Rezension über:

Anne Applebaum: Der Gulag. Aus dem Englischen von Frank Wolf, Berlin: Siedler 2003, 733 S., ISBN 978-3-88680-642-3, EUR 32,00
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Anne Applebaum: Gulag. A History of the Soviet Concentration Camps, London: Penguin Books 2003, XII + 598 S., ISBN 978-0-713-99322-6, GBP 25,00
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Rezension von:
Jürgen Zarusky
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen Zarusky: Anne Applebaum: Der Gulag (Rezension), in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 4 [15.04.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/04/10814.html


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Anne Applebaum: Der Gulag

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Anne Applebaums nahezu zeitgleich in englischer und deutscher Sprache erschienenes Buch [1] über den sowjetischen Gulag wurde in der westlichen Presse fast ausschließlich enthusiastisch rezipiert und 2004 in den USA mit dem Pulitzer-Preis und in Großbritannien mit dem Duff-Cooper-Preis ausgezeichnet. Anthony Beevor, der Laudator der zweitgenannten Preisverleihung, bezeichnete das Werk als "a tour de force of scholarship, judgement and humanity". In der Tat hat die Autorin, Mitherausgeberin und Kolumnistin der "Washington Post" und Ehegattin des polnischen Verteidigungsministers im Kabinett Marcinkiewicz, Radek Sikorski, ein klares Anliegen. In einem 1996 in der Zeitschrift "The New Criterion" erschienenen Artikel beklagte sie - so die Überschrift - "A Dearth of Feeling" [2], einen verbreiteten Mangel an Gefühl für das, was der Kommunismus war und was sein Untergang in Europa bedeutet. Solange der Kommunismus nicht gemeinsam mit dem Nationalsozialismus als eines der größten Übel des 20. Jahrhunderts betrachtet werde, würden die Amerikaner geneigt sein, den Kalten Krieg für Zeitverschwendung und den "Westen" für eine Fiktion zu halten. "In the end it is we who will wake up and realise that we do not know who we are." Nahezu identische Überlegungen stellt sie am Ende ihres Buches an: "Wir beginnen zu vergessen, was uns mobilisiert und inspiriert hat, was die Zivilisation des 'Westens' so lange zusammenhielt." Ohne ein Verständnis des anderen totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts "werden wir eines Tages aufwachen und feststellen, daß wir nicht wissen, wer wir sind" (609 f.).

Aufgefallen war der Autorin die Bewusstseinstrübung, als sie Mitte der 90er-Jahre westliche Touristen in Prag beobachtete, die eifrige Kunden an einem Stand mit Sowjetkrimskrams waren, sich mit Uniformmützen der Roten Armee oder T-Shirts mit Hammer-und-Sichel Aufdruck ausstaffierten. Tatsächlich ist dieser ironische Umgang mit den Symbolen der kommunistischen Diktatur wohl nur auf der Basis einer profunden Unkenntnis von deren Verbrechen möglich. Anne Applebaums Buch über den GULag ist eine publizistische Antwort darauf, und wer es gelesen hat, wird kaum noch zu so einem unbedachten Verhalten in der Lage sein, vor allem weil es die Leiden der Opfer ausdrucksstark und facettenreich vergegenwärtigt. Das Herzstück ihres Buches ist der fast 300 Seiten umfassende Teil "Leben und Arbeit in den Lagern", der zunächst den Weg der Häftlinge von der Verhaftung über die Untersuchungshaft und Verurteilung, den Transport unter unmenschlichen Bedingungen bis zur Kategorisierung und Einteilung in Arbeitskommandos im Lager beschreibt. Es folgen Kapitel über Arbeit, Strafen und Belohnungen, die Wachen, die unterschiedlichen Gruppen von Gefangenen, wobei besonders die Vorherrschaft der kriminellen Häftlinge thematisiert wird, aber auch die Rolle verschiedener Nationalitäten, deren Zahl und Vielfalt durch die sowjetische Expansion im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts und infolge des Siegs im Krieg gegen NS-Deutschland wuchs. Die Lage von Frauen und Kindern wird ebenso behandelt wie das Sterben und der Widerstand im Lager. Applebaum stützt sich bei diesen bedrückenden Schilderungen auf eine Fülle von Erinnerungen, die sie ausgewertet, und Gesprächen mit ehemaligen GULag-Häftlingen, die sie selbst geführt hat. Sie hat auch Recherchen in einer Reihe von Archiven unternommen und in erheblichem Umfang Dokumenten-Editionen und historische Fachliteratur ausgewertet. Auch die historisch-chronologischen Teile 1 und 3 "Die Ursprünge des Gulags 1917-1939" und "Aufstieg und Fall des Lager-Industrie-Komplexes 1940-1986" zeichnen sich über weite Strecken durch große Anschaulichkeit aus, analytisch sind sie indes weniger überzeugend.

