Mathias Beer / Dittmar Dahlmann (Hgg.): Über die trockene Grenze und über das offene Meer. Binneneuropäische und transatlantische Migrationen im 18. und 19. Jahrhundert (= Migration in Geschichte und Gegenwart; Bd. 1), Essen: Klartext 2005, 371 S., ISBN 978-3-89861-365-1, EUR 29,90
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Dank der neueren Migrationsforschung werden Wanderungsbewegungen heute nicht mehr alleine als Ausnahme- und Krisenerscheinungen verstanden, die sich anhand reiner Push-Pull-Modelle erklären lassen. Vielmehr wird Migration als wesentlicher Bestandteil menschlichen Lebens und als Investitionsstrategie einzelner Akteure begriffen. Die Hauptwanderungsströme richteten sich im 18. und 19. Jahrhundert von Mitteleuropa aus entweder in die nähere oder weitere Umgebung, in den Westen nach Übersee oder in östliche Richtung nach Preußen, Russland und die Länder der Habsburgermonarchie. Während die Auswanderung nach Nordamerika mittlerweile recht gut untersucht ist, steht die Forschung über die aus dem deutschen Sprachraum nach Osten gerichtete Migration noch am Anfang. Zudem fand bislang kaum ein Austausch zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern statt, die sich mit den verschiedenen Wanderungsrichtungen beschäftigen. Dem sollte die erste Jahrestagung der Gesellschaft für Historische Migrationsforschung abhelfen, die bereits im März 2000 stattfand und aus der der besprochene Sammelband hervorging.
Der zeitliche Schwerpunkt des Bandes liegt im 18. Jahrhundert, berührt werden jedoch auch das 17. und 19. Jahrhundert. Entsprechend der im einführenden Beitrag von Jan Lucassen und Leo Lucassen geforderten vergleichenden Untersuchung verschiedener Wanderungsphänomene [1] finden sich Aufsätze zu Formen freier und unfreier Migration, zu Arbeitsmigranten und Flüchtlingen sowie zu erwünschten und unerwünschten, erfolgreichen und erfolglosen Zuwanderern. Sowohl die Wanderung an sich als auch Integrationsprozesse in den Aufnahmegesellschaften werden in den Blick genommen.
Die Sektion "Über die trockne Grenze" thematisiert Wanderungen mit religiös-konfessionellem Hintergrund (Salzburger Emigranten, polnische Juden, Herrnhuter und Mennoniten), die Mobilität von Gelehrten und Militärangehörigen sowie den Einfluss dynastischer Verbindungen auf die Migration.
Mehrere Beiträge betonen die Bedeutung von Netzwerken oder Patronage- und Klientelbeziehungen. Diese beeinflussten die militärische Mobilität in der Zeit vor der Bildung stehender Heere Ende des 17. Jahrhunderts, wie Bernhard R. Kroener darlegt. Verursacht oder begünstigt wurde die Entscheidung zum Wechsel von Dienstverhältnissen und damit zur Migration durch die Truppenreduktionen am Ende von Kriegen und durch Karrierestreben. Dittmar Dahlmann zeigt, wie akademische Netzwerke sowie attraktive Gehälter und Arbeitsbedingungen, gepaart mit schlechten Berufsaussichten für junge Wissenschaftler an westeuropäischen Universitäten, deutschsprachige Gelehrte motivierten, eine Tätigkeit an der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg anzunehmen. Die Akademie blieb lange Zeit in der Hand von Ausländern, was eine Akkulturation an das Gastland nicht beförderte. Von den untersuchten 40 Personen blieben nur acht dauerhaft in Russland. Auch aus dem evangelischen Franken, das nicht zu den großen deutschen Wissenschaftszentren gehörte, migrierten Wissenschaftler nach Russland, wie Hermann Beyer-Thoma deutlich macht. Es entwickelten sich hier eigene Gelehrtennetzwerke, die Kontakte nach St. Petersburg und später zu verschiedenen russischen Hochschulen knüpften. Die badische Migration nach Russland betraf neben Wissenschaftlern auch Künstler, Kunsthandwerker und Angehörige ländlicher Unterschichten. Positiv auf deren Wanderungen wirkten sich nach Ralph Tuchtenhagen die dynastischen Verbindungen des Hauses Baden zur russischen Zarenfamilie aus.
