Vanessa Conze: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1970) (= Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 69), München: Oldenbourg 2005, IX + 453 S., ISBN 978-3-486-57757-0, EUR 64,80
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Noch immer hat 'Europa' Konjunktur in der Geschichtswissenschaft: Der Trend zu einer europäischen Geschichtsschreibung, welche nach europäischen Interaktionsmustern, kulturellen Transfers und Parallelitäten fragt, hält an. Im Zuge dieser Entwicklung rücken auch die "Ideen von Europa" in den Fokus der Betrachtung.
Der Geschichte deutscher Europakonzeptionen von der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis in die späten Sechzigerjahre hat nun die Tübinger Historikerin Vanessa Conze eine gewichtige Studie gewidmet. Grundsätzlich geht Conze von einer Pluralität deutscher Europaideen aus, welche zeitweise nebeneinander existierten und ein weites Spektrum umfassten: Dieses reicht von der Westeuropaidee und "Mitteleuropa" über den "Abendland"- und Reichs-Gedanken bis hin zum nationalsozialistischen "Großraum"-Konzept. Conze versteht die differenten Ideen von Europa als "Weltbilder und Ordnungsvorstellungen", die Europa und seine "Gesellschaft(en) nach konfessionellen, ständisch-elitären, imperialen oder auch hegemonialen Vorgaben zu ordnen gedachten" (1). Diese Vorstellungen rivalisierten miteinander, bis sich in den Sechzigerjahren die "Gleichsetzung von liberaler Demokratie, Pluralismus und 'Europa'" (1) und ein "westliches" Selbstverständnis in der Bundesrepublik durchsetzten. Konzeptionell erweitert Conze damit überzeugend den Begriff der "Europa-Idee", der eben nicht nur die Idee europäischer Integration auf der Grundlage von Freiheit und Demokratie umfasst. Für ihre Analyse greift Conze plausibel zwei zentrale Europaideen heraus, nämlich die bereits genannte Idee des "Abendlandes" und jene von "West-Europa". Um auch Trägergruppen und Wirkungsweisen zu beleuchten, konzentriert sich Conze hinsichtlich der Westeuropa-Idee nach 1945 auf die Europa-Union. Im Ganzen präsentiert Conze aber weit mehr als eine Analyse zweier Europaideen und -bewegungen, denn sie liefert zentrale Erkenntnisse zur "Westernisierung" der bundesdeutschen Gesellschaft nach 1945, ja zum Wandel deutscher Ordnungsvorstellungen im 20. Jahrhundert.
Im ersten Hauptteil spürt Conze der Abendland-Idee und deren organisatorischem Arm, der Abendländischen Bewegung, nach. Prägnant arbeitet sie die Begeisterung für das Konstrukt des "Abendlandes" nach dem Ersten Weltkrieg im christlichen, vor allem katholischen intellektuellen Milieu heraus, welches hierin die gemeinsamen kulturellen Wurzeln der europäischen Völker im vorreformatorischen, christlich-katholischen 'Sacrum Imperium' erblickte. Ausgewogen und differenziert analysiert Conze die Idee vor dem Hintergrund eines versäulten Forschungspanoramas, welches das "Abendland" teils polemisch, teils zu wenig kritisch betrachtete. Relativierbar seien diese Auseinandersetzungen, so Conze, wenn man verschiedene Spielarten und Phasen der Idee unterscheide. Eine Variante des "Abendlandes", welche sich bis Ende der 20er-Jahre in der gleichnamigen Zeitschrift artikulierte, propagierte die deutsch-französische Aussöhnung - ohne dass man deshalb Deutschland als "westlich" definierte, war doch der Idee die Vorstellung eines deutschen Sonderbewusstseins zu eigen. Zu ergänzen bleibt hier allerdings noch der Hinweis auf eine dezidiert übernationale abendländische Reichsidee, die vom Pädagogen und Pazifisten Friedrich Wilhelm Foerster geprägt wurde. An Publizität gewannen aber zunehmend national orientierte "Abendländer", welche das Abendland mit einem universalistischen Reichsgedanken und mit der Vorstellung einer besonderen deutschen "Sendung" verbanden. Die Schlüsselbegriffe vom "Reich", einer ständisch-elitären Ordnung und des Antikommunismus sollten dann zum Teil Brückenbauversuche zum Nationalsozialismus bedingen: Viele "Abendländer" verschlossen die Augen davor, dass das völkische Reich des Nationalsozialismus sich "grundsätzlich von ihrer eigenen Vision eines zwar unter Führung der Deutschen stehenden, dennoch aber föderativ gegliederten 'Sacrum Imperium' unterschied" (59). Gleichwohl reichte das Verhaltensspektrum der Abendländer von Identifikation mit dem neuen System - ohne dass dessen rassistische Ideologiekomponente übernommen wurde - bis hin zu Widerstand und Exil.
