Rezension über:

Ellen-Charlotte Sellier-Bauer: Friedrich Christoph Schlosser. Ein deutsches Gelehrtenleben im 19. Jahrhundert, Göttingen: V&R unipress 2005, 235 S., ISBN 978-3-89971-175-2, EUR 28,90
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Rezension von:
Marc Schalenberg
Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Marc Schalenberg: Rezension von: Ellen-Charlotte Sellier-Bauer: Friedrich Christoph Schlosser. Ein deutsches Gelehrtenleben im 19. Jahrhundert, Göttingen: V&R unipress 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 1 [15.01.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/01/8228.html


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Ellen-Charlotte Sellier-Bauer: Friedrich Christoph Schlosser

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Gelehrtenleben müssen nicht langweilig sein. Im Zuge der seit einiger Zeit spürbaren Nachfrage nach Biografien und ihrer Rehabilitierung innerhalb der Geschichtswissenschaft erfuhr so mancher Forscher und Wissenschaftler eine erhellende Aufarbeitung. Anliegen der vorliegenden Studie ist es, den zeitgenössisch hoch geachteten, freilich streitbaren und nicht immer umgänglichen Heidelberger Historiker Friedrich Christoph Schlosser (1776-1861) "wieder ins Bewußtsein zu heben" (13). Ihre Vorarbeiten dazu scheint Ellen-Charlotte Sellier-Bauer weithin außerhalb des universitären Betriebs mit seinen Kolloquien, Tagungen, Sonderforschungsbereichen etc. betrieben zu haben. So liegen die Stärken dieser Monografie auch weniger in der Applikation bestehender Forschungsfragen oder theoretischer Ansätze als vielmehr in der Erschließung und biografischen Einordnung verfügbaren Materials zu Schlosser. Dies ist schon deshalb eine anspruchsvolle Aufgabe, weil der Protagonist der Darstellung seinen Nachlass gezielt vernichtet hat und die "Selbstbiographie" des auf seine Privatheit bedachten Gelehrten von 1826 sich oft mit Andeutungen oder Verklausulierungen begnügt. So bleiben, neben seinen eigenen Publikationen und den zeitgenössischen bzw. erinnernden Beschreibungen seiner Person, vor allem die Briefe an ihm wichtige Korrespondenten als Quelle. Insgesamt legt die Autorin in ihrer Darstellung mehr Gewicht auf den Menschen Schlosser - in seiner emotionalen Entwicklung und als paradigmatischen Vertreter des norddeutschen Bildungsbürgertums - als auf die Werke des Historikers.

Die chronologisch angelegte Narration des Lebensverlaufs ist ebenso um Ausgewogenheit bemüht wie um Einfühlung in einen nach außen hin oft schroffen Charakter. Aus den bescheidenen und familiär zerrissenen Verhältnissen, unter denen er in der friesischen Kleinstadt Jever aufwuchs, schien Schlosser ein kaum zu stillender Bildungshunger einen materiellen wie ideellen Ausweg zu bieten. Seine Geradlinigkeit und extreme Sparsamkeit, auch Abneigung gegen Geselligkeit und Höflichkeit um ihrer selbst willen, ließen ihn zeitlebens Zuflucht bei seinen Studien suchen und mehrheitlich finden. Selbst die Zelebritäten der Universität Göttingen, wo Schlosser zwischen 1795 und 1797 studierte, imponierten ihm höchstens durch fachliche Kenntnisse, nicht durch ihren "aristokratischen" Habitus. Sellier-Bauer stellt diese dezidiert bürgerlich-meritokratische, allem falschen Schein abholde, in ihren moralischen Implikationen oft rigorose Grundhaltung immer wieder als vorwaltenden Charakterzug des Historikers heraus, der sich nach Abschluss seines Studiums gut ein Jahrzehnt lang als Hauslehrer, als Verwalter einer Pfarrstelle und - während der napoleonischen Zeit - schließlich als Konrektor an der Provinzialschule in seiner Heimatstadt durchschlagen musste.

