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Jürgen Dendorfer: Zweisprachige Ausgaben mittelalterlicher Quellen. Einführung, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 3 [15.03.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
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Zweisprachige Ausgaben mittelalterlicher Quellen

Einführung

Von Jürgen Dendorfer

Schwindende Kenntnisse der alten Sprachen werden in den geisteswissenschaftlichen Fächern seit geraumer Zeit beklagt, und ob die von Tageszeitungen wie der FAZ berichteten steigenden Schülerzahlen im Latein- und sogar Griechischunterricht deutscher Gymnasien eine Trendwende ankündigen, bleibt noch abzuwarten. Der unter der Vorgabe einer Studienzeitverkürzung erzeugte politische Zwang, ausschließlich dreijährige B.A.-Studiengänge zu konstruieren, wirkt sich jedenfalls bereits jetzt negativ im Hinblick auf die Sprachanforderungen aus. Die Folgen für die Entwicklung der historischen und philologischen Fächer werden nicht ausbleiben. Schon 1999 wurde mit Recht diagnostiziert, "daß zahlreiche wichtige Forschungsaufgaben, für die man größere lateinische Textmengen aufarbeiten müsste, heute gar nicht mehr angepackt werden. Damit ergibt sich implizit in vielen Fällen eine Verfälschung unserer kulturwissenschaftlichen Sicht, die in groteskem Gegensatz zum hermeneutischen Anspruch steht." [1] Sachlich ist ein Verzicht auf Lateinkenntnisse in jenen Fächern, die beanspruchen, europäische Kultur in ihren historischen Dimensionen zu erforschen, nicht zu rechtfertigen. Die Diskrepanz zwischen unzulänglichen Lateinkenntnissen der Studienanfänger und der Notwendigkeit des Umgangs mit Texten im Studium hat inzwischen einen neuen Markt geschaffen. Derzeit gehören zweisprachige Ausgaben jener Bücher, die von Verlagen offenbar als gewinnbringend eingeschätzt und daher in wachsender Zahl publiziert werden. Drei jüngst erschienene zweisprachige Ausgaben werden in diesem Forum besprochen. Der Befund ist weithin deprimierend, stellt jedoch keine Neuigkeit dar, sondern lässt sich in eine Reihe vergleichbarer Fälle einordnen, die auch kunsthistorische Publikationen umfasst. [2] Niemand wird bestreiten, dass sowohl die Existenz eines Markts für zweisprachige Ausgaben als auch das Interesse für zuvor noch nicht behandelte Texte erfreuliche Fakten sind. In allen Fällen ging es um Texte des Mittelalters und der Renaissance. Was diese Tatsache bedeutet, scheint aber noch nicht recht ins Bewusstsein gedrungen zu sein. Um es mit den Worten eines bereits zitierten Philologen zu sagen: "Die Bearbeitung lateinischer Texte der Neuzeit [respektive des Mittelalters] bedeutet eine anspruchsvolle Aufgabe und muß mit professionellem Anspruch bewältigt werden." [3]

Die folgenden Rezensionen legen einige Erwägungen allgemeiner Art nahe:

1. Auch in einer zweisprachigen Ausgabe ist es nicht gleichgültig, welcher lateinische Text abgedruckt wird. Es widerspricht völlig dem Sinn einer solchen Ausgabe, wenn lateinischer Text und deutsche Übersetzung nicht übereinstimmen (rez. Petersohn). Es ist inakzeptabel, wenn nur der nächstbeste Text eingescannt wird, ohne zu klären, ob es eine kritische Edition gibt (Rez. Märtl).

2. Ist eine kritische Edition des zu übersetzenden Textes vorhanden, so sollte ihr Informationspotential auch dem Leser einer zweisprachigen Ausgabe zur Verfügung gestellt werden. Es ist nicht einzusehen, wieso Nachweise zu Vorlagen und Zitaten gestrichen werden (Rez. Petersohn). Die Übersetzung eines Textes macht einen sorgfältigen Kommentar keineswegs überflüssig (Rez. Wagendorfer).

3. Ist von dem zu übersetzenden Text noch keine kritische Edition vorhanden, so muß zumindest der aktuelle Forschungsstand präsentiert werden. Es genügt nicht, wenn Übersetzungen des 19. Jahrhunderts flüchtig aktualisiert werden (Rez. Wagendorfer).

4. Wenn ein Text übersetzt wird, sollte er es wert sein, ganz übersetzt zu werden. Die Bevormundung des Lesers durch druckbogensparendes Zurechtstutzen des Texts muß ein Ende haben, ganz abgesehen davon, daß Auslassungen die Beurteilung eines Textes erschweren (Rez. Petersohn).

5. Der Übersetzer sollte sich mit dem historischen Kontext eines Texts vertraut machen. Der Kontext ist bei mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten vielleicht schwieriger zu erarbeiten als bei antiken Texten, aber auch für diese Epochen stehen bereits genügend Hilfsmittel zur Verfügung. (Rez. Märtl).

Letztlich handelt es sich um Verstöße gegen Grundregeln des wissenschaftlichen Arbeitens mit Texten, die selbstverständlich auch bei der Vorbereitung von Übersetzungen gelten. Der "professionelle Anspruch" scheint weithin dem Wunsch nach rascher Produktion und dem Druck knapper Kalkulation gewichen zu sein. Dies wird wohl auch der Grund sein, weswegen bei der kritischen Edition der Historia Bohemica, die Einleitung offenkundig nicht lektoriert wurde: sie präsentiert sich als ein Konglomerat von Textblöcken in unabgeglichenen Bearbeitungsstadien (Rez. Märtl). Insgesamt ist ein erschreckender Verlust von Standards zu konstatieren, für den neben einigen anderen Faktoren - Vorgaben der Verlage, Desinteresse am wissenschaftlichen Wert oder schlichtem Unvermögen - auch die Möglichkeiten der elektronischen Textverarbeitung verantwortlich sind, die dazu verführen, es sich allzu leicht zu machen. Diese Feststellung ist nicht neu und sollte zu denken Anlass geben.


Anmerkungen:

[1] Jürgen Leonhardt, Sieben Thesen zum Verhältnis von Latein und Geisteswissenschaften, in: Neulateinisches Jahrbuch 1 (1999), 283-288, hier 283.

[2] Leonhardt, wie Anm. 1, bietet bereits einige Literaturhinweise; vgl. bes. Walther Ludwig, Sind wir mit unserem Latein am Ende? Ein Werk über die Renaissancefamilie Borgia, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 52 (1993), 458-462; ders., Der kunsthistorische Graben und Andreanis Triumphzug Caesars nach Mantegna, in: Kunstchronik 57 (2004), 568-576; auch Walter Brandmüller, in: Annuarium historiae conciliorum 29 (1997), 259-262, und jüngst zu einem verwandten Thema Karl August Neuhausen, Perennis Latinitas etiam editoria domu perquam celebri prorsus novissime depravata. Zum katastrophalen Latein in den praefationes einer neuen Ausgabe in der Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana, in: Neulateinisches Jahrbuch 7 (2005), 355-370.

[3] Leonhardt, wie Anm. 1, 285.

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