Georg Wurzer: Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Russland im Ersten Weltkrieg, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 626 S., 11 Abb., ISBN 978-3-89971-241-4, EUR 62,00
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Die überwiegende Mehrheit der Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs in Russland verband mit der Oktoberrevolution in erster Linie die schlichte Hoffnung auf baldige Heimkehr. Die neue Regierung sah in ihnen dagegen ein anti-imperialistisches Kräftereservoir. Auch wenn derlei Erwartungen zunächst einmal im Wesentlichen enttäuscht wurden, zeitigten sich doch auf beiden Seiten langfristige Auswirkungen frühbolschewistischer Kriegsgefangenenpolitik. Im Deutschen Reich etwa trugen die militaristisch-nationalistisch gefärbten, vermeintlichen Tatsachenberichte eines Edwin Erich Dwinger zur Aversion gegen die neuen sowjetischen Machthaber wie gegen Russland überhaupt bei. Das tatsächliche Schicksal der Gefangenen trat dahinter zurück. Dieser Prozess kulminierte in der unhaltbaren, doch bis weit über 1945 hinaus überlieferten Schätzung, wonach in russischem Gewahrsam 40 Prozent der deutschen Gefangenen des Ersten Weltkriegs verstorben seien. [1] Auf der Gegenseite hielt die Sowjetunion selbst noch 1941/1942 an ihrem Glauben an eine grenzüberschreitende Arbeitersolidarität gegen den Klassenfeind Faschismus fest, die sie in ihrer Propaganda gegen die Wehrmacht nutzen wollte.
Diese besonderen Akzentsetzungen haben auch in der Forschung ihre deutlichen Spuren hinterlassen: Hier dominierten nach vereinzelten Spezialuntersuchungen der Zwischenkriegszeit lange Zeit sowjetische und ostdeutsche Publikationen das Feld. Ihr Schwerpunkt lag auf den so genannten "Internationalisten", auf den relativ wenigen Gefangenen also, die sich wie Bela Kun ab 1917 tatsächlich in den Dienst der Weltrevolution stellten. Das erweiterte Verständnis der Kriegsgefangenengeschichte als eines aussagekräftigen Indikators für Funktionsweisen und Ziele verschiedener Herrschaftssyteme und ihrer Gesellschaften im Kriege sowie die methodischen Erweiterungen der Militärgeschichte haben erst in den letzten Jahren zu einer Trendwende geführt. Damit findet nun auch das Schicksal der kriegsgefangenen deutschen oder österreich-ungarischen Soldaten vor 1917 erhöhte Aufmerksamkeit. [2]
In diesen Kontexten ist im Sonderforschungsbereich 437 "Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit" die vorliegende Dissertation (2000) von Georg Wurzer entstanden. Wurzer geht es vornehmlich darum, die Alltagsgeschichte der Gefangenen darzustellen. Angesichts der skizzierten nachhaltigen Relevanz des Russlandbildes in Deutschland und Österreich nach 1918 setzt es sich der Autor weiterhin zum Ziel, der subjektiven Verarbeitung erlebter Lebensbedingungen in der recht umfangreichen Heimkehrerliteratur nachzuspüren. Für sein Vorhaben hat Wurzer neben Erinnerungsberichten Archivbestände in Deutschland, Österreich und Russland ausgewertet. Auch wenn wichtige Überlieferungen wie die der Abteilung Kriegsgefangenenschutz des Preußischen Kriegsministeriums den Zweiten Weltkrieg nicht überstanden, erlaubt der multiarchivalische Zugang doch fundierte und repräsentative Aussagen über Lebensverhältnisse sowie über die Grundsätze russischer Kriegsgefangenenpolitik ab 1914.
