Vasily Grossman: A Writer at War: Vasily Grossman with the Red Army 1941-1945. Edited and translated by Antony Beevor and Luba Vinogradova, New York: Pantheon Books 2006, XXI + 378 S., ISBN 978-0375424076, GBP 20,00
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Catherine Merridale: Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939 bis 1945. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl, 2. Aufl., Frankfurt a.M.: S. Fischer 2006
Vasilij Grossman (1905-1964) war auf dem besten Weg ein anerkannter sowjetischer Schriftsteller zu werden, als der deutsche Überfall auf die Sowjetunion sein Leben grundlegend veränderte. 1934, nach der Publikation seiner Erzählung "In der Stadt Berdičev", hatte Maxim Gorkij dem studierten Chemiker den Weg in die literarische Profession geebnet, in der Grossman dann mit dem sozialistisch-realistischen Entwicklungsroman "Stepan Kolčugin" (1937-1940) hervortrat. Die Fortsetzung dieses Werkes verhinderte der deutsche Angriffskrieg, der Grossman früh ganz persönlich traf. Seine Mutter lebte in seinem ukrainischen Geburtsort Berdičev, der schon am 7. Juli 1941 von deutschen Truppen eingenommen wurde. Dass es ihm nicht gelungen war, sie rechtzeitig nach Moskau zu holen, sollte Grossman sein ganzes Leben lang bedrücken. Am 15. September 1941 wurde Ekaterina Savel'evna Grossman zusammen mit weit über Zehntausend anderen Juden aus Berdičev von Einheiten des Höheren SS- und Polizeiführers Jeckeln erschossen. Gewissheit über ihr Schicksal erhielt er allerdings erst, als er Anfang 1944 mit der Roten Armee nach Berdičev kam und das Geschehen eingehend recherchierte.
Kurz nach Kriegsbeginn hatte sich Grossman freiwillig gemeldet. Anfang August 1941 wurde er als Kriegskorrespondent der Militärzeitung "Kraznaja zvezda" ("Roter Stern") an die Front geschickt. Nicht allein sein schriftstellerisches Talent, sondern auch sein Bestreben, die "ungeschminkte Wahrheit des Krieges" zu erfahren und zu berichten, die ihn auch vor lebensgefährlichen Situationen nicht zurückschrecken ließ, machten ihn bald zu einem der populärsten Kriegsberichterstatter der Sowjetunion. Internationale Anerkennung aber brachten Grossman nicht seine Kriegsreportagen ein, sondern eine dokumentarische Arbeit und ein großer Roman, die beide der sowjetischen Zensur zum Opfer fielen. Bei der Ersteren handelt es sich um das "Schwarzbuch" über den nationalsozialistischen Massenmord an den Juden der Sowjetunion, das Grossman zusammen mit Ilja Ehrenburg im Auftrag des 1942 gegründeten und 1948 zerschlagenen Jüdischen Antifaschistischen Komitees der Sowjetunion redigierte und das in der Sowjetunion erst unter Gorbačev erscheinen konnte. [1] Das zweite Werk ist Grossmans Roman "Leben und Schicksal", der zweite Band eines epischen Werkes über den deutsch-sowjetischen Krieg, das rund um die Schlacht von Stalingrad zentriert ist. Schon der erste Teil "Za pravoe delo" ("Für die gerechte Sache", deutsch 1958 unter dem Titel "Wende an der Wolga" in der DDR erschienen) hatte Grossman zunächst zwar Anerkennung, dann aber eine antisemitisch grundierte Attacke des stalinistischen Literaten Bubennov eingebracht, deren mögliche Weiterungen ihm wohl nur durch den Tod des Diktators Stalin erspart blieben. Doch "Leben und Schicksal" ist noch von einem ganz anderen Kaliber. Der hier zu besprechende Band der Kriegsaufzeichnungen Grossmans beginnt mit der Feststellung: "Vasily Grossman's place in the history of world literature is assured by his masterpiece