Nach Kriegsende sollte das "Abendland" eine Renaissance erleben: Während der Reichsgedanke, diskreditiert durch das 'Dritte Reich', als Ordnungsmodell zurücktrat, lebte im konservativ-katholischen und zum Teil protestantischen Milieu das Bild des "Abendlandes" wieder auf: Es traf nun, so Conze, hervorragend den Zeitgeist, beschwor es doch die gemeinsame christliche Vergangenheit der europäischen Nationen, in die auch die Deutschen wieder aufgenommen werden wollten. Zugleich entsprach der Rückgriff auf christliche Orientierungen dem Wunsch nach neuen moralischen Leitbildern abseits der jüngsten Vergangenheit. Berief man sich - wie in der Zeitschrift "Neues Abendland" - zunächst vor allem auf die religiös-kulturell unterlegte abendländische Einheit, so politisierte sich das "Abendland" mit dem offenen Ausbruch des Kalten Krieges Ende der 40er-Jahre: Verstärkt antikommunistisch und antiparlamentarisch ausgerichtet, positionierte sich die Abendländische Bewegung, wie sie sich nun in Organisationen wie der Abendländischen Akademie sammelte, am rechten Rand des politischen Spektrums. Der strikte Antikommunismus ließ die "Abendländer" die Integration in das westliche Bündnis befürworten, wenngleich man die eines liberalen Materialismus verdächtigen Vereinigten Staaten mit Skepsis betrachtete. So nimmt es nicht wunder, dass die "Abendländer" in den 60er-Jahren die Position der "Gaullisten" vertraten, zumal man der Vorstellung eines "Europas der Vaterländer" näher stand als einer Föderation mit supranationalen Elementen. Mit der Öffnung der westdeutschen Gesellschaft und dem zunehmenden Funktionalismus, der in der europäischen Einigung um sich griff, verlor das Konstrukt vom Abendland Anfang der 60er-Jahre seine Wirkmächtigkeit. Doch es gelang dem Kern der Bewegung, die Idee unter Wegfall der dezidiert antiparlamentarischen und antiindustriellen Vorbehalte zu "'modernisieren'" (388) und in die Paneuropa-Union zu übertragen.
Gegenüber der Abendland-Idee hatte sich die (West-)Europa-Idee durchgesetzt, der sich Conze im zweiten Hauptteil widmet. Die Vorstellung von einem kooperierenden oder integrierten West-Europa besaß aber im Gegensatz zum "Abendland" nur sehr bedingt Vorläufer in der Weimarer Republik, unterlag also weitaus stärker einem Wandel in Programmatik und Trägergruppen. Tatsächlich reichte ein dünner Kontinuitätsstrang vom "Verband für europäische Verständigung", den der Demokrat Wilhelm Heile in der Weimarer Republik initiiert hatte, bis zur Mitwirkung Heiles an der Gründung der Europa-Union, dem organisatorischen Träger der Westeuropa-Idee nach 1945. Wesentlich stärker wurde diese Idee allerdings nach 1945 von der Erfahrung des nationalsozialistischen Terrors getragen - wie Conze anhand des Weges von Eugen Kogon darstellen kann. Zudem sollte das horizonterweiternde Erlebnis des Exils in westlichen Ländern eine Öffnung für neue Ordnungsvorstellungen forcieren: Mehrere Emigranten in angelsächsischen Ländern wie der Liberale Hans Albert Kluthe erwiesen sich als offen für das Modell des pragmatisch orientierten Konsensliberalismus, welches sie im Exil anschaulich studieren konnten. So fanden sie zum Leitbild einer europäischen Föderation unter Einschluss eines "verwestlichten" Deutschlands (248 ff.). Eine weitere, hochinteressante Trägergruppe der Westeuropa-Idee bildeten Vertreter der westdeutschen Industrie und Hochfinanz. Spitzen der exportorientierten Unternehmen an Rhein und Ruhr, so Conze, seien bereits in der Zwischenkriegszeit an wirtschaftlicher Verflechtung - nicht politischer Integration - mit den westeuropäischen Nachbarn interessiert gewesen, um eigene Märkte zu bedienen, und dies habe ein Kontinuitätsmoment bis in die Nachkriegszeit gebildet. In Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg hätten sich diese Industriellen relativ zurückhaltend gegenüber den nationalsozialistischen Großraum-Plänen gezeigt - im Gegensatz zur rüstungsorientierten saarländischen Stahlindustrie. Dementsprechend unterstützten die erstgenannten Vertreter der exportorientierten Industrie, aber auch wirtschaftliche Eliten aus dem Umkreis des Widerstandes wie Friedrich Carl von Oppenheim nach 1949 die Westintegrationspolitik Adenauers, um die ökonomische Expansion nach Westeuropa politisch absichern zu können.
Damit sammelte sich innerhalb der Europa-Union ein buntes Spektrum an Kräften, welche die Westintegrationspolitik stützten. Hatte zunächst unter Kogons Regie der Wunsch nach einem föderativ strukturierten europäischen Bundesstaat als 'Dritte Kraft' zwischen Ost und West vorgeherrscht, so übernahmen spätestens mit dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft westlich orientierte, aber auch industrielle Kräfte das Ruder. Nun avancierten das ins westliche Bündnis integrierte "atlantische Europa" (342) und ökonomische Überlegungen zu Gunsten eines Gemeinsamen Marktes zu Zielvorstellungen; zunehmend öffneten sich wohl auch die wirtschaftlichen Eliten in der Europa-Union supranationalen Integrationselementen. Auf dieser ideellen Grundlage positionierte sich die Europa-Union in den 60er-Jahren auf Seiten der "Atlantiker". Dabei verband die Europa-Union mit der (west-)europäischen Integration das "konsensliberale Denken" (341), also den Wunsch, in Deutschland das liberal-demokratische, "westliche" Gesellschaftssystem zu verankern. Mit der Durchsetzung dieser westlichen Europa-Idee in den 50er- und 60er-Jahren endete die Rivalität unterschiedlicher Bilder vom "Europa der Deutschen". Diesen Entwicklungsprozess hat Vanessa Conze in ihrer eindrucksvollen, überaus stringenten und glänzend geschriebenen Analyse anschaulich herausgearbeitet.
Elke Seefried