Rezension über:

Marina Sassenberg: Selma Stern (1890-1981) Das Eigene in der Geschichte. Selbstentwürfe und Geschichtsentwürfe einer Historikerin (= Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts; Bd. 69), Tübingen: Mohr Siebeck 2004, 293 S., ISBN 978-3-16-148417-9, EUR 69,00
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Rezension von:
Friedrich Battenberg
Hessisches Staatsarchiv Darmstadt / Technische Universität, Darmstadt
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Battenberg: Rezension von: Marina Sassenberg: Selma Stern (1890-1981) Das Eigene in der Geschichte. Selbstentwürfe und Geschichtsentwürfe einer Historikerin, Tübingen: Mohr Siebeck 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 2 [15.02.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/02/9291.html


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Marina Sassenberg: Selma Stern (1890-1981) Das Eigene in der Geschichte

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Selma Stern gilt heute als eine der wichtigsten jüdischen Historikerinnen der neueren Zeit überhaupt. Ihre 1929 erschienene Monografie zu "Jud Süß. Ein Beitrag zur deutschen und jüdischen Geschichte" ist auch Nichthistorikern bekannt. Ähnliches muss für ihre 1950 erstmals publizierte Darstellung zum Hofjudentum gelten, die von der Autorin des hier zu rezensierenden Werks 2001 in deutscher Übersetzung publiziert wurde ("Der Hofjude im Zeitalter des Absolutismus"). Diese letztgenannte Untersuchung kann als bisher unübertroffene und für die damalige Zeit erstaunliche systematische Behandlung des Themas Hofjudentum gelten, die lediglich deswegen heute überholt ist, weil wir aufgrund einer unvergleichlich viel besseren Quellenlage inzwischen in der Lage sind, die Situation, die Funktion und die Stellung der Hoffaktoren im Fürstenstaat neu zu beurteilen. [1] Und schließlich ist es die große Biografie über "Josel von Rosheim. Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation", die 1959 erschienen ist und nach der seit 1898 erschienenen biografischen Darstellung Ludwig Feilchenfelds neue Akzente zur Beurteilung dieser großen Persönlichkeit zu setzen vermochte. Für alle drei Werke gilt, dass die Neubearbeitungen des Themas überfällig sind, dass die Maßstäbe aber von Selma Stern gesetzt wurden. Als einzigartige Dokumentation jüdischen Lebens in der absolutistischen Zeit aber muss die mit einem ersten Band 1925 begonnene Quellenedition "Der Preußische Staat und die Juden" gelten, die längst Grundlage einer unübersehbar großen Fülle von Abhandlungen zur Geschichte der Juden in der Vormoderne geworden ist. Mit ihren Kommentierungen und Anmerkungen entspricht diese Publikation allen modernen Ansprüchen, und erst mit ihr hat sie sich einen unsterblichen Namen unter den Historikern gemacht.

Dies alles musste vorausgeschickt werden, um die vorliegende Biografie richtig einordnen zu können. Diese will nicht eine Biografie im tradierten Sinne sein, durch die ein Leben und die Eigenarten einer Persönlichkeit im historischen Kontext deutlich werden sollen. Es geht der Autorin mehr um die Identitätskonflikte in einem Leben - dem Leben Selma Sterns natürlich, aber auch dem anderer vergleichbarer Persönlichkeiten -, das zwischen Judentum und nichtjüdischer Umwelt stand, das der Wissenschaft gewidmet war, in dem Bewusstsein, doch nicht in vollem Umfang dazu zu gehören, nicht akzeptiert zu sein, mit dem Zwang, auf eine "normale" akademische Universitätskarriere verzichten zu müssen. War für sie im Berlin der Zwanzigerjahre noch eine einigermaßen "normale" Existenz möglich, so kam es mit der nationalsozialistischen Machtübernahme zu einem Bruch, zur Flucht und zum Exilleben in den Vereinigten Staaten. Der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung blieb sie verpflichtet, und ein wesentlicher Teil ihres diesbezüglichen Lebenswerks konnte erst seit den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts erscheinen. Nach Deutschland fand sie nicht mehr zurück, ließ sich aber 1960 schließlich in Basel nieder, um dort im Rahmen einer "zweiten Emigration" immerhin noch zwei Jahrzehnte im deutschen Sprachraum wirken zu können.

