W.V. Harris (ed.): Rethinking the Mediterranean, Oxford: Oxford University Press 2005, XXII + 414 S., 3 maps, 16 illus., 1 table, ISBN 978-0-19-926545-9, GBP 65,00
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Der von William V. Harris herausgegebene Sammelband stellt 15 Beiträge einer Tagung zusammen, die im Jahr 2001 an der Columbia Universität veranstaltet wurde. Ihr Thema führt eine Diskussion weiter, an deren Beginn die groß angelegte Studie von Fernand Braudel zur mediterranen Welt zur Zeit Philipps II. aus dem Jahr 1949 steht. Aber erst das 2000 erschienene, Aufsehen erregende Werk "The Corrupting Sea" von Peregrine Horden und Nicholas Purcell verhalf dem speziellen Zugriff einer Betrachtung der Mittelmeerwelt aus der Perspektive der Bedeutung des Mittelmeeres selbst zu größerer und kontrovers diskutierter Popularität.
Hier nun setzt das neue Unternehmen an. Am Anfang steht eine Einführung von Harris, die das Verhältnis insbesondere der Alten Geschichte zum Phänomen Mittelmeer problematisiert und in der Nachfolge Braudels nach der "balance between physical environment and human decision-making" (6) fragt. Sodann sollen zwei Kapitel sowohl die Leinwand ("The Big Canvas") aufspannen als auch verschiedene Perspektiven ("Angles of Vision") aufzeigen, mit deren Hilfe versucht wird, das Konzept "Mediterraneanism" für die Antike fassbar zu machen. Das dritte Kapitel ("The Archaeology of Knowledge") setzt sich dann zeitlich und methodisch davon ab und beschäftigt sich mit der Konstruktion der Kontinuität einer mittelmeerischen Kultur in der Renaissance und besonders in der Aufklärung.
Suggerieren der Titel des Gesamtwerkes wie auch die der drei Hauptkapitel eine Art Bündelung der bisherigen Diskussionen zum Thema, so wird diese Erwartung jedoch nicht erfüllt. Wie bereits im Vorwort angedeutet, stehen die Beiträge vor allem der ersten beiden Kapitel vielmehr isoliert für sich, und sie haben auch keinen methodisch einheitlichen Zugriff. Die Etablierung eines heuristisch verwertbaren Kategorienrasters zur Bestimmung einer 'history of the Mediterranean' - im Sinne von Horden und Purcell - im Unterschied zu einer 'history in the Mediterranean' wird so nicht ermöglicht. [1]
Der Anthropologe Michael Herzfeld verweist zunächst deutlich auf die Relativität und Intentionalität der einheitlichen Charakterisierungen der Mittelmeerwelt: "I am less interested in arguing about the truth or falsehood of these characterizations than in examining the play that local social actors give them in everyday encounters" (53). Auf gänzlich anderem, nämlich komparatistischem Weg nähert sich David Abulafia der Frage nach den Charakteristika von 'Mittelmeeren'. Er stellt vergleichbare 'mediterrane' Verhältnisse weltweit vor und kommt so der Ambivalenz des Trennenden und Verbindenden solcher Meere auf die Spur. Diese erlaubten gleichzeitige direkte Kontakte zwischen einer Vielzahl an Ländern und Kulturen. Jedoch geschehe dies abgeschwächt und verzögert, wodurch selbst das Nebeneinander von augenscheinlich Unvereinbarem möglich würde. Allerdings bleibt Abulafia zumeist im Deskriptiven und im unübersichtlichen Detail stecken, ohne diese Kriterien wirklich zu schärfen.
Neben diesem Bezug auf geografisch entfernte Vergleichssituationen vollzieht sich die Pointierung der Raumkategorie nicht zuletzt schlicht durch das Aufbrechen der gewohnten, zeitlichen Epochengrenzen. Dies lässt zum Beispiel auch die orientalischen Kulturen vor der 'klassischen' Antike in den Blick rücken. Aber nicht nur der entsprechende Beitrag von Marc van de Mieroop lässt Fragen hinsichtlich der Umsetzung dieser prinzipiell begrüßenswerten Ausweitung offen. Inwieweit haben Elamer oder Hethiter einen substanziellen Bezug zum Mittelmeer? Ein Blick auf Karten des Hethiterreiches und des gleichen Raumes in griechisch-römischer Zeit zeigt deutlich die Unterschiede in der Einstellung zum Meer. Auch dass assyrische Könige ihre Waffen im Mittelmeer gewaschen haben, bezeugt wohl weniger einen engeren Bezug zu diesem Raum oder gar dessen Inbesitznahme, sondern wertet eher die erreichte natürliche Grenze rituell auf. Somit wäre gerade die Differenzbildung von größerem heuristischen Nutzen als eine wenig problemorientierte Parallelisierung. Bezüglich der nachantiken Zeit ist das Fehlen einer speziellen Abhandlung aus der Perspektive des Mittelalters zu konstatieren. Dies kann man zwar bedauerlicherweise als den Regelfall entsprechender Studien bezeichnen, aber gerade dem Ansatz des vorliegenden Werkes steht es doch auffallend entgegen.