So ist die bereits in der Einleitung erhobene Behauptung, "der ursprüngliche Anlaß für die Errichtung des Gulags" sei ökonomischer Natur gewesen, mehr als fragwürdig. Zwar ließ das Politbüro schon seit Frühjahr 1929 die Frage einer systematischeren Ausnutzung der Arbeitskraft von Strafgefangenen untersuchen, was im Frühsommer zur Überstellung aller Häftlinge mit mehr als drei Jahren Freiheitsstrafe in die zu diesem Zweck erheblich erweiterten Lager der Geheimpolizei OGPU führte. Aber letztlich kam die Initialzündung des GULag mit der Zwangskollektivierung, die von vorneherein die Verhaftung von mindestens 60.000 Familienvorständen vorsah, die als konterrevolutionär eingestuft wurden. Bei dieser Zahl blieb es allerdings nicht. Bei Applebaum verschwimmt dieser Zusammenhang bis zur Unkenntlichkeit: Sie meint, als "Kulaken" seien Bauern bezeichnet worden, die sich der Kollektivierung widersetzt hätten (87). Tatsächlich bezeichnet "Kulak" aber einen "objektiven Gegner" im Sinne Hannah Arendts, also eine ideologische Zuschreibung, mit der ein angeblich ausbeuterischer Großbauer gemeint war. Dementsprechend legte das Politbüro die Mindestzahl der zu verfolgenden Kulaken ganz unabhängig von deren Tun und Lassen auf Grund klassenideologischer Kriterien im Vorhinein fest. Auch systemloyale Kulaken wurden mit ihren Familien grundsätzlich auf schlechte Böden umgesiedelt. Irritierend ist, dass Applebaum in ihrer Darstellung von den Massenverhaftungen im Zuge der Kollektivierung und im Zusammenhang mit dem drakonischen Gesetz gegen den "Diebstahl sozialistischen Eigentums" vom 7. August 1932 in das Jahr 1928 und damit zu den frühen Überlegungen über die Reorganisation des Strafsystems zurückspringt und so den chronologischen Zusammenhang auf den Kopf stellt; durch eine nicht sonderlich geschickte Kürzung wird dieser Effekt in der deutschen Fassung noch verstärkt (65 bzw. 88). Die spekulative Interpretation eines einzelnen Befehls Jagodas, mit dem er Gefangene für ein Bauprojekt anforderte, als Beleg dafür, dass es Massenverhaftungen zur Arbeitskräftebeschaffung gegeben haben könnte, wird von der Autorin im nächsten Absatz selbst mit dem Hinweis widerlegt, dass die Lagerkommandanten stets Schwierigkeiten hatten, die infolge von Massenverhaftungen neu eintreffenden Gefangenen halbwegs sinnvoll einzusetzen (94). Diese Repressionen, die das Reservoir an Zwangsarbeitern wachsen ließen, waren - das hat jüngst Oleg Chlevnjuk, einer der renommiertesten Experten auf diesem Feld, unterstrichen - stets politisch motiviert und ökonomisch in jeder Hinsicht disfunktional. [3]