Mit - zumindest teilweise - religiös bzw. konfessionell bedingter Migration befassen sich drei Beiträge. Charlotte E. Haver liefert eine Skizze der Geschichte der Salzburger Emigranten, angefangen von der Ausweisung der Protestanten aus dem katholischen Fürstbistum Salzburg 1731/32, über deren Wanderung durch das Reich, bis hin zu der Ansiedlung durch Friedrich Wilhelm I. in Preußisch-Litauen. Im Gegensatz zu den Salzburgern waren die Herrnhuter, die in den 1760er Jahren nach Sarepta an der Wolga auswanderten, von direkter Vertreibung ebenso wenig betroffen wie die Mennoniten, die sich seit den 1780er Jahren in Chortica am Dnepr niederließen. Andreas Gestrich und Rainer Lächele untersuchen in einem Vergleich, inwiefern deren Berufsstrukturen (Handwerk oder Landwirtschaft), die Ausformung des religiösen und gemeinschaftlichen Lebens (z. B. nichtfamiliale oder familiale Struktur), die politische Ordnung und die Intensität der Kontakte zu den Gemeinden am Herkunftsort Auswirkungen auf die Entwicklung der beiden religiösen Kolonien nahmen. Es geht dabei ebenso um Fragen der Einbindung in die neue Umwelt wie um interne Konflikte. Anke Hilbrenner beschäftigt sich mit den Wanderungen von Juden infolge der Teilungen Polens.
Im folgenden Teil des Buches ("Binnenmigration") untersucht Mark Häberlein die Migrationserfahrungen und Karrieremöglichkeiten von unfreien Dienstmägden und -knechten im Lancaster des 18. Jahrhunderts anhand von Selbstzeugnissen und Kirchenbüchern. In Abgrenzung zu Sharon Salinger kommt er zu dem Ergebnis, dass ehemalige "indentured servants" durchaus Aufstiegschancen hatten und es zu Landbesitz und eigenen Gewerbebetrieben bringen konnten. Dabei waren nicht nur strukturelle Verhältnisse, sondern vor allem individuelle Fähigkeiten und Kontaktnetze von erheblicher Bedeutung.
Zwei Beiträge befassen sich mit Österreich im 18. und 19. Jahrhundert und lassen sich in die Thematik der Bildung und Bedeutung von Zentren sowie der Veränderung von Grenzen einordnen. Andrea Komlosy analysiert dies am Beispiel der österreichischen und böhmischen Länder. Andrea Steidl geht auf den "Einzugsraum von Lehrlingen und Lehrmädchen" in ausgewählten Wiener Gewerben ein. Sie zeigt, dass Migrationsverbindungen zwischen Wien und mehr oder weniger weit entfernten Regionen je nach Handwerk unterschiedlich bedingt und eng sein konnten. Eine Rolle spielten neben strukturellen Einflüssen persönliche Beziehungen zwischen Menschen in den Herkunftsgebieten und bereits in Wien ansässigen Meistern oder anderen Personen, ebenso Handelsverbindungen sowie berufliche Spezialisierungsprozesse in bestimmten Regionen. Sie können durch die in großer Zahl aus Graubünden und dem Tessin zugewanderten Rauchfangkehrerlehrlinge veranschaulicht werden.
Birgit Mänhardt beschäftigt sich am Beispiel Sophie von La Roches mit reisenden Frauen und weiblicher Reiseliteratur.
