Didier Nourrisson / Yves Perrin: Le barbare, l'etranger. Images de l'autre (= Travaux du Centre de Recherche en Histoire; Vol. 2), Saint-Etienne: Presse Universitaire de Saint-Etienne 2005, 419 S., ISBN 978-2-86272-356-3, EUR 25,00
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Der zu besprechende Band versammelt neben Vorwort und Einleitung der Herausgeber 25 Beiträge zum Thema Fremdheit und Alterität, deren zeitliches Spektrum vom klassischen Ägypten bis in die Gegenwart reicht. Die Texte sind in zwei etwa gleich umfangreiche Blöcke unterteilt, denen das 19. Jahrhundert als Grenze dient. Der Blick richtet sich vornehmlich auf Europa, es kommen jedoch auch Beispiele aus dem Maghreb und Armenien zur Sprache.
Nourrisson und Perrin postulieren in ihrer gerade einmal fünf Seiten langen Einleitung, dass für das Thema Fremdheit die Realität weniger bedeutend ist als ihre Repräsentationen, dass jedes theoretische Konzept den zu untersuchenden Zeiten und Orten anzupassen sei und dass der historische Kontext des spezifischen Phänomens grundsätzlich mit einbezogen werden müsse (9). Die Herausgeber gehen davon aus, dass es Fremdheit zwar zu allen Zeiten gegeben habe, der Beginn des 19. Jahrhunderts aber eine Zäsur darstelle. Nach diesen sehr kurz gehaltenen Allgemeinplätzen wird, etwas überraschend, der erste Code de la nationalit é in Frankreich aus dem Jahr 1889 als Beispiel für einen zu konstatierenden Übergang vom 'Barbaren' zum 'Fremden' angeführt, der bereits im Titel des Bandes zum Ausdruck kommt (12). Ob die Herausgeber nun aber in dieser juristisch-staatsbürgerlichen Definition den Grund sehen, das 19. Jahrhundert als Wasserscheide der Fremdheitsthematik zu deuten, bleibt unklar. Stattdessen wird hier zum ersten Mal eine grundsätzliche konzeptuelle Unsicherheit deutlich: Kulturwissenschaftliche und juristische Definitionen des Fremden werden teils verwechselt, teils gleichgesetzt, kaum jedoch sorgfältig getrennt oder gezielt auf ihr Verhältnis untersucht.
Nourrisson und Perrin sehen im pharaonischen Ägypten den "archétype originel de la définition des identités collectives par opposition aux autres" (10) und begründen so nicht nur die Reichweite des Sammelbandes, sondern verweisen damit auch auf eine anthropologische Dimension von Fremdheit, auf die allerdings in den einzelnen Beiträgen - aus denen hier lediglich einige exemplarisch herausgegriffen werden sollen - nicht eingegangen wird. Isabelle Venturini (La perception de l'étranger dans les contes de l'Égypte du Nouvel Empire) zeigt in ihrem Beitrag, dass die ägyptische Gesellschaft kein Wort für "Barbar" kannte und Fremdheit an den Ufern des Nils eher auf ein kosmisches Verständnis abhob. Der idealistischen Einheit des Pharaonenreiches wurde das Chaos des Universums entgegen gestellt (19). Die Figur des Barbaren stand somit keineswegs am Beginn der abendländischen Auseinandersetzung mit dem Fremden und wurde erst von den Griechen systematisch zur Ausbildung einer eigenen Zivilisation verwendet (69). Dies geschah vor allem im Theater, wie Éric Perrin-Saminadayar (Images, statut et acceuil des é trangers à Athènes à l'époque hellé nistique) ausführt, wobei das Wort Barbar im Laufe der Zeit wieder aus dem offiziellen attischen Vokabular verschwand (76). Der Autor sieht die Aufgabe der griechischen Philoxenia in einer "entreprise calculée dont le but est de donner une image favorable d'Athènes" (90).
Im antiken Rom hingegen war der Barbar ein noch zu erobernder und damit in gewisser Hinsicht ein 'Noch-nicht-Römer'. Der am prominentesten und nachhaltigsten von Tacitus formulierte "phantasme du barbare" (122) diente aber auch in Rom, wie Manuel de Souza darstellt, zur Stärkung der eigenen Identität ( La religion des autres à Rome à la fin de la République et au début de l'Empire: Celtes et Germains en parallèle). Das römische Kaiserreich ging in seinem Universalitätsanspruch sogar noch weiter: Es kannte kein Wort für den 'Fremden' (123), wie Mitherausgeber Yves Perrin in seinem Beitrag feststellt (À propos de Sénèque. Modernité de la question de l'étranger à Rome au Haut-Empire). Einmal mehr wird dabei nicht deutlich, ob sich diese Feststellung auf einen juristischen Sachverhalt beschränkt, also ein Wohnsitz innerhalb der Stadtmauern grundsätzlich mit der Staatsbürgerschaft einherging oder sich auch als kulturelles Charakteristikum im Verhalten der Bürger widerspiegelte.