Diese Disfunktionalität ist spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg erkannt worden und war ein wesentliches Motiv dafür, dass schon kurz nach dem Tode Stalins der Gulag stufenweise abgebaut wurde. Die ersten Schritte dazu unternahm, wie man auch bei Applebaum nachlesen kann (503 ff.), noch im März 1953 Lavrentij Berija, Stalins langjähriger oberster Geheimpolizist. Er wurde kurz darauf von seinen politischen Konkurrenten, darunter Chruščev, auf äußerst stalinistische Weise abserviert, was dem weiteren Abbau des GULag indes keinen Abbruch tat. Hier wirkten sich auch die von Applebaum lebendig und mit Sympathie beschriebenen Massenstreiks in den Lagern aus. Auch bei der Schilderung der stillen, doch nichtsdestoweniger dramatischen Rückkehr der GULag-Häftlinge in die Gesellschaft, entfaltet Applebaum ihre großen schriftstellerischen Stärken. Weniger überzeugend ist, dass sie die tiefe Zäsur der Jahre 1953-1956 nicht wirklich wahrnimmt. So spricht sie vom Aufstieg und Fall des Lager-Industrie-Komplexes in den Jahren 1940 bis 1986. Doch das Ende dieses Komplexes kam schon Mitte der 50er-Jahre, wie sie selbst feststellt (555).

Das Millionenheer von Zwangsarbeitern, die gewaltsame Zerstörung überkommener sozialer Strukturen und die Massenverfolgungen "objektiver Gegner" gehörten von nun ab der Vergangenheit an, und das bedeutete eine qualitative Änderung der Herrschaftsstruktur der Sowjetunion, die nichtsdestoweniger eine Parteidiktatur blieb. Schon Hannah Arendt hat 1966 im Vorwort zur Neuausgabe ihres Totalitarismusbuches von einem "echten, wenn auch nie unzweideutigen Abbau totaler Herrschaft" gesprochen. [4] Der Politologe Juan Linz bezeichnet das Resultat dieses Prozesses als "posttotalitäres Regime". [5] Solche analytischen Differenzierungen sind Applebaums Sache nicht. Sie benennt zwar durchaus die Sachverhalte, ermisst jedoch nicht deren Bedeutung, wozu auch der Umstand beiträgt, dass sie die Hungersnot von 1932/33 mit ihren ca. sechs Millionen Opfern und den Massenmord an fast 700.000 Menschen im Großen Terror 1937/38 nicht behandelt. [6] Es ist richtig, auf die Kontinuität der Diktatur hinzuweisen, aber es war eine gebrochene Kontinuität. Dabei wurde die Entstalinisierung von rein innersowjetischen Faktoren in Gang gesetzt. Der Tod Stalins ermöglichte es, aus der Ineffizienz des GULag-Systems die Konsequenzen zu ziehen und dem Bedürfnis der politischen Klasse zu entsprechen, vom Albdruck des Terrors befreit zu werden, der im stalinistischen System ja jedermann außer den Diktator selbst treffen konnte.