Schwieriger gestaltet sich dagegen die Ergründung der quantitativen Dimensionen. Nach Angaben der deutschen bzw. österreich-ungarischen Auskunftsämter gerieten 2,11 Millionen Angehörige der österreich-ungarischen und 158.000 Soldaten der deutschen Armee in russische Gefangenschaft, andere Quellen nennen gerade hinsichtlich der Österreicher und Ungarn zum Teil deutlich nach unten abweichende Zahlen. Dieselben Auskunftsstellen verzeichneten unter den gefangenen deutschen Armeeangehörigen eine Sterblichkeit von 9,97 Prozent. Weitere 33 Prozent aus dieser Gruppe galten als "vermisst". Von ihnen kehrte wohl nur ein Teil nach den Wirren von Revolution und Bürgerkrieg doch noch nach Hause zurück (49-55, 106 f.), sodass die tatsächliche Sterblichkeit eher bei über 20 Prozent liegt. Ähnliche Unwägbarkeiten sind für die österreich-ungarischen Gefangenen in Rechnung zu stellen, für die sich die offiziellen Zahlen auf 9,24 Prozent Verstorbene und neun Prozent "Vermisste" belaufen.
Die deutliche Diskrepanz zwischen der Sterblichkeit der Angehörigen beider Armeen war nur zum Teil der im Frühjahr 1915 postulierten Besserstellung der Gefangenen aus vermeintlich "befreundeten Völkern" geschuldet. Obwohl kriegsgefangene Slawen - aber auch Elsass-Lothringer - nun getrennt von ihren deutschen, österreichischen und ungarischen Schicksalsgenossen und, im Gegensatz zu diesen, im europäischen Russland und nicht in Sibirien untergebracht werden sollten, scheint es mehr als fraglich, ob die höchsten Ortes "intendierte Bevorzugung" durchgängig realisiert wurde (161, 169).
Die breite Kluft zwischen Theorie und Wirklichkeit charakterisierte das gesamte zaristische Kriegsgefangenenwesen. Wurzer lässt keinen Zweifel daran, dass Russland die Haager Landkriegsordnung von 1907 als grundsätzlich verbindlich ansah. Die maßgebliche Verordnung über die Kriegsgefangenen vom 20. Oktober 1914 (alter Stil) übernahm folgerichtig in weiten Teilen die entsprechenden internationalen Bestimmungen. Im Gegensatz zur HLKO wollte man die Arbeit von Kriegsgefangenen allerdings ursprünglich ohne Bezahlung lassen, führte aber bereits im März 1915 Lohnzahlungen als Leistungsstimulanz ein. Die ausgesucht gute Behandlung der Offiziere ging mitunter gar noch über die Buchstaben des Haager Abkommens hinaus.
Verwaltungsquellen wie Memoiren zeugen indes ebenso eindringlich davon, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse in den Lagern äußerst unterschiedlich und insgesamt häufig weitaus schlechter gestalteten, als vom Zentrum vorgesehen. Unter den Bedingungen einer Autokratie im Kriegszustand führte die gegebene Zersplitterung der Zuständigkeiten fast schon automatisch zu Desorganisation vor Ort und Desinformation nach oben. Dazu waren die russischen Behörden offenbar trotz aller langjährigen Manöver und Planspiele nicht auf die anfallenden Gefangenenmassen eingestellt. So konnten sich die allgemeinen Zustände erst nach den Seuchenwintern von 1914/15 und 1915/16 wirklich stabilisieren. Im gesamten Verlauf der Gefangenschaft milderte die umfangreiche Tätigkeit verschiedener Hilfsorganisationen das Schicksal der Gefangenen ab.
Der konkrete Verlauf der Revolution schließlich musste wiederum zu höchst unterschiedlichen Erfahrungen einzelner Lagergesellschaften führen. Grundsätzlich wollten sich die neuen Machthaber weiterhin an völkerrechtlichen Standards und Offiziers-Privilegien orientieren. Sie konnten die rapide Verschlechterung der Verpflegungssituation allerdings noch viel weniger in den Griff bekommen als ihre Vorgänger. Der zügige Gefangenenaustausch, den der oktroyierte Friedensvertrag von Brest-Litowsk vorsah, konnte zudem für die unter "weißer" oder tschechoslowakischer Herrschaft stehenden Lager nicht in Angriff genommen werden. Er wurde im November 1918 ganz eingestellt. 1920 gab es noch rund 425.000 Kriegsgefangene in Russland, deren Repatriierung bis März 1922 abgeschlossen wurde.