Life and Fate, one of the greatest Russian novels of the twentieth century." (vii) Einer der Gründe für den Rang dieses Werkes ist, dass der Autor keine politischen Rücksichten mehr nimmt. Nicht nur, dass er den Holocaust, dessen antisemitische Spezifik in der Sowjetunion unter Stalin und seinen Nachfolgern mit der Formel von der Verfolgung "friedlicher sowjetischer Bürger" unkenntlich gemacht wurde, in den Rang eines Zentralthemas rückte, war anstößig. Grossman, dessen Epos an vielen Schauplätzen spielt - von den Ruinen Stalingrads bis zu den Hauptquartieren Hitlers und Stalins, von den Wohnungen aus Moskau evakuierter Wissenschaftler in Kazan' bis zum deutschen Vernichtungslager und bis zu den Lagern des GULag - scheute nicht davor zurück, das nationalsozialistische und das stalinistische System zu vergleichen und ihre Ähnlichkeiten hervorzuheben. Zugleich zeigte er den Kampf der Roten Armee gegen die deutschen Eindringlinge als einen Befreiungskrieg, der im Innersten vom Geist der Freiheit getragen ist, welcher indes von Stalin betrogen wird. Gerade heute, wo in Russland die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg wieder verstärkt in die stalinistischen und besonders von Brešnev gepflegten Schablonen gepresst wird, kommt der antistalinistischen und antitotalitären Lesart Grossmans besondere Aktualität zu. [2]
Auch den deutschen Lesern hätte Grossman nach zehn Jahren Diskussion um den Vernichtungskrieg einiges mitzuteilen, insbesondere ein Verständnis dessen, was dieser Krieg für die Angegriffenen bedeutete. Doch das Werk ist vom deutschen Buchmarkt völlig verschwunden. Selbst antiquarisch ist es kaum noch aufzutreiben. Dabei erregte es, als 1984 im Münchner Knaus-Verlag die deutsche Ausgabe erschien, durchaus Aufsehen. Heinrich Böll höchstpersönlich widmete ihm eine ausführliche Rezension. [3] Heute gehört der Knaus Verlag zum Random House-Konzern und beantwortet Anfragen, ob man denn etwa aus Anlass von Grossmans hundertstem Geburtstag an eine Wiederauflage eines der größten russischen Romane des 20. Jahrhunderts denke, mit Serienbriefen zur Abwimmelung der untauglichen Manuskripte literarisch Minderbemittelter. Da hilft auch der Hinweis nichts, dass Random House Canada (Harvill Press) den Roman 2003 neu herausgebracht hat und als "the richest and most vivid account there is of what the Second World War meant to the Soviet Union" bewirbt.
Diese Ignoranz steht in einem schreienden Widerspruch zu der Wertschätzung, die Grossmans Werk in den angelsächsischen Ländern, aber auch in Frankreich oder Italien genießt, wo etwa im Turiner Resistenza-Museum zu seinem 100. Geburtstag im Dezember 2005 eine Ausstellung präsentiert wurde. Wer des Russischen nicht mächtig ist [4] und sich mit Grossmans Werk vertraut machen möchte, muss also entweder auf alte Bibliotheksbestände oder auf englischsprachige Ausgaben seiner Werke zurückgreifen. Diese sind durch die Edition des Historikers Antony Beevor, der mit viel gepriesenen Werken über die Schlacht von Stalingrad und die Einnahme Berlins durch die Rote Armee hervorgetreten ist, und seiner Kollegin und Übersetzerin Lubov Vinogradova, jetzt weiter bereichert worden. Man kann die exzellent erläuterte und kommentierte (einzige Ausnahme die allzu weitgehende Freisprechung des rumänischen Diktators Antonescu vom Delikt des Antisemitismus in Fußnote 10, 267) Ausgabe der Aufzeichnungen Grossmans aus dem Krieg als eine wahrlich ungeschminkte Schilderung des Geschehens aus der Sicht