Mit dem Kalten Krieg hat dieser Wandel der Sowjetunion wenig zu tun. Der Kalte Krieg ging weiter, und es war der Entstalinisierer Chruščev, der ihn mit der Kuba-Krise an den Rand des Atomkrieges vorantrieb. Applebaums Versuch, das Bild des GULag in den Rahmen des Kalten Krieges zu spannen, wird hier problematisch, und nicht nur hier. Auch ihre Kritik an der Blauäugigkeit des Westens gegenüber der Sowjetunion ist zuweilen überzogen oder schlicht falsch. Ob es wirklich der Ausdruck eines besonders freundschaftlichen Verhältnisses zum Massenmörder Stalin ist, wenn "auf zahllosen Fotos [...] Stalin, Churchill und Roosevelt lächelnd und in trauter Dreisamkeit abgelichtet sind", werden Kenner der Konferenzen von Teheran und Jalta möglicherweise anders beurteilen (17). Eindeutig muss das Urteil über Applebaums Behauptung ausfallen, "daß die Alliierten das Massaker von Katyn im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß den Deutschen zur Last legten" (457). Wäre das so gewesen, wäre der Nürnberger Prozess tatsächlich "ein Beispiel für 'Siegerjustiz' von zweifelhafter Legitimität" gewesen, wie sie an späterer Stelle allzu leichtfertig schreibt (600). Doch Applebaums Behauptung trifft nicht zu. Im Urteil von Nürnberg kommt Katyn nicht vor, weil die westlichen Richter die sowjetischen Versuche, den Massenmord an den polnischen Offizieren auf das nationalsozialistische Schuldkonto umzubuchen, mit einiger Mühe ins Leere hatten laufen lassen. [7]

Die Schwächen in der historischen Konzeption und in manchen Details sollten niemanden davon abhalten, Anne Applebaums Buch über den GULag zu lesen. Zwar ist es sicherlich nicht das für lange Zeit letzte Wort zum sowjetischen Lagersystem. Die Forschung auf diesem Sektor floriert wie nie. Gerade ist in Moskau die große siebenbändige Dokumenten-Edition zur Geschichte des Stalinschen GULag abgeschlossen worden und eine englischsprachige dokumentierte Darstellung zum GULag zwischen Kollektivierung und Großem Terror erschienen. [8] Keinem dieser eher auf der administrativen Ebene ansetzenden Werke gelingt aber das, was Anne Applebaum in respektheischender Weise erreicht hat, nämlich mit tiefer und kenntnisreicher Empathie für die Opfer zu veranschaulichen, was es bedeutet hat, ein GULag-Häftling zu sein.


Anmerkungen:

[1] Im Oktober 2005 ist das Buch auch als deutsche Taschenbuchausgabe bei Goldmann erschienen. ISBN 3-442-15350-6, EUR 14,00. Die deutsche Ausgabe ist leicht gekürzt.

[2] http://www.anneapplebaum.com/communism/1996/10_crit_feeling.html.

[3] Oleg Khlevnjuk: The Economy of the OGPU, NKVD, and MVD of the USSSR, 1930-1953. The Scale, Structure and Trends of Development, in: Paul R. Gregory/Valery Lazarev (Hg.): The Economics of Forced Labour. The Soviet Gulag, Stanford 2003, 43-66, hier 66; siehe auch ders. (otv. red.): Ėkonomika Gulaga. Moskau 2004 = Ju. N. Afanas'ev u. a. (Hg.): Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 3, 52.

[4] Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 8. Auflage, München 2001, 632.

[5] Juan Linz: Totalitäre und autoritäre Regime, Potsdam 2000, IV und 227-256.

[6] Die Autorin räumt das selbst ein, ohne es allerdings zu begründen (22 f.). Die Hungersnot erwähnt sie en passant, lokalisiert sie aber nur auf die Ukraine und Südrussland; vom schrecklichen Schicksal der kasachischen und kirgisischen Nomaden weiß sie nichts (87).

[7] Telford Taylor: Die Nürnberger Prozesse. Hintergründe, Analysen und Erkenntnisse aus heutiger Sicht, München 1994, 539-546.

[8] Ju. N. Afanas'ev u.a. (Hg.): Istorija stalinskogo Gulaga. Konec 1920-ch - pervaja polovina 1950-ch godov. Sobranie dokumentov v semi tomach, Moskau 2004/5. Oleg V. Khlevniuk: The History of the Gulag. From Colletivization to the Great Terror, New Haven & London 2004. Vgl. auch den in Anmerkung 3 genannten Sammelband von Gregory und Lazarev.

Jürgen Zarusky