Friedrich Breckling: Autobiographie. Ein frühneuzeitliches Ego-Dokument im Spannungsfeld von Spiritualismus, radikalem Pietismus und Theosophie. Herausg. u. kommentiert v. Johann Anselm Steiger (= Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext; Bd. 109), Tübingen: Niemeyer 2005, 160 S., ISBN 978-3-484-36609-1, EUR 44,00
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Mathias Lauberer, Vater und Sohn: Mein haußbiechlein. Schreibende Schuhmacher im 17. Jahrhundert. Hrsg. von Fabian Brändle und Sebastian Leutert (= Selbst-Konstruktion. Schweizerische und Oberdeutsche Selbstzeugnisse 1500-1850; Bd. 2), Basel: Schwabe 2005, 126 S., ISBN 978-3-7965-2116-4, EUR 33,50
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Birgit Wagner / Christopher F. Laferl: Anspruch auf das Wort. Geschlecht, Wissen und Schreiben im 17. Jahrhundert. Suor Maria Celeste und Sor Juana Inés de la Cruz, Wien: WUV 2002
Johannes Burkhardt / Hildegard Gantner-Schlee / Michael Knierim (Hgg.): Dem rechten Glauben auf der Spur. Eine Bildungsreise durch das Elsaß, die Niederlande, Böhmen und Deutschland. Das Reisetagebuch des Hieronymus Annoni von 1736, Zürich: TVZ 2006
Ein Vorurteil hält sich zäh in der Autobiographieforschung der verschiedensten kulturwissenschaftlichen Disziplinen: Das 17. Jahrhundert sei eine Verfallszeit des Autobiographischen, behauptete Werner Mahrholz 1919 [1], und Dutzende pinselten die Behauptung ohne weitere Prüfung ab. In jüngster Zeit allerdings häuft sich in Geschichtswissenschaft, Theologie und Literaturwissenschaft das Interesse gerade an der Autobiographik dieses so lange vernachlässigten Jahrhunderts. Ein Desiderat der Forschung sind dabei sorgfältige Editionen von handschriftlich überlieferten Texten. Dass der Theologe Johann Anselm Steiger die Lebens-Chronik des Spiritualisten Friedrich Breckling herausgibt und die Historiker Fabian Brändle und Sebastian Leutert das "haußbiechlein" zweier Colmarer Schuhmacher publizieren, verdient deshalb von vornherein hohes Lob. Das Hausbuch der Elsässer Handwerker ist zudem Band 2 der Reihe "Selbst-Konstruktion. Schweizerische und Oberdeutsche Selbstzeugnisse 1500-1850" im Basler Schwabe Verlag und schon auf den ersten Blick ein schön gestaltetes Büchlein. Die Herausgeber der Reihe Kaspar von Greyerz und Alfred Messerli wollen in diesen Bänden dezidiert "die Quellenbasis der neueren Selbstzeugnis-Forschung" (Vorwort der Herausgeber der Reihe "Selbstkonstruktion", Lauberer, 7) erweitern.
Dies ist für die Frühe Neuzeit dringend erforderlich. Schließlich standen Untersuchungen zur Autobiographik dieser Zeit sehr oft vor der schweren Entscheidung, entweder theoretische Verallgemeinerungen zu versuchen, dann mussten sie dies aus arbeitsökonomischen Gründen sehr oft anhand der schmalen Basis bisher schon publizierter autobiographischer Texte tun, oder sich eines Materials anzunehmen, dass nur als Manuskript vorlag. Solche Studien widmen sich dann - verständlicherweise - nur einem kleinen Corpus von Schriften; Vergleiche und damit zwangsläufig eine theoretische Durchdringung kamen dabei gelegentlich zu kurz.
Beide Editionen zeichnen sich durch editorische Berichte, kulturwissenschaftliche Einordnungen, durch eine sorgfältige Kommentierung, die den Text in seinen historischen Kontext stellt, und durch Register zu Orten und Personen aus: Sie können somit beide zur hervorragenden Grundlage für autobiographiegeschichtliche Forschung werden und leisten diese zum Teil schon selbst, so vor allem Fabian Brändle in seinen einleitenden Bemerkungen zum "haußbiechlein".
Die schreibenden elsässischen Schuhmacher Lauberer und der schleswigsche Theologe Breckling haben wenig miteinander gemein: Mathias Lauberer der Ältere (1625-1691), Hauptautor des "haußbiechlein", wurde katholisch getauft und von protestantischen Pflegeeltern erzogen, sein Text nennt - hausbuchtypisch und in hausbuchtypischer annalistischer Form - Eltern und Schwiegereltern, die eigene Eheschließung und die der Kinder, Geburten, familiäre Todesfälle, Patenschaften und außergewöhnliche Ereignisse. Die stehen in Colmar zu Lauberers Zeit allesamt im Zusammenhang von Krieg und Frieden. Lauberers "haußbiechlein" bezieht dezidiert Position gegen die französische Herrschaft in der ehemaligen freien Reichsstadt. Glaubensfragen, konfessionelle Auseinandersetzungen zwischen Katholiken, Lutheranern und Reformierten waren mit den politischen Ereignissen der letzten beiden Drittel des 17. Jahrhunderts in diesem Raum untrennbar verbunden, doch Lauberer lässt sie unkommentiert, sie spielen in diesem autobiographischen Text keine Rolle.
