einmal dem Eingeweihten. Welche "architekturtheoretischen Werke" Leonardos den Bauherren zur Verfügung gestanden haben könnten (148), bleibt zu entdecken.
Binding hat die Gelegenheit verpasst, einem breiteren Publikum historisch argumentierende und differenzierende Begriffs- und Berufsdefinitionen, die ohnehin voneinander zu trennen wären, sowie eine strukturierte und synthetische Einführung in Berufsbilder nahe zu bringen, die erst durch normierte Studiengänge und geschützte Berufsbezeichnungen ihre heutige Ausprägung und Grundlage erhalten haben. Wer sich durch zahlreiche Topoi der Architekturgeschichtsschreibung, anekdotische Berichte und belanglose Kurzbiografien arbeitet, wird in ganz unsystematischer Verteilung dennoch eine Reihe interessanter Hinweise finden, denen nachzugehen verlohnt.
Für die ergänzende Bibliografie sei auf die Habilitationsschrift des Rezensenten (Leipzig 2005) verwiesen: "Architectus - Studien zum Berufsbild vor seiner Professionalisierung und zur Begriffsgeschichte".
Michael Lingohr