Josef Kreiner (Hg.): Der Russisch-Japanische Krieg (1904/05), Göttingen: V&R unipress 2005, 186 S., ISBN 978-3-89971-247-6, EUR 38,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Holger Afflerbach: Der Dreibund. Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002
Gerd Krumeich: Juli 1914. Eine Bilanz. Mit einem Anhang: 50 Schlüsseldokumente zum Kriegsausbruch, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2013
Jens Flemming / Klaus Saul / Peter-Christian Witt (Hgg.): Lebenswelten im Ausnahmezustand. Die Deutschen, der Alltag und der Krieg, 1914-1918, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2011
Der russisch-japanische Krieg von 1904/05 war weit mehr als ein regionales Ereignis am fernen Ende der imperialistischen Welt des frühen 20. Jahrhunderts. Zum ersten Mal hatte ein nicht-europäisches Land in einer großen militärischen Auseinandersetzung eine der imperialistischen Weltmächte in die Knie gezwungen. Das asiatische Japan etablierte sich im Kreis der Großmächte. In Europa kamen überkommene Bilder von "nicht-weißen" Völkern in Bewegung. In London erschien ein Buch über den Untergang des britischen Weltreiches; "The Decline and Fall of the British Empire" hieß der Titel, der fingierte Erscheinungsort: Tokio. Von der Forschung ist der russisch-japanische Krieg dementsprechend von jeher als eine wichtige Weichenstellung am Beginn des 20. Jahrhunderts begriffen worden. Bündnispolitisch habe er die Rückwendung des Zarenreichs zum Balkan und seine westlichen Grenzen bedeutet, weltpolitisch einen weiteren Schritt zur globalen Ausweitung des europäischen Staatensystems. In Russland brachte der Konflikt mit der Revolution von 1905/06 schließlich die "Generalprobe" für 1917 hervor.
Von diesen unterschiedlichen Dimensionen des russisch-japanischen Krieges geht auch der von Josef Kreiner herausgegebene Band aus, der die Ergebnisse eines Bonner Symposions zum hundertsten Jahrestag des Krieges zusammenträgt. Mit den politisch-militärischen Ereignissen beschäftigen sich Ian Nish und Christian Oberländer. Nish betont die trotz aller spektakulären japanischen Siege doch nicht völlig eindeutige militärische Situation bei Kriegsende, das daraus resultierende starke Friedensinteresse beider Seiten und das ehrliche Bemühen des amerikanischen Präsidenten, unter dessen Vermittlung der Frieden zu Stande kam, um internationale Stabilität. Oberländer hebt die gründliche militärische Vorbereitung des Krieges durch die japanische Führung hervor, ganz im Gegensatz zum Zarenreich, das mit einer erheblichen Portion Arroganz in die Auseinandersetzung ging und Japan sträflich unterschätzte. Durch den Krieg gelang Japan diplomatisch-politisch das, was ihm 1895 nach dem siegreichen japanisch-chinesischen Krieg durch das als demütigend erfahrene Eingreifen des deutsch-französisch-russischen "ostasiatischen Dreibunds" und der in der Folge errichteten europäischen Stützpunkte in China verwehrt worden war: der Aufstieg zur gleichermaßen von den europäischen Staaten anerkannten wie vom traditionell auf China konzentrierten asiatischen System gelösten ostasiatischen Großmacht.
Aber wie konnte es einem sich erst wenige Jahrzehnte zuvor dem Westen öffnenden Land wie Japan gelingen, einer Weltmacht, die immerhin schließlich über eine Million Soldaten im Feld hatte, Paroli zu bieten? Günther Distelrath weist auf die wirtschaftliche Dynamik hin, die Japan bereits vor dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ausgezeichnet hatte. Er erkennt während der Epoche der Frühen Neuzeit in Japan eine indigene Entwicklung, die durchaus "protoindustrielle" (138) Züge annahm. Die Meiji-Regierung brachte dann seit 1867/68 nicht nur die Restauration der Kaiserherrschaft, sondern auch gesellschaftspolitische "Veränderungen revolutionären Zuschnitts", die in kürzester Zeit wirtschaftliche und rechtliche Privilegien radikaler beseitigten, als dies die "Bürgerlichen Revolutionen in Europa vermochten." (143) Entscheidend für Distelraths an "Big Game"-Theorien angelehnte Argumentation ist, dass seit der Frühen Neuzeit so Voraussetzungen für die Entstehung eines privaten Sektors entstanden, die um 1900 die Abhängigkeit Japans von westlicher Industrie noch nicht beseitigt hatten, aber doch so viel an eigener industrieller Energie bereitstellten, dass Japan im Krieg gegen Russland als moderner Staat erschien.
