Rezension über:

Simone Moses: Alt und krank. Ältere Patienten in der Medizinischen Klinik der Universität Tübingen zur Zeit der Entstehung der Geriatrie 1880 bis 1914 (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung; Beiheft 24), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, 277 S., ISBN 978-3-515-08654-7, EUR 36,00
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Rezension von:
Daniel Schäfer
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Florian Steger
Empfohlene Zitierweise:
Daniel Schäfer: Rezension von: Simone Moses: Alt und krank. Ältere Patienten in der Medizinischen Klinik der Universität Tübingen zur Zeit der Entstehung der Geriatrie 1880 bis 1914, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 12 [15.12.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/12/8912.html


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Simone Moses: Alt und krank

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Studien zur Frühzeit der Geriatrie sind immer noch selten. Zwar gibt es, angestoßen beispielsweise durch die Arbeiten von Christoph Conrad, Joseph Ehmer, Gerd Göckenjan, Hans-Joachim von Kondratowitz, Peter N. Stearns und Pat Thane, inzwischen zahlreiche sozialgeschichtliche Untersuchungen zu Veränderungen des "Altersdiskurses", besonders für die letzten zwei Jahrhunderte, und einige neuere Studien, etwa von Susannah Ottaway [1] oder Kenan Irmak [2], gehen speziell auf institutionelle und / oder medizinische Aspekte ein. Doch sind ältere medizinhistorische Studien von Mirko D. Grmek, Paul Lüth oder Joseph T. Freeman, die hauptsächlich von normativen Texten ausgehend eine mehr oder weniger positivistische Disziplingeschichte entwarfen, bis heute nicht suffizient um sozialhistorische Perspektiven ergänzt worden.

Vor diesem Hintergrund ist die historische Dissertation von Simone Moses, die unter Anleitung von Robert Jütte entstand, ein willkommener Baustein zu diesem Vorhaben. Moses bietet eine lokalgeschichtliche Studie, deren Ergebnisse wegen der Quellenwahl für den Bereich der klinischen Versorgung älterer Patienten durchaus verallgemeinert werden können. Patientenakten fanden als Massenquelle bisher wenig Beachtung von Archiven und deren Trägern; dementsprechend ist ihre Überlieferung für die Zeit vor 1900, selbst vor dem Zweiten Weltkrieg ausgesprochen selten. In der Forschung wurden bislang hauptsächlich psychiatrische Akten näher betrachtet, die als Dokumentation "sprechender" Medizin viele soziale Aspekte behandeln und für Themen wie Ausgrenzung oder "Euthanasie" besonders interessant sind [3]; einzelne Studien widmeten sich auch gynäkologischen Akten [4] oder Sektionsprotokollen. [5] Der Ansatz, allgemeinmedizinische Patientenakten gezielt auf die Gruppe der älteren Patienten hin zu untersuchen, ist neu und - nicht zuletzt aus Gründen statistisch fundierter Reliabilität - viel versprechend.

Die Arbeit gliedert sich (abgesehen von Einleitung und Resümee) in vier Hauptteile:

1. Eine Einführung in den Fachdiskurs der Altersmedizin, der im 19. Jahrhundert beispielsweise bei den Diagnosen "Altersschwäche" oder "Alterstod" einen wichtigen Wandel erfuhr, auch wenn die Entwicklung und Institutionalisierung einer den sozialen Fragen offen stehenden Geriatrie (diese Begriffsbildung erfolgte erst 1909!) für den Untersuchungszeitraum noch keine Rolle spielte. Moses wertet zur Dokumentation der fachwissenschaftlichen Diskussion unter anderem einige wesentliche deutschsprachige Zeitschriften der Medizin aus, die deutlich machen, dass das Interesse an altersmedizinischen Fragestellungen zwar tendenziell zunahm, sich aber dennoch gegenüber anderen Themen der Medizin bescheiden ausnahm und keine einheitliche Stoßrichtung erkennen lässt.

