Reinhard Neebe: Weichenstellung für die Globalisierung. Deutsche Weltmarktpolitik, Europa und Amerika in der Ära Ludwig Erhard, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, 620 S., 23 Abb., 18 Tab., 15 Bilder, ISBN 978-3-412-10403-0, EUR 69,90
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Der Titel des neuen Buches von Reinhard Neebe überrascht. Wenn in dem Werk die Jahre von 1949 bis 1963 als eine Ära Erhard bezeichnet werden, so darf man gespannt sein, wie der Verfasser das begründet. Diese Begründung wird jedoch expressis verbis nicht gegeben. Vielmehr ist an einer Stelle von der Adenauer-Ära die Rede (18) und am Ende der Ausführungen wird mit Recht darauf verwiesen, dass "die Ära Adenauer zugleich auch eine Ära Erhard" gewesen sei (521). Gleichwohl ist Neebe bestrebt, indirekt den Nachweis zu liefern, dass die Bezeichnung Ära Erhard durchaus zutreffend ist, da er in Erhard im Vergleich zu Adenauer den moderneren Politiker sieht, da er bereits damals "die Globalisierung der Märkte richtig antizipierte und zur Grundlage seiner Überlegungen und Entscheidungen machte" (523) und ganz wesentlich zur "Durchsetzung des modernen weltoffenen Handelstaates in der Bundesrepublik und Westeuropa" beigetragen habe (525).
Ausgangspunkt der Darstellung Neebes ist die bis zum Erscheinen seiner Studie sicherlich richtige Feststellung, dass eine wissenschaftlich überzeugende Wertung der Leistungen Ludwig Erhards noch ausstand. Insbesondere vermisst Neebe die systematische Untersuchung des Kontextes von "sozialer Marktwirtschaft und der Erhardschen Außenwirtschaftskonzeption". Als eine wesentliche Aufgabe seiner Studie bezeichnet er es daher, "die Weltmarktpolitik Erhards in ihrem theoretischen und historischen Gesamtzusammenhang zu untersuchen und ihren Stellenwert für die Reintegration Deutschlands und Europas in die Weltwirtschaft sowie die Globalisierung nach 1945 präziser abzuklären" (31).
Die Quellenbasis, auf die Neebe seine Argumentation stützt, ist beeindruckend. Das Verzeichnis listet insgesamt 18 Archive in den USA und in der Bundesrepublik auf. Ebenso hat Neebe eine große Fülle gedruckter Quellen und Literatur herangezogen und außerdem in einem Dokumentenanhang zwölf besonders informative Quellen publiziert. Die Arbeit selbst ist chronologisch-systematisch gegliedert und behandelt das Thema in 13 Kapiteln, die jeweils bestimmte Schwerpunkte zum Inhalt haben und in sich überzeugend strukturiert sind.
Der Rahmen der Untersuchung ist weit gesteckt. Neebe behandelt die amerikanisch-europäischen Handelsbeziehungen in ihren unterschiedlichen Phasen, er untersucht das deutsch-französische Verhältnis im Gesamtrahmen der europäischen Einigung, er setzt sich mit den unterschiedlichen Konzeptionen für die Ausgestaltung des westeuropäischen Wirtschaftsraumes unter Einbeziehung der Konflikte zwischen EWG und EFTA auseinander, er bezieht die Wandlungen im Osthandel in seine Betrachtungen ein und analysiert schließlich detailliert die innerdeutschen Auseinandersetzungen über den Kurs der einzuschlagenden Außenhandelspolitik.
Im Zentrum der Betrachtungen steht meist Ludwig Erhard, der Neebe zufolge "jenen seltenen Politikertypus" verkörpert, "der - ohne in der Praxis dogmatisch zu sein - ganz aus seinen theoretischen Grundüberzeugungen lebte und seine Lebensaufgabe darin sah, der von ihm als richtig erkannten Zielsetzung in der praktischen Politik auch tatsächlich zur Durchsetzung zu verhelfen" (83). So würdigt Neebe die Währungsreform und das Leitsätze-Gesetz von 1948 als "ordnungspolitische Wende vom Plan zum Wettbewerb" (81) und verweist auf den Zusammenhang mit Erhards außenwirtschaftlichem Konzept. Er behandelt ausführlich die Krise vom Frühjahr 1951, als Erhard und seine "Soziale Marktwirtschaft" vor dem Scheitern standen, die Erhard jedoch "politisch gestärkt" überstand (169). Neebe analysiert Erhards Position im Kampf um die Gestaltung der europäischen Integration (Funktionalisten versus Institutionalisten), der "in einen irreparablen Bruch zwischen dem Bundeskanzler und seinen Wirtschaftsminister mündete" (289). Er verschweigt nicht die halbe Niederlage im Kampf um das Kartellgesetz, zeigt aber ebenso, wie es Erhard im Zusammenwirken mit Fritz Berg vom BDI 1960 gelang, eine Forcierung des kleineuropäischen Integrationsprozesses zu verhindern (Erhard verließ "zum ersten Male als Sieger die Kampfarena", 369). Schließlich gelingt es Neebe auch, den Konflikt zwischen Atlantikern und Gaullisten in der Union zu Beginn der 1960er-Jahre unter außenwirtschaftlichen Aspekten zu deuten (519 f.). Der in der Wirtschaftspolitik sowohl nach innen wie nach außen "so wettbewerbsfreudige Erhard" war allerdings dann nicht konsequent, wenn es um die Agrarpolitik ging: Hier war er bestrebt, "eine direkte Brüskierung der deutschen Bauern nach Möglichkeit [zu] vermeiden" (501), und setzte sich daher für protektionistische Regelungen ein.
Insgesamt aber zeichnet Neebe ein sehr positives Erhard-Bild. Im Unterschied zu Adenauer sieht er in ihm einen Politiker mit einer zukunftsträchtigen außen(wirtschafts)politischen Konzeption und denjenigen, der sich auf diesem Feld weitgehend durchgesetzt und einen zentralen Beitrag "für die Zukunftsentwicklung Europas sowie den Ausbau der transatlantischen Beziehungen" geleistet hat (522). Dieses Urteil ist sicherlich überzeugender als die grundsätzliche Infragestellung der politischen Leistung Erhards, wie sie Volker Hentschel vorgenommen hat. Gleichwohl ist der Eindruck nicht ganz von der Hand zu weisen, dass Neebe die Qualitäten des Politikers Erhard wohl doch überzeichnet. Sein Feld war und blieb die Wirtschaftspolitik - und hier hat er sich sowohl nach innen wie nach außen - Letzteres hat Neebe erstmals überzeugend herausgearbeitet - große Verdienste erworben. Auf anderen Gebieten der Politik ist er jedoch sehr bald an seine Grenzen gestoßen, wie sein schnelles Scheitern als Bundeskanzler dokumentiert.
Udo Wengst