Anders die Lage im Zarenreich: Schon von den Zeitgenossen wurde, wie Jan Kusber zeigt, die russische Niederlage der ineffektiven und verkrusteten Führung angelastet. Noch im Herbst 1904 entschlossen sich die verschiedenen Oppositionsgruppen zu Aktionen gegen das autokratische System. Auch wenn die Revolution letztlich noch scheiterte, die Loyalität von Arbeiterschaft und zumindest Teilen der Landbevölkerung zum Zaren war gebrochen, ihre Macht, so Dittmar Dahlmann, "konnte die zaristische Regierung nie wieder in jener Weise ausüben, wie dies vor 1905 der Fall gewesen war." (135)
Wo liegen also die entscheidenden Weichenstellungen des russisch-japanischen Krieges aus Sicht dieses Sammelbandes? Zunächst sicherlich in dem schon angedeuteten Umstand, dass die Zuschreibungen "modern-westlich", "asiatisch-rückständig" im Falle des russisch-japanischen Krieges gerade nicht zutrafen bzw. sich geradezu umkehrten. Darauf verweist auch Benedikt Stuchtey, der die Folgen für das westliche Selbstverständnis am Beispiel der britischen Sicht untersucht. Dort fügte sich der japanische Sieg gegen das Zarenreich zum einen in die Debatten um den "decline" des Empire, die Furcht vor einer "gelben Gefahr" oder die Diskussionen um eine effektivere Organisation des Weltreiches ein. Zum anderen warnt Stuchtey aber auch davor, die düsteren Prophetien zu überschätzen, Optimismus und Pessimismus hielten sich vielmehr ungefähr die Waage.
Ausdrücklich wird darüber hinaus den Entwicklungen in und für Japan besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Für Josef Kreiner z. B. bedeutete der Krieg für die Homogenitätsbestrebungen der japanischen Regierung, wie sie sich dann in den 20er-Jahren weiter ausformten, einen frühen Höhepunkt. Auch die Militarisierung der japanischen Politik deutete sich an. Außenpolitisch stellt sich der Krieg vor dem Hintergrund der japanischen Geschichte insgesamt weniger als ein "Befreiungsschlag" unterdrückter Staaten dar - wie er nichtsdestotrotz von Unabhängigkeitsgruppierungen von Indien bis Ägypten interpretiert wurde - als vielmehr als Auftakt für den japanischen Versuch, einen eigenen Hegemonialbereich aufzurichten.
Klaus Hildebrand hebt in seiner Gesamtschau neben dem Übergang zur neuen Weltpolitik und manchem "neuen" Zug dieses letztlich doch noch begrenzten Krieges schließlich noch einmal das Verhältnis von innen und außen sowie die Verschiebungen in der imperialistischen Ordnung der Welt am Beginn des 20. Jahrhunderts hervor: "Es sind vor allem drei säkulare Tendenzen der modernen Geschichte, deren historische Bedeutung [...] mit dem ostasiatischen Waffengang deutlich hervorgetreten ist, nämlich: das Verhältnis zwischen Krieg und Revolution; das Verhältnis zwischen Modernität und Kriegführung; und das Verhältnis zwischen kolonialer Herrschaft und kolonialer Emanzipation." (46) Der asiatische Staat handelte "in einem spezifischen Sinne okzidental". Rationalisierung, Ökonomisierung, politische Partizipation wurden "von der bis dahin abhängigen Welt allmählich adoptiert und schließlich gegen die europäischen Väter gewendet." (48 f.)
Es sind diese säkularen Aspekte, die die Autoren besonders betonen. Und am Ende zeigt sich einmal mehr, dass die Frage nach der Verbindung von Kolonialismus und nationalen Entwicklungen als eine Schlüsselfrage der Neuesten Geschichte auch weiterhin wichtige Ergebnisse verspricht - auf der Seite der vom Imperialismus betroffenen Gesellschaften ebenso wie auf der des "Westens".
Friedrich Kießling