Rezension über:

Dietmar Albrecht / Martin Thoemmes (Hgg.): Mare Balticum. Begegnungen zu Heimat, Geschichte, Kultur an der Ostsee (= Colloquia Baltica; Bd. 1), München: Martin Meidenbauer 2005, 184 S., ISBN 978-3-89975-510-7, EUR 19,90
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Rezension von:
Hans-Jürgen Bömelburg
Nordost-Institut, Lüneburg
Redaktionelle Betreuung:
Winfried Irgang
Empfohlene Zitierweise:
Hans-Jürgen Bömelburg: Rezension von: Dietmar Albrecht / Martin Thoemmes (Hgg.): Mare Balticum. Begegnungen zu Heimat, Geschichte, Kultur an der Ostsee, München: Martin Meidenbauer 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 2 [15.02.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/02/10368.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Dietmar Albrecht / Martin Thoemmes (Hgg.): Mare Balticum

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Mit dem vorzustellenden Band wird die neue Reihe der Academia Baltica eingeleitet, mit der das Lübecker Zentrum nach der Trennung von der Landsmannschaft Pommern an die älteren Veröffentlichungen der Ostseeakademie anknüpft. Angemerkt sei, dass zuvor bereits Band 2 (Unverschmerzt. Johannes Bobrowski - Leben und Werk, 2004) erschien und auch in Zukunft jährlich zwei bis drei Bände vorgelegt werden sollen, mit der die Academia Baltica zur Beziehungsgeschichte "zwischen Deutschen und den Völkern Ostmitteleuropas und des Ostseeraumes" beitragen möchte. Geplant sind "Arbeiten über die Beziehungen von Deutschland und Polen, Finnland, Litauen, Estland und Lettland, aber auch Russland, der Ukraine, Tschechien und der Slowakei". Es wird abzuwarten sein, wie dieses mit einem relativ günstigen Bezugspreis an ein breites Publikum adressierte, aber unspezifische Profil gefüllt werden wird. Der vorliegende Band bietet Beiträge aus drei Themenkreisen und eine Ausleitung, die jeweils aus Veranstaltungen der Academie Baltica der letzten Jahre hervorgegangen sind.

Themenkreis I vereint unter dem Titel "Zukunft der Erinnerung" einen kulturkritischen Essay zum deutschen Heimatbegriff und eine Skizze zur literarischen Reichweite der Kulturlandschaft Ostsee. Der Publizist Martin Thoemmes beschreibt auf einer Höhenwanderung mit den Begleitern Heidegger, Kästner, Benn, Jean Améry und Trakl literarische Stellungnahmen zum deutschen Heimatdiskurs. Anschließend skizziert Dietmar Albrecht Perspektiven der Kulturlandschaft Ostsee zum Thema "Migration und Erinnerung": Zu Wort kommen der Thomas Mann des Josephsromans, Günter Grass' kaschubische kleine Heimat, Jaan Kross und Hella Wuolijoki mit ihrem estnischen Lied vom Weggehen und Wiederkommen im Krieg, die schwedische Auswanderung in die "neue Welt" (Vilhelm Moberg), am dänischen und norwegischen Beispiel Asyl, Kollaboration und Abrechnungen nach dem Zweiten Weltkrieg sowie Erinnern und Vergessen anhand des (deutschen) literarischen Kurland-Diskurses. Eine multiperspektivische Vergegenwärtigung der Nachbarschaft in Zeit und Raum ist laut Albrecht das Ziel dieser Skizze. Beide Beiträge stehen in einer gewissen Spannung zueinander: Literarischer deutscher Höhendiskurs oder gleichberechtigte multinationale Erinnerung, so könnte man zuspitzen.

