Sabine Borchert: Herzog Otto von Northeim (um 1025 - 1083). Reichspolitik und personelles Umfeld (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen; 227), Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2005, 263 S., ISBN 978-3-7752-6027-5, EUR 29,00
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Dem Salier Heinrich IV. gehört das ungebrochene Interesse der historischen Forschung. Gerade in seinem aktuellen 900. Todesjahr ist ihm und seiner Zeit wieder eine Reihe von Ausstellungen und Tagungen gewidmet. Und wirklich ist seine Regierung voll von dramatischen Begebenheiten, von denen hier nur als Stichworte das Kidnapping des Zwölfjährigen durch Erzbischof Anno von Köln 1062, der sächsische Aufstand ab 1073 und der Investiturstreit mit dem nachgerade zum Schlagwort gewordenen Canossagang 1077 genannt seien. Der Blickwinkel, aus dem heraus diese und andere Ereignisse in Heinrichs Leben von der modernen Forschung gedeutet werden, ist seit den reichsgeschichtlich orientierten, in vielerlei Hinsicht immer noch maßgeblichen Grundlagenwerken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein fast durchweg der Blickwinkel des Königtums. Deshalb verdient die vorliegende Leipziger Dissertation von vornherein Aufmerksamkeit, dreht sie doch gewissermaßen einmal den Spieß um und stellt die altbekannten und vieldiskutierten Vorgänge aus der Perspektive Ottos von Northeim dar, der zunächst einer der wichtigsten Mitarbeiter, später einer der wichtigsten Gegenspieler des Königs war.
Nach einem kurzen Überblick über die Quellenlage stellt der erste, weitaus umfangreichste Teil der Arbeit Ottos Werdegang in schlichter chronologischer Folge dar, von seiner ersten Bewährung im Königsdienst, die mit der Erhebung zum Herzog von Bayern 1061 belohnt wurde, über die daraus resultierende aktive Mitgestaltung der Reichspolitik und seinen Sturz aufgrund einer Intrige 1070 bis hin zu Ottos Engagement in der sächsischen Aufstandsbewegung gegen Heinrich IV. und zu seiner Parteinahme für die Gegenkönige Rudolf von Schwaben und Hermann von Salm. Da es sich, wie gesagt, um oftmals diskutierte Gegenstände handelt und auch die Quellenbasis nicht nennenswert erweitert werden kann, darf man sich von Borcherts Arbeit keine sensationellen Neuerkenntnisse erwarten. Vielmehr wird unser Bild von all diesen Vorgängen durch sorgfältige Interpretation der einschlägigen Quellen jeweils um einige Nuancen bereichert.
Allgemein erscheint dabei die Beobachtung bemerkenswert, dass die Protagonisten aus jeweils sehr unterschiedlichen, nicht unbedingt egoistischen, aber doch ganz persönlichen Motiven handeln und dass sie nicht selten aufgrund ihrer Verstrickung in bestimmte persönliche Beziehungsnetze und Interessenlagen auch unter gewissen Handlungszwängen stehen. Diese Einsicht ist zwar an sich keineswegs neu, wird aber selten so konsequent und so überzeugend nachgewiesen wie hier. Und daraus ergibt sich dann oft eine bessere Erklärung für das politische Agieren einzelner Personen als die schematische Zuweisung zu starren Parteien, zum Beispiel für Ottos (letztlich nicht sehr erfolgreiches) Lavieren zwischen Heinrich IV. und den sächsischen Oppositionellen oder für die Unterstützung der Gegenkönige im beginnenden Investiturstreit, die keineswegs mit einer Unterstützung der gregorianischen Reformanliegen gleichzusetzen ist.
Einige Detailergebnisse dieses Abschnitts seien hervorgehoben. So war am Scheitern des geplanten Italienzuges 1067 wohl nicht das Versagen des vorausgeschickten Herzogs Gottfried von Lothringen Schuld, sondern eher das Misstrauen Ottos und anderer Fürsten gegen ihn und seine allzu dominierende Stellung bei diesem Unternehmen (71 ff.). Der Slawenfeldzug von 1069 richtete sich anscheinend nicht gegen die Lutizen, sondern gegen die Obodriten (77 ff.), und die obodritischen Überfälle auf Hamburg und Nordalbingien sind nicht auf 1074/75, sondern bereits auf 1072 zu datieren. Diese Überfälle bilden damit einen der Anlässe für die Unzufriedenheit der Sachsen mit Heinrich IV., der dieser Bedrohung nicht entgegentrat, sondern gerade zu diesem Zeitpunkt sogar militärische Kräfte aus Sachsen abziehen wollte (113 ff.). Zu Beginn des sächsischen Aufstands 1073 war noch keine Absetzung des Königs geplant (117 f.), und der Vorschlag Heinrichs IV. im Jahr 1080, seinen sechsjährigen Sohn Konrad zu einer Art sächsischem Unterkönig zu machen, ist weder fiktiv noch in der Sache abwegig, sondern war ein ernst gemeintes Versöhnungsangebot an Otto von Northeim, der als Stellvertreter des Kind-Königs in Sachsen Hauptnutznießer einer solchen Regelung geworden wäre (160 f.). Ottos eigene Kandidatur im selben Jahr scheiterte schließlich an unterschiedlichen Konzepten für die inhaltliche Ausgestaltung eines Gegenkönigtums, worunter dann auch noch der tatsächlich gewählte Hermann von Salm zu leiden hatte (163 ff.).
Kürzer und auch inhaltlich etwas schwächer ist der zweite Teil der Arbeit. Zunächst werden die wenigen Quellen zu Ottos Wirken als bayerischer Herzog zusammengetragen, die in ihrer Gesamtheit immerhin auf ein stärkeres Interesse Ottos an dieser Provinz hinweisen, als man es gewöhnlich annimmt. Dann werden einige von Ottos persönlichen Kontaktnetzen näher betrachtet, wobei sich Überschneidungen mit dem ersten Hauptteil nicht vermeiden lassen. Und zuletzt werden noch kurz Ottos religiöse Stiftungen in Northeim, Harsefeld und Fulda in den Blick genommen, die jedenfalls nicht auf ein nennenswertes Interesse in Fragen der Kirchenreform hindeuten.
Insgesamt überzeugt die Arbeit zum einen durch löbliche Sorgfalt in der äußeren Form, etwa auch durch die klare sprachliche Gestalt; lediglich die Seitenzahlen im Inhaltsverzeichnis sind mehrfach falsch angegeben. Zum andern beeindruckt die Verfasserin durch ihre stets sehr quellennahen Interpretationen, die auch scheinbare Nebensächlichkeiten nicht unbeachtet lassen. Und zum Dritten fällt über neue Details zur Person Ottos von Northeim hinaus auch neues Licht auf die allgemeine Reichsgeschichte der späten Salierzeit, indem konsequent persönliche Beziehungen analysiert werden, um den Motiven der handelnden Personen auf die Spur zu kommen. Der Anspruch des programmatisch aufzufassenden Untertitels wird konsequent erfüllt, und so manche Merkwürdigkeit, die in herkömmlichen Deutungen rätselhaft bleibt, findet hier eine einleuchtende Erklärung.
So wünscht man sich nach der Lektüre des Buchs auch, dass noch weitere klassische Problemfelder der mittelalterlichen Geschichte einmal unter dem Blickwinkel der beteiligten Personen und ihrer sozialen Bindungen betrachtet werden. Der Ansatz ist zwar kein archimedischer Punkt, von dem aus nun alles und jedes erklärt werden könnte, aber er scheint fruchtbar und verspricht einige neue Einsichten.
Roman Deutinger