Rezension über:

Ulrike Lindner: Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit. Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich (= Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London; Bd. 57), München: Oldenbourg 2004, 581 S., ISBN 978-3-486-20014-0, EUR 64,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Wolfgang Woelk
Institut für Geschichte der Medizin, Heinrich Heine-Universität, Düsseldorf
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Woelk: Rezension von: Ulrike Lindner: Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit. Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, München: Oldenbourg 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 2 [15.02.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/02/7563.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Ulrike Lindner: Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit

Textgröße: A A A

Dass die heutige Gesundheitspolitik in Deutschland in einem besonderen Maße von Entwicklungen beeinflusst wird, die sich seit der Weimarer Republik, verstärkt aber seit den 1960er-Jahren herausgebildet haben, ist ein allseits bekanntes Phänomen. Die Struktur des Krankenversicherungssystems, der seit Ende des Zweiten Weltkrieges in der Bundesrepublik festzustellende "Niedergang" des öffentlichen Gesundheitsdienstes, die besondere Machtstellung der Ärzteschaft im Gesundheitswesen - alles Faktoren, die Auswirkungen auch noch in die Zukunft haben werden und denen sich auch aktuelle gesundheitspolitische Debatten nicht verschließen können.

Diesen historischen Wurzeln der Gesundheitspolitik hat sich die Geschichtswissenschaft seit Mitte der 1980er-Jahre verstärkt zugewendet. Seit gut einem Jahrzehnt haben dann vor allem jüngere Historikerinnen und Historiker wichtige neue Erkenntnisse zu Tage gefördert, zum einen zur Geschichte der Gesundheitspolitik in Deutschland von der Weimarer Republik bis zur "doppelten Staatsgründung", zum anderen zur Gesundheitspolitik in der Bundesrepublik und der DDR.

Ergänzt werden diese Forschungen nun durch die Studie der Münchener Historikerin Ulrike Lindner, die sich der schwierigen Aufgabe des Vergleichs der Gesundheitspolitiken in der Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien vom Ende der 1940er-Jahre bis Mitte der 1960er-Jahre angenommen hat. Die vorliegende Studie basiert dabei auf der überarbeiteten Fassung ihrer Dissertation und zeigt in sehr überzeugender Art und Weise, wie wertvoll ein derartiger Vergleich sein kann.

Der individualisierende historische Vergleich zweier Staaten mit völlig unterschiedlichen Gesundheitssystemen (steuerfinanzierter staatlicher Gesundheitsdienst versus Sozialversicherung mit freiberuflichen Leistungsanbietern im ambulanten Sektor), aber einer ähnlichen gesellschaftlich-politischen Prägung (hochindustrialisierte und -technisierte westlich-demokratische Gesellschaften) erscheint sinnvoll, da hierbei das in beiden Ländern wichtige Politikfeld Gesundheit stärker figuriert und kontrastiert werden kann.

Ulrike Lindner beginnt ihre Analyse mit der Einführung des National Health Service in Großbritannien (genauer gesagt in England und Wales) 1948 bzw. mit der Wiedereinführung des traditionellen Krankenversicherungssystems in der Bundesrepublik 1949. Dieser Einstiegszeitraum ist klug gewählt, denn damit werden zum einen die in beiden Staaten zu verzeichnenden Folgen des Zweiten Weltkrieges (bis auf das Krankheitsspektrum) weitgehend ausgeklammert, zum anderen wird der Blick auf die Folgen der Etablierung dieser unterschiedlichen Gesundheitssysteme gerichtet. Der Untersuchungszeitraum endet Mitte der 1960er-Jahre, als sich in beiden Ländern die Grundkonstanten der Gesundheitspolitik veränderten, nicht zuletzt durch eine international festzustellende Hinwendung zur Individualmedizin (mit zunehmender Spezialisierung) und durch einen massiven Ausbau des Gesundheitswesens.