Wurzers Dissertation zeichnet die wechselvolle Entwicklung des Gesamtphänomens Gefangenschaft in Russland für alle Etappen und Lebensbereiche einer Gefangenschaft nach. Nach der Behandlung von Gefangennahme, Märschen und Transporten ins Hinterland sowie der Vorstellung verschiedener Einrichtungen des Gefangenenwesens konzentriert sich der Autor auf die alltägliche Lebenssituation in stationären Lagern: auf Unterbringung, medizinische Versorgung und Verpflegung, auf das Verhältnis zum russischen Personal und untereinander, die finanzielle Lage, auf Disziplin, Strafen, die religiöse Betätigung sowie den Arbeitseinsatz, wobei der Bau der Murmanbahn wegen der harten Bedingungen eigene, traurige Berühmtheit erlangte. In diesem Bezugsrahmen konnten die Gefangenen ihre - ebenso ausführlich dargestellten - Freizeit- und Bildungsaktivitäten hinter Stacheldraht entwickeln, die allerdings nur einen Bestandteil der äußerst schwierigen Verarbeitung der jahrelangen Unfreiheit darstellten.
Insgesamt liefert Wurzer eine Fülle von Belegen, die die Kriegsgefangenenpolitik sowie den Alltag der Kriegsgefangenen mit seinen Unterschieden zwischen einzelnen Nationen, vor allem aber hinsichtlich der Mannschafts- und Offiziersdienstgrade, beschreiben. Es gelingt dem Verfasser aber kaum, die Vielzahl von Details und Aspekten zu gewichten oder zu einer echten Analyse zu verdichten. Die mitunter wahllos erscheinende Zusammenstellung des Dokumenten- und Statistikanhangs, der beispielsweise eine in dieser Form kaum aussagefähige Zusammenstellung über insgesamt 23 "im Arrest befindlichen Offiziere und Mannschaften in Krasnojarsk" im Dezember 1915 (580 f.) oder eine nicht näher benötigte detaillierte Rangeinteilung in den Armeen (582-584) enthält, ist hierfür symptomatisch. Das generelle Manko macht dem Leser bereits bei der Darstellung der russischen Politik zu schaffen, fällt indes besonders bei der vermeintlichen Bewertung der Heimkehreraussagen auf. Deren Untersuchung läuft letztlich auf eine bloße Aneinanderreihung von Zitaten hinaus, die häufig "dieses" und zugleich "jenes" belegen können, und deren Interpretation ganz dem Leser überlassen bleibt: "Den Handel im Lager beherrschten, will man den Erlebnisberichten glauben, die Juden", heißt es beispielhaft auf Seite 315. Die methodische Schwäche wird durch sprachliches Ungeschick noch augenscheinlicher: "Infolge der enttäuschten Hoffnungen, die nach der Februarrevolution aufgekommen waren, verfielen etliche Kriegsgefangene dem Wahnsinn", knüpft der Autor ohne jeden Übergang an Beobachtungen zur Verpflegung an (211). Auf diese Weise stellt die Monografie in ihrer Gesamtheit eher einen nützlichen Steinbruch mit interessanten Anstössen als eine abgeschlossene Untersuchung dar.
Anmerkungen:
[1] Rüdiger Overmans: Einleitung, in: Ders. (Hg.): "In der Hand des Feindes". Geschichtsschreibung zur Kriegsgefangenschaft von der Antike bis zum Zweiten Weltkrieg, Köln 1999, 11 f.
[2] Vgl. allg. den Literaturbericht von Reinhard Nachtigal: Kriegsgefangenschaft an der Ostfront 1914 bis 1918, Frankfurt a. M. 2005 sowie Alon Rachamimov: POWs and the Great War. Captivity on the Eastern Front, Oxford 2002. Für die deutsche Gewahrsamsmacht: Uta Hinz: Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914-1921, Essen 2005.
Andreas Hilger