Hinsichtlich der "Angles of Vision" überzeugen die Beiträge von Peregrine Horden und Nicholas Purcell durch ihre unorthodoxen Themen und Herangehensweisen. Horden bietet aufschlussreiche Einblicke in den zeitlich übergreifenden Umgang mit der Reisekrankheit als Übel und Therapie gleichermaßen. Purcell spricht sich für eine integriertere Betrachtung der antiken Zollbestimmungen aus, die diese nicht nur als Folge bilateraler Abkommen oder als Reaktion auf konkrete Situationen auffasst. [2] Dieser Ansatz könnte sich als fruchtbar erweisen, liegen doch eine Fülle epigrafischer Hinweise auf derartige Bestimmungen vor, die noch nicht in einer Gesamtschau zusammengefasst wurden.
Die Beiträge des dritten Kapitels ("The Archaeology of Knowledge") zur neuzeitlichen Anknüpfung an eine Tradition der klassischen Mittelmeerwelt bzw. zur entsprechenden Konstruktion einer solchen erscheinen methodisch kohärenter als die der vorherigen Kapitel. Christopher Drew Armstrong beschäftigt sich mit dem Auftreten vor allem französischer und britischer "traveller-observer" bzw. "voyageur-philosophe" in der Zeit Ludwigs XV. Dabei thematisiert er unter anderem die außergewöhnlichen Bemühungen einer Vermessung der Mittelmeerwelt. In diesem Zusammenhang ist das in jener Zeit hochbrisante Problem der Bestimmung der geografischen Länge zunächst durch Berechnungen der Monddistanzen und schließlich mithilfe eines exakten und seetauglichen Chronometers von zentraler Bedeutung. Armstrong unterstreicht dabei aber kaum ausreichend, dass die immensen diesbezüglichen Anstrengungen in erster Linie militärischen Interessen entsprangen. Konnte man bei der Erforschung des Klimas oder der griechischen Heiligtümer noch eine gewisse geografische Ungenauigkeit in Kauf nehmen, so galt dies nicht für die im Mittelmeer eng nebeneinander operierenden Seeverbände der Großmächte. Suzanne Saïd setzt sich mit den Griechenlandreisenden des 17. und 18. Jahrhunderts auseinander. Dabei bildet die Entwicklung des Spannungsfeldes zwischen der Vorstellung von den antiken und den zeitgenössischen, orientalisierten Griechen einen wichtigen Punkt. Auch in dieser letztlich auf den Antagonismus zwischen Okzident und Orient hinauslaufenden Frage bleibt der Bezug zum speziell 'Mittelmeerischen' aber unterbelichtet.
Am Ende des Werkes stehen "Last Words", durch die Roger S. Bagnall zunächst auf die Sonderrolle Ägyptens eingeht. Den eigentlichen Abschluss aber bildet eine Response von Horden und Purcell auf die zahlreichen und häufig kritischen Reaktionen auf ihr Werk "The Corrupting Sea". Es mag dahingestellt bleiben, ob ein solcher Band das richtige Forum für eine derartige Entgegnung ist. Die am Ende gebotene Bibliografie (377-405) ist umfangreich und vielsprachig [3], jedoch angesichts der Weitläufigkeit des Gegenstandes und des Verzichtes auf entsprechende Gliederungen in ihrer Nutzbarkeit eingeschränkt. Die Auswahl der im Index aufgeführten Begriffe ist nicht immer nachvollziehbar; so finden sich zwar Konstrukte wie "sex in port cities", nicht aber zentrale Phänomene des Themenkreises, wie etwa "Sea People", obwohl sie angesprochen werden (134).
Resümierend kann festgehalten werden, dass der Band durchweg kompetente und überaus anregende Beiträge bietet; die Entwicklung einer konzisen Leitlinie zum Verständnis einer 'history of the Mediterranean' wird aber auch hier nicht geleistet.
Anmerkungen:
[1] Die "in/of"-Unterscheidung stammt von Peregrine Horden / Nicolas Purcell: The Corrupting Sea: A Study of Mediterranean History, Oxford 2000, 2.
[2] Zu dem Ansatz, die Zollbestimmungen des Attischen Seebundes aus allgemeinerer Sicht und nicht nur im Hinblick auf die Einzelfälle zu betrachten, s. etwa Alexander Rubel: Hellespontophylakes - Zöllner am Bosporos? Überlegungen zur Fiskalpolitik des attischen Seebundes (IG I³ 61), in: Klio 83 (2001), 39-51.
[3] Die Rezeption deutschsprachiger Literatur bleibt nichtsdestoweniger eher schwach ausgeprägt; diesem Manko ist allerdings angesichts einiger jüngerer Beiträge zum hier interessierenden Themenkreis eine gewisse Berechtigung kaum abzusprechen, s. etwa Raimund Schulz: Die Antike und das Meer, Darmstadt 2005. Zukünftig zu berücksichtigen ist Dieter Timpe: Der Mythos vom Mittelmeerraum: Über die Grenzen der alten Welt, in: Chiron 34 (2004), 3-23.
Norbert Kramer