Die Autorin stellt nach ihrer problemorientierten Einleitung zunächst die biografischen Stationen im Leben der Selma Stern dar. Auf dieser, vielleicht allzu knapp gehaltenen Grundlage geht sie in zwei großen Abschnitten - der dritte Abschnitt unter dem Titel "Die Suche nach dem Eigenen in der Geschichte" stellt lediglich eine Zusammenfassung der vorhergehenden Abschnitte dar - auf ihr eigentliches biografisches Anliegen ein, nämlich Selma Sterns "Selbstentwürfe" (Abschnitt I) und die "Geschichtsentwürfe" (Abschnitt II) herauszuarbeiten. Der erstgenannte Abschnitt ist stark biografisch angelegt. Hier geht es um weiblich-akademische Entwürfe, um Identifikationsmuster in Kindheit und Jugend, um Weiblichkeitsentwürfe zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, um das Rollenverständnis zwischen Beruf und Ehe, um ihre Intellektualität und deren Vereinbarkeit mit der Weiblichkeit. Dass sich die Sozialisation Selma Sterns in der Atmosphäre einer am humanistischen Bildungsgedanken orientierten deutsch-jüdischen Bürgerlichkeit vollzog, kann nicht verwundern. Wer sie also wirklich verstehen will, muss auch das Funktionieren, die Halbherzigkeit wie auch das Neue der bürgerlichen Gesellschaft des Kaiserreichs und der Weimarer Republik kennen; in ihr musste Selma Stern ihre Rolle erst finden. Wenn sie sich in Forschungsreisen auf Quellensuche begab, so hatte sie damit nicht nur das Forscherinteresse und die Sammelleidenschaft im Auge, sondern auch das Bestreben, sich selbst neu zu finden, aber auch vielleicht vor sich selbst zu fliehen. Der gleiche Abschnitt handelt auch über die Problematik ihrer "dualistischen" Existenz zwischen Deutschtum und Judentum. Es geht um ihre Sinnsuche zwischen Kindheit und Adoleszenz, um die "Identitätsfalle" im Ersten Weltkrieg ("zum ersten Male fühle ich deutsch"), die ja bekanntlich mit der so genannten Judenzählung als solche offensichtlich wurde; dann um den Bruch ab 1933 und schließlich um die späten Positionen. Auch in ihrem Leben wurde die Illusion einer "deutsch-jüdischen Symbiose" offensichtlich, spiegeln sich die Widersprüche der ausgehenden Emanzipationszeit ebenso wie die immer größer werdenden Schwierigkeiten, die rechtlichen und gesellschaftlichen Emanzipationsfortschritte mit der eigenen Existenz in Übereinstimmung zu bringen.

Der zweite Teil des Buches widmet sich der Historiografie Selma Sterns. Dieser Teil ist ebenfalls chronologisch angelegt und beginnt mit ihren ersten Arbeiten ab 1914. Das Werk wird insgesamt in den Rahmen der deutsch-jüdischen Historiografie gestellt, die zumindest in den Jahren von 1914 bis 1929 Orientierung vermittelte. An ihrem Endpunkt stand das oben bereits erwähnte Werk "Jud Süß", mit dem in gewisser Weise eine Synthese der deutschen und der jüdischen Welt versucht wurde. Die Phase der Jahre 1929 bis 1959, die ihre Höhepunkte in ihren Monografien zum Hofjudentum und zu Josel von Rosheim hatte, ist vom "Zivilisationsbruch" und einer teilweisen Rekonstruktion der alten Vorstellungen geprägt. Mit dem in einem dritten Kapitel behandelten Quellenwerk "Der Preußische Staat und die Juden", dem fünf Jahrzehnte ihres Lebens über alle Höhen und Tiefen gewidmet waren, schließt der Abschnitt ab. Hier geht es der Autorin um die deutsch-jüdische Quellenforschung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts überhaupt, um preußisch-jüdische Geschichte als einer Folie der Selbstverortung und schließlich um die Utopie des Modells Preußen. Auch für Selma Stern - und nicht nur für sie - bildete dieser Staat einen persönlichen Bezugspunkt und zugleich Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und Mittel im Prozess der eigenen Selbstverortung.

Entstanden ist eine gut lesbare, problemorientierte Biografie, die zugleich für den heutigen Historiker wichtige Interpretationshilfen zum Verständnis des Stern'schen Lebenswerks bietet. Als Beispiel möge der abschließende Kommentar zu "Josel von Rosheim" dienen. Mit diesem Werk, so die Autorin, habe Selma Stern ihr Lebenswerk endgültig in den Dienst einer bewahrenden jüdischen Geschichtsschreibung gestellt und damit in einen kollektiven Sinnzusammenhang. "Seine [Josels] autobiographischen Aufzeichnungen, die sein Handeln als Mittler, Anwalt und Fürsprecher einer jüdischen Gemeinschaft in Not dokumentieren, liest sie als Zeugnis medialen Schreibens. Stern zeichnet Josel als Individuum und Medium zugleich, und in dieser Konzeption begründet sie eigenes Schreiben." Ob man damit der Person Josels gerecht wird, wenn man diese ganz von seinen autobiografischen Aufzeichnungen her versteht, mag nach modernem Quellenverständnis zweifelhaft sein. Darauf aber kam es hier nicht an. Entscheidend ist, dass es der Autorin der vorliegenden Biografie gelang, über das wissenschaftliche Werk, die große Anzahl weiterer Zeugnisse und Äußerungen die Persönlichkeit Selma Sterns nahe zu bringen, diese zugleich aber in einen historischen Zusammenhang zu stellen. Damit hat sie mehr geleistet, als eine übliche Biografie leisten könnte: nämlich Wissenschaftsgeschichte mit einer biografischen Darstellung ebenso verknüpft wie mit den Höhen und Niederungen der deutsch-jüdischen Beziehungsgeschichte.


Anmerkung:

[1] Vgl. dazu Rotraud Ries / J. Friedrich Battenberg (Hg.): Hofjuden - Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; Bd. 25), Hamburg 2002; s. hierzu die Rezension von Carl Josef Virnich, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 6, URL: http://www.sehepunkte.de/2003/06/2353.html .

Friedrich Battenberg