Exemplifiziert wird dieses Spannungsfeld im Themenkreis II "Baltische Begegnungen" mit zwei Essays zu Eduard von Keyserlings baltischen Adelsporträts und zur Wiedervergegenwärtigung bzw. Neuentdeckung der estnischen Erinnerung bei Jaan Kross. Nebeneinander stehen hier die deutschbaltischen "abendlichen Häuser" Keyserlings und die multiperspektivische, estnisch-deutschbaltische Welt des historischen Estlands, die Kross in seinen Romanen entwirft.

Aus geschichtswissenschaftlichem Blickwinkel findet sich das Spannungsfeld multiperspektivischen Erinnerns unter der Überschrift "Deutsch-polnisch-litauische Begegnung" in vier Beiträgen zu dem transnationalen Erinnerungsort Tannenberg - Grunwald - Žalgiris und den damit verbundenen Geschichtsbildern: Teilweise auf der Basis der schwer zugänglichen polnisch- und litauischsprachigen Literatur sowie von Archivalien werden die ostpreußisch-deutsche Erinnerungskonstruktion zwischen 1918 und 1939 (Andreas Kossert), litauische Žalgiris-Vorstellungen (Alvydas Nikžentaitis) sowie die volkspolnischen Geschichtsbilder nach 1945 (Robert Traba) beschrieben, die in Alexander Fords monumentaler Verfilmung der "Kreuzritter" gipfelten (hierzu Lars Jockheck in einem geringfügig veränderten Wiederabdruck eines Artikels in ZfO 51/2002 [1]). Die Zusammenstellung ist insgesamt ausgesprochen gelungen - misslich nur, dass nirgendwo auf neue weiterführende Darstellungen, etwa die Arbeiten von Jürgen Tietz und Tomasz Torbus, Bezug genommen wird.

Am Schluss des Essaybandes steht eine Vorstellung zweier Erinnerungsprojekte zum gemeinsamen deutsch-polnischen Gedenken an den Zweiten Weltkrieg: der Aufführung von Mozarts Requiem durch jeweils gemischte deutsch-polnische Orchester und Chöre in Berlin und Warschau sowie eine Berliner Ausstellung, in der die Werke des Malers und Dichters Roger Loewig aus den Jahren 1961-1972 zur Erinnerung an die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte im Zweiten Weltkrieg präsentiert wurden. Beide Projekte stellen Beispiele eines Erinnerns über nationale und sprachliche Grenzen hinweg dar, machen aber auch die Fragilität solcher Unternehmungen deutlich.

Insgesamt vereint der Band eine Reihe von lesenswerten und stilistisch abwechslungsreich gestalteten Beiträgen zu den Problemen eines gemeinsamen, Literatur, Kultur und Geschichte integrierenden multiperspektivischen Erinnerns im Ostseeraum. Eine Leerstelle sei benannt: Es fehlen Hinweise auf die Dilemmata einer multiperspektivischen Erinnerung angesichts einer asymmetrischen Kulturgeschichte, die zumindest im baltischen Raum weitgehend eine Geschichte der deutsch geprägten und in deutscher Sprache aufgezeichneten Vergangenheit ist. Sicher kann ein genialer Interpret wie Kross diese Konstruktionen multiperspektivisch einholen und auflösen, doch hebt dies die Asymmetrie kulturgeschichtlichen Erinnerns nur einmalig, nicht aber auf Dauer auf. Diskutiert werde sollte deshalb, ob - und wenn ja wie - es möglich ist, die Kluft zwischen der deutschen Erinnerung, die sich "von Amsterdam bis Narva und von Krain bis Bergen zu Hause" fühlen kann (Kross), und der nur spärlich überlieferten Erinnerung der baltischen Nationen zu überbrücken. Solche möglichen Fallen eines "postkolonialen Erinnerns" schmälern aber nicht das Lesevergnügen und die Leistung des vorliegenden Bandes.


Anmerkung:

[1] Lars Jockheck: Ein Nationalmythos in "Eastman Color". Die Schlacht bei Tannenberg 1410 im polnischen Monumentalfilm "Krzyżacy" von Aleksander Ford, in: ZfO 51 (2002), 216-252.

Hans-Jürgen Bömelburg