der Rotarmisten lesen. Grossman nimmt die großen Züge oft in ihrer Widerspiegelung in den Details wahr, und er lässt nichts aus: nicht die Grausamkeiten, den professionellen Stolz der Scharfschützen von Stalingrad und den Gesichtsausdruck Toter am Wegesrand, nicht die Freiheitshoffnungen von Sowjetbürgern am Kriegsende, die er schon nicht mehr teilte, und vor allem nicht die mit dem sowjetischen Vormarsch wachsende Erkenntnis über das Ausmaß des deutschen Massenmords an den Juden. "A Writer at War" enthält u. a. Grossmans im "Schwarzbuch" publizierten Bericht über den Holocaust in Berdičev, wo er ebenso eingehende Nachforschungen anstellte wie in Treblinka. Seine Broschüre "Die Hölle von Treblinka" wurde u. a. in russischer und deutscher Sprache veröffentlicht und auch beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess vorgetragen. Grossmans genauer und vorurteilsloser Blick registrierte aber auch das Leid der Besiegten, die zahllosen, von Rotarmisten verübten Vergewaltigungen im besetzten Deutschland etwa, denen jedoch nicht allein deutsche Frauen, sondern auch befreite sowjetische Zwangsarbeiterinnen zum Opfer fielen. Grossmans Helden, die todesmutigen Verteidiger gegen den nationalsozialistischen Vernichtungs- und Versklavungskrieg hatten sich, wie er selbst bedauernd registrierte, mit dem Überschreiten der Grenzen der Sowjetunion zum Schlechteren verändert.
Man kann die Aufzeichnungen Grossmans mit Gewinn als aufschlussreiche Zeugnisse aus dem deutsch-sowjetischen Krieg lesen. Die zweite Art "A Writer at War" zu lesen, nämlich mit dem Hintergrund der Kenntnis von "Leben und Schicksal", ist indes vorzuziehen, denn in seinen Notizen finden sich zwar viele Beobachtungen und Motive wieder, die einem auch dort begegnen, aber bei weitem nicht alles, was der Autor in den Jahren der Arbeit an seinem großen Roman von der gewaltigen Tragik des Krieges verstanden hat. Und wohl niemand hat diese in ihrer menschlichen, moralischen und politischen Tragweite umfassender und eindringlicher beschrieben als Vasilij Grossman.
Anmerkungen:
[1] Wassili Grossman, Ilja Ehrenburg (Hg.): Arno Lustiger (Hg. der deutschen Ausgabe): Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden, Reinbek bei Hamburg 1994.
[2] Maria Ferretti: Unversöhnliche Erinnerung. Krieg, Stalinismus und die Schatten des Patriotismus, in: Kluften der Erinnerung. Rußland und Deutschland 60 Jahre nach dem Krieg = Osteuropa 4-6 (2005), 45-55; Klaus Städtke: Leben und Schicksal. Zur Erinnerung an Vasilij Grossmans Roman, in: Ebenda, 357-264; Jürgen Zarusky: Vasilij Grossmans "Leben und Schicksal" - zur Entstehung und historischen Konzeption eines Jahrhundertromans, in: Florian Anton, Leonid Luks (Hg.): Deutschland, Rußland und das Baltikum. Beiträge zu einer Geschichte wechselvoller Beziehungen. Festschrift zum 85. Geburtstag von Peter Krupnikow, Köln 2005, 245-276; Zur Biografie Grossmans: Semen Lipkin: Žizn' i sud'ba Vasilija Grossmana, Moskau 1990; John Garrard, Carrol Garrard: The Bones of Berdichev. The Life and Fate of Vasily Grossman, New York 1996.
[3] Heinrich Böll: Die Fähigkeit zu trauern, http://www.heinrich-boell.de/leben-werk/werke/w_20pro.htm.
[4] In Ekaterinburg erschien im Jahr 2005 im Verlag U-Faktorija eine zweibändige Werkauswahl Grossmans. Der erste Band enthält den Roman "Leben und Schicksal", der zweite unter anderem die Novelle "Alles fließt", eine fundamentale Abrechnung mit dem sowjetischen Totalitarismus unter Lenin und Stalin.
Jürgen Zarusky