Die Studie ist klar gegliedert und hat gerade in den einführenden Kapiteln, die historische Entwicklungslinien nachzeichnen und nationale Spezifika kontrastierend herausarbeiten, handbuchartigen Charakter, so dass die Einführungen auch als erster Einstieg in wesentliche Forschungsgebiete der Medizingeschichte bzw. Geschichte der Gesundheitspolitik herangezogen werden können. Den Hauptteil der Arbeit machen vier zentrale gesundheitspolitische Maßnahmenbereiche aus: Die Bekämpfung der Tuberkulose, der Kinderlähmung und der Geschlechtskrankheiten sowie die Vorsorge für Schwangere und Säuglinge. Gefragt wird nach den Plänen und Programmen zu diesen ausgewählten Problembereichen, danach, wie die Maßnahmen konkretisiert wurden und wie sie sich auf die Gesundheitssysteme ausgewirkt haben. Es geht somit nicht zuletzt um den Bedeutungswandel von Krankheiten, um die Reaktionen auf diese neuen Herausforderungen und um die aus den getroffenen Maßnahmen resultierenden Folgen für die Patienten. Die Kapitel sind so angelegt, dass zuerst eine allgemeine historische Einführung in das jeweilige Themengebiet erfolgt, bevor dann für die beiden Staaten eine getrennte Untersuchung stattfindet, die aber zum Ende des Kapitels im Vergleich zusammengeführt wird. Gerade diese differenzierte Analyse gesundheitspolitischer Entscheidungen und deren Konsequenzen bietet wichtige Erkenntnisse.

Der von Ulrike Lindner vollzogene Vergleich zeigt, wie stark die aus der weitgehenden Rekonstruktion des Gesundheitswesens in der frühen Bundesrepublik hervorgegangene Struktur prägend für die Probleme in diesem Politikfeld war, etwa die Trennung zwischen präventiver und kurativer Medizin, die in Deutschland sehr viel ausgeprägter war als in Großbritannien. Während in der Bundesrepublik Reformen im Gesundheitswesen vor allen Dingen an den häufig divergierenden Interessen der zahlreichen Akteure auf diesem Sektor scheiterten, hatte die zentrale Organisationsform in Großbritannien den Vorteil, Entscheidungen direkt umsetzen und anwenden zu können. Dagegen litt der National Health Service von Beginn an unter der extremen Abhängigkeit vom Staatshaushalt. Während in Großbritannien permanent über Investitionen in den Gesundheitsbereich diskutiert wurde, stellte in der Bundesrepublik weniger das Geld, als vielmehr die mangelnde Flexibilität das eigentliche Problem dar. Als exemplarisches Beispiel hierfür kann die konkurrierende Gesetzgebung angeführt werden, die zum ständigen Zankapfel zwischen dem Bund und den Ländern wurde.

In beiden Systemen hatten die Ärzte einen sehr starken Einfluss auf die Ausgestaltung des Gesundheitswesens. Gerade dieses Ergebnis zeigt die Wichtigkeit des von Ulrike Lindner durchgeführten Vergleichs. Er hilft, Stereotype abzubauen, da der Blick geschärft wird für tatsächliche Besonderheiten. Die immer wieder gern angeführte "besondere" Stellung der Ärzteschaft im deutschen Gesundheitswesen wird dadurch im Vergleich zumindest relativiert, da auch im zentral gesteuerten Gesundheitswesen Großbritanniens Maßnahmen nur mit den Ärzten mit Erfolg umgesetzt werden konnten.

Ulrike Lindner ist ein sehr überzeugender Vergleich der Gesundheitspolitiken der Bundesrepublik Deutschland und Großbritanniens gelungen, der die bisherigen Forschungsergebnisse zu den beiden herangezogenen Vergleichsstaaten stützt und zudem den Blick weitet für Ähnlichkeiten und Unterschiede, die für die Bewertung gesundheitspolitischer Maßnahmen und deren Konsequenzen überaus hilfreich sind.

Wolfgang Woelk