Die vier letzten Aufsätze des Bandes sind mit "... und über das offene Meer" überschrieben. Von gescheiterten Auswanderungsvorhaben erzählt der Beitrag von Margit Schulte Beerbühl. Ursprüngliches Ziel der rund 15.000 Deutschen, die 1709 vor allem aus der Pfalz nach Großbritannien kamen, war das Erreichen der nordamerikanischen Kolonien. Die Weiterleitung der Migranten wurde jedoch von britischer Seite abgelehnt, Hilfsprogramme scheiterten u. a. an der Dichte der Zuwanderung. Im Gegensatz zu der vorangegangenen Migration der Hugenotten gelang die Integration der überwiegend aus den Unterschichten stammenden Pfälzer in Großbritannien nicht. Sie kehrten größtenteils wieder in ihre Heimat zurück.
Bekannte Thesen und Forschungsergebnisse stellen die Beiträge vor, die sich mit der Auswanderung nach Amerika beschäftigen. Pieter C. Emmer behandelt das Thema freier und unfreier Migration. Er geht auf den afrikanischen Sklavenhandel wie auf die nach dessen Abschaffung in die Neue Welt kommenden asiatischen Kontraktarbeiter ein. Nicht uneingeschränkt nachzuvollziehen ist die von Emmer propagierte Einebnung der Abgrenzung von europäischer Migration auf der einen und afrikanischer und asiatischer auf der anderen Seite. Angesichts der aktuellen Lage der schwarzen Unterschicht in den Vereinigten Staaten erscheint der Hinweis, die afrikanischen Sklaven hätten auf lange Sicht ihre Lebensbedingungen verbessert und "die Nachkommen der europäischen, afrikanischen und asiatischen Auswanderer" würden heute "durchschnittlich mehr als ihre in der Heimat zurückgebliebenen Landsleute" verdienen, wenig hilfreich (301). Elke Jahnke geht anhand von Auswandererbriefen aus dem 19. Jahrhundert auf Frauenbilder und innerfamiliäre Rollenzuweisungen ein. Deutsche Einwanderer tradierten aus der Heimat bekannte Beziehungsmuster zwischen den Generationen und Geschlechtern. Diese Muster waren durch eine patriarchale, autoritäre Grundstruktur gekennzeichnet. Dass die Frauen dennoch wichtige Funktionen bei der Sicherung der ökonomischen Versorgung übernahmen, steht dem nicht entgegen. Den Band beschließt ein handbuchartiger Beitrag von Horst Rössler zur deutschen Auswanderung nach Übersee.
Abgesehen von eher zweitrangigen Kritikpunkten bezüglich der Gliederung (die Bildung von Sektionen ist zwar zu begrüßen, die Zuordnung der Aufsätze erschließt sich jedoch nicht in jedem Fall) und des Lektorats (einzelne Tippfehler, im Anmerkungsapparat wären Verweise auf die Nummer der Erstnennung von Literaturhinweisen hilfreich gewesen) beeinträchtigt die Qualität des Bandes vor allem das Fehlen einer ausführlichen, die Ergebnisse der Einzelaufsätze übergreifend analysierenden Einleitung. Der einführende Aufsatz von Jan Lucassen und Leo Lucassen leistet keinen ausreichenden Ersatz. Zumindest einige Sätze hätte man sich auf den Hinweis der Herausgeber, es seien auf der dem Band zugrunde liegenden Tagung durch die "vergleichende Perspektive [...] die Spezifika der beiden Wanderungsvorgänge verdeutlicht und zugleich die durchaus vorhandenen Gemeinsamkeiten offengelegt" worden, schon gewünscht (9). Dennoch handelt es sich um ein lesenswertes Buch, dessen Einzelbeiträge einen Einblick in die Vielfalt frühneuzeitlicher Migrationsprozesse geben.
Anmerkung:
[1] Es handelt sich dabei um eine Bearbeitung der Einleitung zum Sammelband Jan Lucassen / Leo Lucassen (Hg.): Migration, migration history, history. Old paradigms and new perspectives, Bern 1997, 9-38.
Irmgard Schwanke