2. Hospitalgeschichtliche, soziale und demografische Rahmenbedingungen einschließlich ihrer drastischen Veränderungen um 1900, vor deren Hintergrund die Gruppe der älteren Patienten (ab 55 Jahre) nach Geschlecht, Familienstand, Beruf, Religionszugehörigkeit sowie Entfernung zum Heimatort in quantitativen Vergleichen zwischen den einzelnen Jahrgängen und zu der Gruppe der Jüngeren recht genau charakterisiert wird.

3. "Behandlung" von älteren Patienten in der Tübinger Klinik, im Sinne einer Analyse des Arzt-Patient-Verhältnisses, der diagnostischen Maßnahmen sowie der somatischen und "psychologischen" Therapie. Über die Art der Finanzierung des Klinikaufenthaltes, die Rückschlüsse auf die Klientel erlaubt, versucht Moses, auf das Ansehen der Klinik in der Bevölkerung Rückschlüsse zu ziehen.

4. "Einstellung" älterer Patienten zur Medizin im Sinne einer aus den Akten teilweise zu rekonstruierenden Patientengeschichte, die die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung über den früheren und aktuellen Gesundheitszustand deutlich macht. Letzterer kommt im Krankheitsspektrum, unter dem alte Menschen litten, und in ihrer Multimorbidität zum Ausdruck. Auch die Aufenthaltsdauer geht in diese Beurteilung ein: Einer Mehrzahl von Patienten, die eher spät ins Krankenhaus ging, stehen die Gruppen von zu begutachtenden "Rentenfällen" und von "Nervösen" bzw. "Hysterischen" gegenüber, die aufgrund der guten Betreuung gerne und wiederholt kamen und lange blieben. Den sporadischen Hinweisen auf Selbstmedikation steht eine Fülle von ärztlichen Maßnahmen während und nach dem Krankenhausaufenthalt gegenüber.

Simone Moses gelingt es, mithilfe dieser Gliederung in angemessener Weise, die spröden Akten nicht nur quantitativ auszuwerten, sondern im Einzelfall auch "sprechen" zu lassen und auf diese Weise anhand einzelner faszinierender Schicksale typische Verläufe eines Klinikaufenthaltes älterer Patienten darzustellen. Dass verschiedene sozialhistorische Fragestellungen - z. B. die nach einer "Positionsveränderung im medizinischen Umgang mit dem Alter" (59) - aufgrund der gewählten Quelle nur indirekt, viel eher aber mithilfe der (fast zu) reichlich zitierten Sekundärliteratur beantwortet werden, ist weniger der Autorin als dem wissenschaftlichen Diskurs anzulasten.

Das Eingeständnis der Autorin in ihrem Resümee, dass "die Frage, ob die Medizin und das Gesundheitswesen soziale Strukturen verändern können, [...] in der vorliegenden Arbeit nur in Ansätzen beantwortet werden" konnte (237), ist vor diesem Hintergrund nur zu begrüßen, denn es offenbart einen ehrlichen Umgang mit den Quellen, die einen faszinierenden Einblick in den Klinikalltag geben, aber relativ wenig theoretische Aspekte des sozialen Wandels belegen - zu heterogen und von unterschiedlichen Variablen abhängig ist die untersuchte Gruppe. Trotz verhältnismäßig umfangreicher Patientenzahlen (20-50 Ältere pro Jahr in den 1880er-Jahren, 100-350 nach 1900) ist die statistische Aussagekraft bei der Analyse von Untergruppen oder mehreren kombinierten Merkmalen stark eingeschränkt. Umso wichtiger ist es, dass die Autorin neben den Balkendiagrammen (mit auf zwei Stellen hinter dem Komma genauen Prozentangaben!) fast immer auch Tabellen mit absoluten Zahlen zur Verfügung stellt, die die Bedeutung der scheinbar eindeutigen grafischen Darstellungen relativieren - leider wird im Text auf die statistischen Probleme, die für die Untersuchung einen zentralen Stellenwert besitzen, nicht eingegangen.

