Rezension über:

Martin Winter: Untertanengeist durch Militärpflicht? Das preußische Kantonsystem in brandenburgischen Städten im 18. Jahrhundert (= Studien zur Regionalgeschichte; Bd. 20), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2005, 585 S., ISBN 978-3-89534-540-1, EUR 49,00
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Rezension von:
Michael Hochedlinger
Österreichisches Staatsarchiv, Wien
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Michael Hochedlinger: Rezension von: Martin Winter: Untertanengeist durch Militärpflicht? Das preußische Kantonsystem in brandenburgischen Städten im 18. Jahrhundert, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 3 [15.03.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/03/8798.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Militärgeschichte der Frühen Neuzeit" in Ausgabe 6 (2006), Nr. 3

Martin Winter: Untertanengeist durch Militärpflicht?

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Der Siegeszug der "neuen deutschen Militärgeschichte" scheint unaufhaltsam. Ihr frühneuzeitlicher Zweig hat erkennbar zwei Stoßrichtungen; zum einen richtet er den Blick auf die Militärapparate deutscher Klein- und Mittelstaaten, um die Preußenfixiertheit der "alten" Militärgeschichte zu überwinden. Zum anderen widmet er sich der Relativierung jener einflussreichen These, die im Zusammenwachsen von ostelbischer Gutsherrschaft und Heeresergänzungssystem im 18. Jahrhundert den Ursprung der sozialen Militarisierung Preußens und damit langfristig des deutschen Sonderwegs erkennen wollte. Otto Hintze war wohl ihr (wissenschaftlicher) Schöpfer, Otto Büsch hat sie zu Beginn der 1960er Jahre ausgebaut und wieder in die nun betont kritische Preußenhistoriographie eingebracht. Hans Bleckwenn blieb mit seiner Meinung, die Festschreibung und Umsetzung einer Militärdienstpflicht sei ein gutes Stück weit auch als "Bauernbefreiung" zu betrachten, weitgehend alleine.

In jüngerer Zeit ist in empirisch fundierten Studien an der sicher etwas zu großzügig skizzierten Militarisierungs-These viel berechtigte Kritik geäußert worden. Insbesondere konnte gezeigt werden, dass Grundherr und Offizier auch in Preußen in der Regel nicht wirklich identisch waren, es dem Militärsystem also selbst im Hohenzollernstaat an der oft behaupteten Geschlossenheit und Unausweichlichkeit mangelte.

Das von Friedrich Wilhelm I. 1733/1735 in Brandenburg-Preußen eingeführte Heeresergänzungssystem (Kantonsystem), das unter Ausschaltung ständischer Mitwirkung jedem Regiment im eigenen Land einen abgegrenzten Rekrutierungsbezirk (Kanton) zuwies, aus dem die Truppe dann ihren Inländerersatz bezog, hat im Rahmen dieser Diskussion erst merkwürdig spät die ihm gebührende Aufmerksamkeit erfahren. Nach Jürgen Kloosterhuis und Hartmut Harnisch unternimmt es nun auch die bei Bernhard Kroener und Ralf Pröve an der Universität Potsdam entstandene gediegene Dissertation von Martin Winter, das traditionelle Bild vom preußischen Kantonsystem, ja von der Vorherrschaft des Militärs insgesamt zu hinterfragen.

Dabei richtet Winter seinen Blick nicht auf den ländlichen Bereich, sondern auf zwei Städte der Kurmark nahe der Grenze zu Mecklenburg-Strelitz, Strasburg und Prenzlau, und kann dabei auch die Erkenntnisse seiner Diplomarbeit aus dem Jahre 1997 einbeziehen, die der Umsetzung des Kantonsystems in Frankfurt an der Oder gegolten hatte. Schon Winters Konzentration auf den städtischen Bereich hat etwas Programmatisches, denn die Städte waren eben entgegen landläufiger Klischees - Berlin, Potsdam und Brandenburg ausgenommen - durchaus nicht exempt.