Prägend für seine persönliche Entwicklung war jedoch die Schlosser durch frühere Kommilitonen vermittelte Tätigkeit als Erzieher der Kinder des vermögenden Frankfurter Kaufmanns Georg Meyer (1800-1807). Sie ließ ihm zum einen Zeit für eigene Forschungen, die unter anderem in seine später in Gießen als Dissertation eingereichte Schrift "Abälard und Dulcin" einmündeten; zum anderen erlebte er, dass selbst ein sich so unbedingt der Gelehrsamkeit verschreibender Charakter wie er nicht vor Amors Pfeilen geschützt war. Freilich sollte das mehr indirekte Werben um die ihm als Schülerin anvertraute, ungleich lebensfrohere Catharina Auguste Meyer erfolglos bleiben. Die von der Autorin ausführlich und auf der Grundlage der unpublizierten Briefe Schlossers an Auguste beschriebenen Gegensätze, die in diesen beiden auch weiterhin brieflich in Kontakt bleibenden Persönlichkeiten aufschienen (Mann / Frau, Bildungs- / Besitzbürgertum, Reichs- / Kleinstadt, Nord- / Südwestdeutschland) hätten durchaus noch weiter kontextualisiert werden können. Auch eine stärkere Problematisierung der Rhetorik bzw. Topik der zeitgenössischen Kommunikation, zumal der Briefliteratur, wäre nützlich gewesen. Die inneren Kämpfe Schlossers bei Aufrechterhaltung der äußeren Respektabilität werden freilich auch so plastisch vorgeführt. Mit seiner Berufung an die Universität Heidelberg, an der er seit 1817 bis ins hohe Alter als Professor wirkte, zum Ehrendoktor und Ehrenbürger der Stadt ernannt, setzte eine Phase öffentlicher Wirksamkeit ein, die der seinem rigorosen Arbeitsethos treu bleibende Schlosser teils goutierte, teils aber auch als Belastung empfand.

Persönliche Kontakte innerhalb und außerhalb Heidelbergs werden ebenso erwähnt wie Studienreisen Schlossers, doch unterbleibt ein Blick in seine "Werkstatt", insbesondere auch im Hinblick auf die in einem früheren Kapitel ("Schlossers Bedeutung als Geschichtsschreiber", 21-38) angedeutete zunehmende Unzeitgemäßheit der von ihm betriebenen "Aufklärungshistorie" gegenüber einem sich seit Ranke durchsetzenden Historismus. Auch seine politischen und sozialen Prioritäten werden eher unscharf konturiert. Dagegen kommen sein Privatleben, die von dem Junggesellen ausgesprochenen Einladungen an Studenten in sein nunmehr stattliches eigenes Haus in Heidelberg, seine späte Heirat und die Annahme von Pflegetöchtern, sein Umgang mit der Großherzogin Stephanie von Baden, ihrerseits Adoptivtochter Napoleons, ausführlicher zum Zuge.

Das alles ist verständlich, mit Empathie und nicht ohne heimatkundliche Begeisterung erzählt, doch bleibt die Frage, welche Forschungen an eine so angelegte Biografie anknüpfen könnten. Für eine primär an institutionellen oder fachübergreifenden Kontexten interessierte Wissenschaftsgeschichte trifft dies kaum zu, auch nicht für eine an Theoremen oder Inhalten orientierte Historiografiegeschichte. Die von der Autorin selber eher vage angeführte "Bürgertumsforschung" (13) und "die neuere mentalitätshistorische Forschung" (14) sind sicher alles andere als flächendeckend in die Arbeit eingeflossen - im Wesentlichen wird auf Wehlers "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" und auf Michael Maurers "Die Biographie des Bürgers" rekurriert. Ralf Roths einschlägige Arbeit zu Frankfurt am Main (1996), deren Untersuchungszeitraum in der Zitatangabe irrtümlich um ein Jahrhundert verkürzt wird (133, Fußnote 176), fand wie manch anderer Titel nicht den Weg in das Literaturverzeichnis, das dafür Werke wie den Großen Brockhaus, das dtv-Lexikon und Dantes "Göttliche Komödie" aufführt und mit rund vier Seiten ohnehin etwas spärlich ausfällt.

Leider machen die technischen Mängel des Buches hierbei nicht halt. Etliche Druckfehler (allein drei in der vorangestellten 1,5-seitigen Datenliste), Wortwiederholungen, unplausible Trennungen, orthografische und grammatikalische Unstimmigkeiten weisen auf ein bestenfalls nachlässiges Lektorat hin. Mindestens ebenso hilfreich wie die beiden Familientafeln zu Schlosser und seiner im Alter von 50 Jahren geheirateten Frau wäre ein Index gewesen, und die offenbar eingescannten Abbildungen erhärten den Eindruck, dass der Verlag die Arbeit als "Budget-Publikation" betrachtet hat. Die Recherche-, gerade auch Transkriptionsmühen der Verfasserin sollen nicht kleingeredet werden; auch vermag sie am Beispiel eines mitunter kauzigen und introvertierten deutschen Professors aufschlussreiche Details bildungsbürgerlicher Lebensführung im frühen 19. Jahrhundert mit ihren Konventionen, Werthaltungen und (angenommenen) Pflichten zu präsentieren. Eine stärkere Einbeziehung von Schlossers Werken und vor allem der bestehenden Forschungsliteratur zu Bürgertum und Bürgerlichkeit während der "Sattelzeit" hätten der Studie aber fraglos zusätzliche Tiefenschärfe und Spannung verliehen.

Marc Schalenberg