Nike Bätzner (Hg.): Faites vos jeux! Kunst und Spiel seit Dada, Ostfildern: Hatje Cantz 2005, 222 S., 159 Farb-, 95 s/w-Abb., ISBN 978-3-7757-1621-5, EUR 34,00
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Der Begriff des Spiels ist in den vergangenen Jahren immer wieder bemüht worden, um Phänomene der Kunst des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart zu erklären - zuletzt in den Bänden 176 und 178 "Kunst und Spiel" des Kunstforum International. Auch ist in den vergangenen Jahrzehnten eine ganze Reihe von Einzeluntersuchungen erschienen, in denen - meist monografisch - versucht wurde, Aspekten des Spielerischen in bestimmten Kunstströmungen und bei ausgewählten Künstlern nachzugehen. Das vorliegende Katalogbuch nun möchte die spezifischen, strukturellen Verbindungen der Kunst des 20. Jahrhunderts zum Spiel untersuchen. Es spüre, so der Selbstanspruch, der prinzipiellen Frage nach, ob Kunst und Spiel etwas gemein hätten, ob die "Vorstellung vom Zeitvertreib des Spiels mit den Vorstellungen einer erhabenen, kontemplativ wahrnehmbaren und autonomen Kunst" kollidiere und ob "der Spieltrieb Motor des Künstlers" sein könne (9). Katalogbuch und gleichnamige Wanderausstellung mit Stationen in Vaduz, Berlin und Siegen versuchen mithin, die Analogie von "Kunst und Spiel seit Dada" auf sehr grundsätzliche Weise in den Blick zu nehmen und erstmals in einen größeren kunsthistorischen Zusammenhang zu stellen.
Für die bildende Kunst des 20. Jahrhunderts sei, so gibt die Herausgeberin und Kuratorin der Ausstellung Nike Bätzner im Einführungsessay die Argumentationslinie vor, "das Spielerische ein entscheidender Aspekt" (20). Die historische Avantgarde habe eine "Auflösung und generelle Verletzung des bis dahin gültigen Regelkanons" betrieben. Der Dadaismus habe eine "karnevalistische Erweiterung des Kunstbegriffs" verfolgt, der Surrealismus eine Tür zum Unbewussten zu öffnen und die Kunst "von ihren akademischen Verkrustungen" zu befreien versucht (21). "Zufall und Regel", "Regelverletzung und Modifizierung der Regelsysteme" (22) seien dabei die zentralen Aspekte, die es erlaubten, Kunst und Spiel analogisch zu betrachten. Inhaltlich ausgebaut wird dieser Rekurs auf die historische Avantgarde vor allem in den Katalogbeiträgen von Gunda Luyken und Jürgen Pech, die sich der Strategie des dadaistischen Spiels und den jeux surréalistes widmen. Bereits hier wird deutlich, was sich in den übrigen neun Essays immer wieder aufweisen wird: Kunst im Modus des Spiels vermag - insbesondere über den Einfluss des Zufalls - Kontingenzen zu erwirken und damit den tradierten Kunstbegriff zu subvertieren. Die Entgrenzung der Kunst also aus dem Geiste des Spiels.
Es gebe, so führt Bätzner aus, grundsätzlich zwei miteinander verschränkte Auffassungen der Verbindung von Kunst und Spiel, die sie zum Leitfaden der Argumentation verknüpft: Zum einen nämlich seien "bestimmte Ausformungen von Kunst durch spielerische Prinzipien geprägt", dort nämlich, wo Kunst im Modus des Spiels begegnet (sei es durch Partizipations- und Interaktionsangebote, sei es, indem das Kunstwerk 'Spiel' wie auch immer thematisiert, sei es, dass es seine Gestalt einem spielerischen oder spielähnlichen Technikeinsatz verdankt). Zum anderen gebe es "eine grundsätzliche Analogie von Kunst und Spiel" (23). Um das Feld dieser grundsätzlichen Ähnlichkeitsbeziehungen abzustecken, hält sich Bätzner nicht lange damit auf, im eiligen Rückgriff auf Schiller, Huizinga und Caillois eine "Theorie des Spiels" historisch herzuleiten, sondern geht sogleich dazu über, die "prinzipiellen, strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Kunst und Spiel" zu behaupten: Kunst und Spiel "gelten jeweils als 'frei' und nicht notwendigerweise der Vernunft gehorchend, ohne Pflicht oder Verpflichtung zur Wahrheit. Spiel und Kunst sind selbstregulative Systeme, die vordringlich kein Ziel außerhalb ihrer Sphäre kennen. Sie sind aus dem Alltag herausgehoben, der 'Spielplatz' hat einen Raum und eine Zeit für sich und seine eigenen Gesetze" (25).