Nach einer soliden Einführung in die Forschungskontroverse und die freilich nicht allzu rosige Quellenlage bietet uns Winter zunächst auf der Grundlage der älteren Literatur einen klaren Überblick über Geschichte und Probleme der Heeresergänzung im Hohenzollern-Staat. Die Einführung des Kantonsystems stellt uns der Autor weniger als königlichen Gründungsakt denn als Sanktionierung und Kodifizierung de facto bereits bestehender Rekrutierungspraktiken im Inland vor.

Die zunächst ersten Regierungsjahre Friedrichs II. brachten keine Verstärkung des Rekrutierungsdrucks auf die inländische Bevölkerung, sondern eine Ankurbelung der Auslandswerbung, die die Aushebung der eigenen Untertanen traditionell zu entlasten hatte, schließlich auch die brutale Ausschöpfung der Mannschaftsressourcen besetzter Gebiete. Erst im Siebenjährigen Krieg ließ sich die Schonung der eigenen Bevölkerung nicht mehr in diesem Maße aufrecht erhalten. Da aber auch ein geregeltes Funktionieren des Kantonsystems nicht gewährleistet war, kam es gewissermaßen zu einem Rückfall in die Rekrutenstellung durch die Ortsobrigkeiten.

Nach dem Krieg wurde die einseitige Herrschaft der Regimenter über ihre Rekrutierungsbezirke nicht wieder hergestellt, das verbot alleine schon der dramatische Bevölkerungsrückgang. Die Aushebung war nunmehr Sache der Zivilbehörden nach Bedarfsmeldung durch das Militär.

Den Höhepunkt der Abgleichung zwischen zivilen und militärischen Interessen bildete schließlich die Reform des Kantonsystems von 1792, die insbesondere die verwirrend unübersichtlich gewordenen Befreiungen von der Militärdienstpflicht normierte und die Dienstdauer, die Erfüllung gewisser Bedingungen vorausgesetzt, auf 20 Jahre festlegte.

Wer sich rasch und verlässlich über das praktische Funktionieren des Kantonsystems, die Enrollierung der Kinder bzw. jungen Männer, die kostensparende Beurlaubung der Inländerkantonisten für den Großteil des Jahres, die Abgrenzungsprobleme von Zivil- und Militärjurisdiktion, das Gewirr an generellen und speziellen Befreiungen vom Militärdienst, das zentrale, keineswegs bloß ästhetisch motivierte Rekrutierungskriterium der Körpergröße oder die Verfolgung von Wehrflüchtigen, Deserteuren oder "Auswanderern" informieren möchte, wird dem Autor für die übersichtliche Zusammenfassung der älteren Forschung und Illustrationsversuche aus der lokalen und zivilen Überlieferung dankbar sein. Mehr ist nach der Vernichtung des Heeresarchivs Potsdam 1945 auch in Zukunft kaum zu leisten.

An der akribischen Arbeit, die abschließend bisher unpublizierte Aktenstücke volltextlich abdruckt, lässt sich nicht viel beckmessern, zumal es wohl teilweise auch die kritische Quellensituation ist, die zu einer gewissen Unausgewogenheit zwischen der kunstvoll gerafften Darstellung der allgemeinen Rahmenbedingungen (insbesondere auf der Grundlage der Arbeiten von Curt Jany) und dem bisweilen doch recht ausführlichen Ausschreiben der eigenen Quellenfunde im Brandenburgischen Landeshauptarchiv verführt. Die sehr eingehende Behandlung greifbarer lokaler Einzelfälle ist zum einen gewiss notwendige Illustration der konkreten Umsetzung zentralstaatlicher Normen vor Ort. Sie läuft aber auch Gefahr, den Leser zu ermüden, vor allem wenn die mikrohistorische Einzelfalleuphorie mitunter zu wortgleichen Nacherzählungen ein und derselben Quelle an verschiedenen Stellen des Buches verleitet (z.B. 304 und 339, 354 und 364). Straffung in diesem Bereich hätte vielleicht Platz für den zu kurz gekommenen Vergleich mit anderen Staaten gemacht, die über ähnliche Zwangssysteme wie Preußen verfügten (Schweden, Russland und vor allem die Habsburgermonarchie).