Mit Papst Gregor dem Großen hielt die Idee des Barbaren ihren Einzug ins Mittelalter, wie Bruno Judic ausführt (Grégoire le Grand et les barbares). Wie immer mussten die Barbaren auch im ausgehenden 6. Jahrhundert als Negativfolie herhalten, diesmal zur Stärkung der Person des Kaisers, denn, wie der Kirchenvater meinte: "Face aux barbares, il y a l'Empereur" (139). Allein, der Leser muss bis zum Beitrag von Wolfgang Kaiser und dessen Erwähnung Georg Simmels warten, um für all diese Beispiele einen ersten theoretischen Bezugspunkt zu erhalten (185). In seinem Beitrag (Voisins barbares et des hôtes qui restent. Pratiques d'assimilation et de démarcation à Marseille (XVe-XVIIe siècles) geht Kaiser als erster und einziger auf die prinzipiellen Unterschiede zwischen einer kulturellen und einer juristischen Definition von Fremdheit ein: "L'acte de naturalisation officiel n'efface pas les traces d'une différence" (189).
Der dem 19. und 20. Jahrhundert gewidmete zweite Teil des Bandes wird mit einem Beitrag von Frédéric Chauvaud über Vampire und Serienmörder als eigenständige Figuren des Fremden eröffnet (Le 'vampire' et le tueur sanguinaire: deux figures de l'étranger au XIXe siècle). Der 1862 hingerichtete Martin Dumollard, der als erster Serienmörder von Frauen vorgestellt wird, und Henri Pranzini, der 1887 auf die Guillotine geschickt wurde, dienen als Beispiele. Chauvaud ist sich jedoch nicht sicher, worin genau die Fremdheit dieser ruchlosen Gestalten besteht, und sieht sich gezwungen, der wiederholt angesprochene konzeptuellen Unsicherheit des Bandes folgend, diese über die Nationalität der Protagonisten herzustellen (222). War es nun aber wirklich die ungarische Abstammung Dumollards oder gar die intensive Reisetätigkeit Pranzinis, dessen Geburtsort dem Leser vorenthalten bleibt, die sie zu Fremden machte? Judith Walkowitz' nicht erwähntes City of Dreadful Delight hätte dem Autor hier viele wertvolle Hinweise geben können, wie in einem spezifisch urbanen Kontext Alterität und Anormalität zur Festschreibung bürgerlicher Wertvorstellungen konstruiert wird. [1]
Der nachfolgende Beitrag von Nicole Verney-Carron (L'apport des étrangers dans la formation du patronat stéphanois au XIXe siècle) spiegelt endgültig die grundsätzliche Problematik eines nicht näher definierten Fremdheitsbegriffs wider. Hier werden nicht aus der Stadt stammende Industrieunternehmer und Firmenbesitzer in Saint-Étienne geradezu leichtfertig als Fremde subsumiert. Ein ähnlicher Befund drängt sich auch bei dem Beitrag von Gèrard Berger auf (De la haine envers l'ennemi: à propos de la Grande Guerre). War im Ersten Weltkrieg der deutsche Soldat für den französischen wirklich ein Fremder? War dieser Hass, wenn es ihn je gegeben hat (wie eine zur Zeit verbittert geführte Debatte unter französischen Zeithistorikern fragt, aber auch der Beitrag selbst andeutet), denn tatsächlich ein Resultat des Gegenübers mit einem Fremden?
Ein Resümee zu ziehen fällt nicht leicht. Die zeitübergreifende Problematik des Fremden kommt im Band zwar gut zum Ausdruck, wird jedoch nie auf ihre anthropologische Komponente hinterfragt oder erweitert. Es wird keinerlei Konzept des Fremden oder des Barbaren präsentiert, das es erlauben würde, den Band als Einheit zu begreifen. Ein Thema von Ägypten bis zur Gegenwart zu untersuchen ist in der heutigen Wissenschaftslandschaft nicht unbedingt üblich und schon allein deshalb ein Verdienst, da es den Spezialisten einlädt, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken. Dies jedoch ohne eine konzeptuelle Erläuterung, um nicht zu sagen: ohne eine Definition des (äußerst schwierig zu fassenden) Begriffs des Fremden zu tun, heißt aber nichts anderes als den Band zu mangelhafter Kohärenz zu verdammen, die vor allem gegen Ende immer nachhaltiger ins Auge springt. Dazu trägt nicht zuletzt das fehlende Sachregister bei. Geradezu konsternierend ist hingegen die theoretische Sorglosigkeit der Autoren, die jegliche methodologische Beschäftigung mit der breiten Forschungsliteratur zum Thema Fremdheit und Alterität vermissen lässt. So erfährt der Leser viele interessante und sorgfältig erarbeitete Details, die aber zu keinem Zeitpunkt an die auf breite kulturwissenschaftliche Debatte zum Thema Fremdheit anschließen oder explizit Bezug nehmen.
Anmerkung:
[1] Judith Walkowitz: City of Dreadful Delight. Narratives of Sexual Danger in Late-Victorian London, Chicago 1992.
Volker Barth