An einigen Stellen wirkt die (oft aus der Sekundärliteratur übernommene) Argumentation unscharf, beispielsweise bei der Frage nach der Bewertung der "Krankheit Alter": Einerseits gibt die Autorin völlig richtig an, dass dieses historische Konzept, das angeblich ärztliches Desinteresse am höheren Lebensalter begründet habe (auch das Gegenteil könnte der Fall sein, wie ein Blick ins 18. Jahrhundert lehrt [6]), im 19. Jahrhundert deutlich an Bedeutung verlor (32, 39, 50, 55); andererseits suggeriert die Autorin bei ihrem Exkurs zur gesellschaftlichen Stellung alter Menschen, dass zur gleichen Zeit "Altsein nicht mehr als natürliches Phänomen betrachtet, sondern mit Krankheit gleichgesetzt wurde" (235), um auf diese Weise über die Medikalisierung des Alters den Einfluss der Medizin auf die soziale Ausgrenzung des Alters zu begründen.

Jede wissenschaftliche Arbeit hat ihren Fokus, der bestimmte Sichtweisen auf ein Thema bewusst oder unbewusst ausblendet. Deshalb ist nicht zu kritisieren, dass institutionelle und personelle Faktoren der Tübinger Klinik um 1900 nicht ausführlich dargestellt werden. Dass diese Faktoren bei einer lokalgeschichtlichen Untersuchung aber so gut wie überhaupt nicht erwähnt werden, ist bedauerlich, denn es ist hochwahrscheinlich, dass kardiologisch profilierte Internisten wie Ernst von Romberg - 1904-12 in Tübingen tätig, im Text nur en passant (149, 170) erwähnt - auch auf die Krankenbehandlung älterer Patienten und auf das Image der Tübinger Klinik (nach dem im Abschnitt 4.2. ausdrücklich gefragt wird) großen Einfluss hatten. Interessant wäre es auch unter sozialhistorischen Gesichtspunkten gewesen, etwas mehr über den Pflegeschlüssel (63), die Größe der Krankensäle, die Unterbringung und Kostverpflegung bei den verschiedenen Klassen und über Autopsieergebnisse (137) zu erfahren, und wahrscheinlich würden andere archivalische Quellen dazu etwas beitragen können.

Insgesamt überwiegt jedoch der Eindruck einer sehr soliden und nicht zuletzt durch ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie Personen-, Orts- und Sachregister gut erschlossenen Studie, deren verdienstvoller Pioniercharakter abschließend nochmals hervorgehoben werden soll.


Anmerkungen:

[1] Susannah R. Ottaway: The decline of life. Old age in eighteenth-century England, Cambridge 2004.

[2] Kenan H. Irmak: Der Sieche. Alte Menschen und die stationäre Altenhilfe in Deutschland 1924-1961 (= Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe A: Darstellungen; Bd. 20), Essen 2002.

[3] Dorothee Roer / Dieter Henkel (Hg.): Psychiatrie im Faschismus. Die Anstalt Hadamar 1933-1945, Frankfurt a. M. 1996.

[4] Daniel Schäfer / Peter Mallmann: Gynäkologischer Alltag im "Dritten Reich": Das Beispiel der Kölner Universitätsfrauenklinik, in: Geburtshilfe und Frauenheilkunde 65 (2005), 862-867.

[5] Bärbel Grasenack: Die Sektionsprotokolle des Pathologischen Instituts der Universität Leipzig unter dem Direktorat von Julius Cohnheim, Diss. med. Leipzig 1991.

[6] Daniel Schäfer: Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit. Der ärztliche Blick auf die letzte Lebensphase, Frankfurt a. M. 2004, 365-385.

Daniel Schäfer