Wichtiger scheint die Grundsatzfrage, ob die relativierenden Ergebnisse der jüngeren Forschung wirklich zwingend zur Depostamentierung der so heftig unter Beschuss geratenen "Militarisierungsthese" führen müssen. Oder spielt uns vielleicht doch der fast modische Hang der Historiographie unserer Tage zu Revisionismus und Dekonstruktion einen Streich, indem er uns nicht Nuancierung suchen, sondern gleich das Kind mit dem Bade ausschütten lässt?

Unstreitig bestätigt Winters in jeder Hinsicht gewichtige Dissertation, was auch für andere Bereiche vermutet oder sogar empirisch nachgewiesen wurde: Das preußische Militärsystem trug insgesamt ein etwas menschlicheres Antlitz, als uns das gängige Bild erwarten lässt, und war in allererster Linie auf den Ausgleich zwischen den Bedürfnissen der Armee und den Imperativen von Wirtschaft und Peuplierung abgestellt. Auch die Stadtverwaltungen handelten mit dem fordernden Militär den kleinsten gemeinsamen Nenner aus, trachteten "wertvolle Mitglieder der Gesellschaft" vor dem Militärdienst zu bewahren, waren also alles andere als Opfer unzähmbarer Militärherrschaft. Dies ist aber nicht Ausdruck von Durchsetzungsdefiziten, die in der Frühneuzeitforschung zum überstrapazierten Topos geworden sind, sondern entspricht im Gegenteil der zentralstaatlich vorgegebenen Linie.

Die Entscheidungsfrage "Militarisierung von Staat und Gesellschaft oder Sozialisation des Militärs?" ist daher irreführend, denn beide Phänomene verhalten sich zueinander komplementär. Die Umstellung des Heeresergänzungswesens von der freien Werbung auf die systematische Zwangsverpflichtung eigener Untertanen und eine Art Milizsystem baute das stehende Heer in das Staats- und Gesellschaftsgefüge ein. Dies zwang logischerweise zu ungleich mehr Rücksichtnahme als noch zu Zeiten der bindungslosen Söldnerheere des Dreißigjährigen Krieges. Die Erhaltung der Steuer- und Wirtschaftskraft und eines ausreichenden Rekrutierungspotentials lag ja gerade im Interesse des modernen Militärstaates.

Der revolutionären Durchdringung des täglichen Lebens weiter Teile der Bevölkerung mit den Forderungen des stetig wachsenden Militärapparates tut dies keinen Abbruch - man denke nur an die massiven bürokratischen Vorbereitungs- und Begleitmaßnahmen (Volkszählung, Häusernumerierung, Meldewesen usw.), die Rekrutierungssysteme wie das preußische ab 1733/35 und mehr noch das österreichische ab 1770 nötig machten. Auch und gerade hier ist eine Wurzel des Überwachungs- und Anstaltsstaates zu suchen. In Ländern, die im Wesentlichen bei der freien Werbung blieben oder Wehrkraft zukauften (wie Frankreich oder Großbritannien), stellte sich im Gegensatz dazu das Problem des Interessenabgleichs zwischen Militär und Zivil in dieser Weise nicht. Die bewaffnete Macht blieb hier weiterhin ein corpus separatum.

Der Grad der Militarisierung ist natürlich nicht naiv absolut zu setzen oder an den Maßstäben des Wehrpflichtzeitalters zu messen, sondern relativ im Vergleich mit anderen europäischen Großmächten des 18. Jahrhunderts zu sehen. Ein französischer Beobachter dieser Zeit konnte daher durchaus der überspitzten Ansicht sein, dass in Preußen sich nicht der Staat eine Armee, sondern die Armee einen Staat hielt. Über die unterschiedlich prägenden sozialen und politischen Auswirkungen der einzelnen "Militärkulturen" kann man auch heute noch mit Gewinn bei Otto Hintze nachlesen.

Michael Hochedlinger