Anders in Friedrich Brecklings (1629-1711) Selbstzeugnis: Der Theologe, Dissenter und Spiritualist aus Handewitt bei Flensburg beschrieb 12 Folio-Seiten mit seinem Lebenslauf - Steiger nennt ihn "Autobiographie", Breckling selbst hat sein Manuskript nicht betitelt. Möglicherweise waren die Folio-Seiten zum Binden eines Hausbuchs gedacht, der Herausgeber äußert sich dazu nicht. Breckling jedenfalls beginnt ganz nach Art der Familienchronisten mit der Genealogie seiner Familien väter- und mütterlicherseits. Der Pflege familiärer Memoria entspricht auch, dass er seine Heirat einträgt und Geburt und gegebenenfalls Tod der Kinder notiert. Er tut dies in einer Kürze und Sachlichkeit, die selbst im Kontext der buchhalterischen frühneuzeitlichen Autobiographik erstaunt. Das Schicksal der zum Schreibzeitpunkt [2] noch lebenden beiden Kinder würdigt Breckling in keinem weiteren Eintrag. Entsprechend der Gelehrtenautobiographik informiert der Schreiber über Schul- und Universitätsbesuche, Studienreisen, berufliche Stationen und Publikationen.
Mit denen kommt dann der Dissenter zur Sprache: Immer mehr wird die Lebensbeschreibung zum Erinnerungsspeicher der Händel mit der Amtskirche und des sozialen, widerständigen Netzwerks, mit dem Breckling in Kontakt steht: Er verzeichnet zu jedem Jahr Besucher, Freunde, Bekannte. Wie der elsässische Schuhmacher wird auch der schleswigsche Theologe darüber hinaus zum Chronisten seiner Zeit, allerdings fokussiert er auf andere Ereignisse: Annalistisch zählt er den Tod von Freunden oder auch einfach von prominenten Zeitgenossen auf. Als Chiliast sieht er mit dem Jahrhundert offenbar auch die Welt zu Ende gehen und notiert - zum Teil in Formeln der Apokalypse (etwa 85) - Unwetter, Himmelserscheinungen, Seuchen und Katastrophenfälle.
Die beiden Editionen führen damit den Lebensweg zweier sehr verschiedener Menschen des 17. Jahrhunderts vor Augen, und diese Lebensläufe übernehmen unterschiedliche Funktion. Aber die Form ist ähnlich: Der Schuhmacher und der Theologe sind beide "Buchhalter ihres Lebens"[3], notieren annalistisch und chronikalisch, auch wenn sie im Rückblick schreiben. Eine geschlossene Narration ist ihre Sache nicht. Die Familienchronistik, die Mischgattung Hausbuch bildet ein multifunktionales Gefäß, das die verschiedensten Aufgaben erfüllen kann: Familien- und politische Stadtchronik im einen Fall, Gelehrtenautobiographie und Erinnerungsspeicher eines Dissenters im anderen, bei dem die Aufgabe der familiären Memoria, weil Breckling an die Endzeit glaubt, immer mehr in den Hintergrund tritt.
Insofern lässt sich Steigers Fazit in den "Bemerkungen zum Text der Quelle", die im Wesentlichen auf einen Aufsatz aus dem Jahr 1997 zurückgehen, nicht nachvollziehen: "Autobiographie, Chronik und apokalyptischer Traktat verbinden sich in dieser Schrift zu einer literarischen Mischgattung, die m. W. formgeschichtlich bislang kaum bekannt ist und unter den frühneuzeitlichen 'Ego-Dokumenten' [...] eine wenn nicht einzigartige, so doch besondere Stellung einnehmen dürfte."
In seiner Interpretation von Brecklings Autobiographik kommt Steiger allerdings zu einem Ergebnis, das mit neueren Untersuchungen, die Steiger nur am Rande berücksichtigt, durchaus kompatibel ist: Autobiographik im 17. Jahrhundert ist nicht nur eine Folge des Pietismus, sondern entsteht auch in anderem Umfeld, und frühneuzeitliche Autobiographen suchen nicht in erster Linie nach einer 'Individualität', sondern kontextualisieren die eigene Person, ordnen sie ein in Bezüge zu anderen Menschen, zu Gott und in den geschichtlichen Ablauf ihrer Zeit: Auch Brecklings Text ist damit eher Autobiographik im weiteren denn Autobiographie im engeren Sinn, bleibt ausschließlich an der Darstellung der äußeren Person interessiert und bricht (noch) nicht auf zur Stilisierung eines kohärenten, autonomen Subjekts.
Anmerkungen:
[1] Werner Mahrholz: Deutsche Selbstbekenntnisse. Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus, Berlin 1919.
[2] Der lässt sich nicht genau rekonstruieren. Steiger äußert sich nicht dazu. Der letzte Eintrag nennt Ereignisse des Jahres 1704, Breckling starb 1711. Für ein Schreiben im Rückblick sprechen die zusammenfassenden genealogischen Bemerkungen am Anfang des Textes.
[3] Benigna von Krusenstjern: Buchhalter ihres Lebens. Über Selbstzeugnisse aus dem 18. Jahrhundert, in: Klaus Arnold u. a. (Hg.): Das dargestellte Ich, Bochum 1999, 139-146.
Eva Kormann