Zweckungebundenheit, Eigengesetzlichkeit und Alltagsentbundenheit: Dies also wären die Parameter an denen sich die grundsätzliche Spielhaftigkeit der Kunst je bemessen lassen müsste, wenn denn die ausgewählten (nebenbei bemerkt: sehr anspruchsvoll reproduzierten) Werkbeispiele nicht eh schon im Gewand des Spiels respektive Spielerischen aufträten - eine Auswahl, die von Duchamps notorischer Roulette-Obligation und vielfältigen Collagen und Lautspielen Dadas über die aleatorischen Bilder- und Wortspiele des Surrealismus weiter zu den Nonsens-Schachteln und Event-Arrangements der Fluxus-Künstler bis zu künstlerischen Selbstinszenierungen, Installationen und realen oder vermeintlichen Spielobjekten der Gegenwartkunst reicht (wie beispielsweise Zbigeniew Liberas skandalumwittertes Lego-Konzentrationslager von 1995). Es kann Ausstellung und Katalog also nicht allein und vornehmlich um die prinzipielle Analogie von Kunst und Spiel gehen, die die Kunst der Moderne als "irreduzible Eigenart" (39) wie ein roter Faden durchzöge. Ausgangspunkt sind vielmehr die ganz konkreten Bezüge bildender Künstlerinnen und Künstler auf außerkünstlerische Spiele beziehungsweise die Adaption von Spielmechanismen für deren Werkschaffen.
Interessanterweise reflektieren die meisten der 13 Autorinnen und Autoren in ihren Essays jedoch weniger diese Bezüge und Aneignungen, als dass sie die Entgrenzung der Kunst und die Wende zum Prozessualen und Ephemeren in der Begrifflichkeit des Spiels zu beschreiben beziehungsweise im Analogieschluss von Spiel und Kunst zu erklären versuchen. So kommt etwa Michael Lüthy in seinem lesenswerten Essay "Der Einsatz der Autonomie" zu dem Schluss: "Je mehr in der Moderne das Werk mit dem performativen Akt seiner Hervorbringung zusammenfällt, desto geringer wird die Trennschärfe zwischen Kunst und Spiel" (45). Vor den Folgen dieser Entwicklung warnt Philip Ursprung in seinem Beitrag "Hat die Kunst ausgespielt oder: Was ist aus den Spielplätzen geworden?", wenn er schreibt, die meisten zeitgenössischen Künstler hielten "ihr Publikum gerade dadurch bei der Stange, dass sie Spiele für es aufführen und es zugleich auf Distanz rücken." Wenn er, Ursprung, die Kunst der letzten Jahrzehnte Revue passieren lasse, dann falle ihm auf, "dass ständig von 'Partizipation' der Betrachter, von deren 'Aktivierung' und 'Involvierung' die Rede ist. Aber welchen Anteil haben die Betrachter tatsächlich an den Kunstwerken?" (184). Mit dieser Frage ist der blanke Nerv jener Apologeten der Spielhaftigkeit getroffen, die Handlungsvollzug und Ereignishaftigkeit als Werte an sich postulieren und dabei übersehen, dass in spielerischen Rezeptionshaltungen ausgerechnet jene (selbstreflexive) Spiel-Erfahrung zu entschwinden droht, die der Kunst der Moderne allererst ihr Subversionspotenzial verlieh. Prägnant fasst dies Ruth Sonderegger in ihrem spieltheoretischen Aufsatz, wenn sie schreibt, derartige Spielobjekte hätten die problematische Tendenz, "Kunst auf ein Kinderspiel oder aleatorische Experimente zu reduzieren und von der Bedeutungsdimension des ästhetischen Spiels abzulenken" (143).
Wollte man die hervorragend zusammengestellten Katalogbeiträge auf eine zentrale Behauptung eng führen, so ließe sich sicher sagen, dass, wie von Bätzner behauptet, die Analogie zwischen Kunst und Spiel eine doppelte, zweiseitige ist: Erstens, Kunstwerke seit Dada haben bisweilen das Spiel zum Inhalt, sind selbst Spiel oder bedienen sich des "metaphorischen Potential[s] des Spiels" (173). Zweitens, die Kunst seit Dada teilt mit dem Spiel grundsätzliche Eigenschaften wie beispielsweise die Zweckungebundenheit. Es läge also nahe, von den zwei Seiten einer Medaille zu sprechen. Den wechselseitigen Bezug dieser beiden Seiten beleuchtet zu haben, ist sicher das Verdienst der vorliegenden Publikation - um den Preis freilich, diese zwei Seiten über die Maßen ineinander zu blenden wie die zwei Halbbilder eines rotierenden Thaumatrops. So müssen Fragen offen bleiben. Beispielsweise ob sich zeitgenössische Kunst im Modus des Spiels wirklich noch durch Entgrenzungstendenzen oder Eigengesetzlichkeit und Alltagsentbundenheit oder durch das metaphorische Potenzial des Spiels erklären beziehungsweise kunstkritisch legitimieren lässt, oder ob hier nicht nunmehr ganz andere Mechanismen walten. Wäre man ein Spielverderber, dächte man zum Beispiel an bloße Publikumsgefälligkeit und Marktgängigkeit?
Lars Blunck