Reinhard Nachtigal: Kriegsgefangenschaft an der Ostfront 1914-1918. Literaturbericht zu einem neuen Forschungsfeld, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005, 162 S., ISBN 978-3-631-53358-1, EUR 29,80
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Rund neun Millionen Soldaten gerieten zwischen 1914 und 1918 in Kriegsgefangenschaft, mehr als die Hälfte davon an der Ostfront. Das Schicksal der Kriegsgefangenen gehörte lange zu den eher vernachlässigten Feldern der Militärgeschichtsforschung. Das galt für alle Schauplätze des Ersten Weltkriegs, insbesondere aber für die Ostfront. In letzter Zeit hat sich das jedoch geändert. Nicht zuletzt jüngere deutsche Wissenschaftler bearbeiten dieses Forschungsfeld und so konnten beispielsweise Uta Hinz und Georg Wurzer Monografien zu den Kriegsgefangenen in deutschem Gewahrsam und den Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Russland vorlegen. [1] Auch Reinhard Nachtigal hat mit seiner Freiburger Dissertation über österreichisch-ungarische Kriegsgefangene in Russland, mit einer Reihe von Aufsätzen und einer Studie zum Kriegsgefangeneneinsatz bei einem russischen Eisenbahnprojekt zur Erschließung des Themenfeldes beigetragen. [2]
Mit der Materie vertraut und dank der Sprachkenntnisse in der Lage, die Ergebnisse der russischen Forschung umfassend zu rezipieren, hat Nachtigal nun einen Literaturbericht veröffentlicht. Angelegt ist die Untersuchung nicht als Aneinanderreihung von Rezensionen, sondern sie folgt einer Systematik, die allerdings nicht immer ganz einleuchtet. So wird im ersten Hauptteil unter der Überschrift "Allgemeines" relativ ausführlich auch die nationale und religiöse Propaganda der Mittelmächte unter den russischen Kriegsgefangenen behandelt, nicht im folgenden Hauptabschnitt "Österreich-Ungarn und Deutschland als Gewahrsamsmächte", während die politische Instrumentalisierung von Nationalitätenproblemen der Habsburgermonarchie durch das Zarenreich dem dritten Hauptkapitel "Russland als Gewahrsamsmacht" zugeordnet wird. Auch zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass letztlich doch die Diskussion der von Nachtigal besprochenen Monografien den Aufbau der Untersuchung in weiten Teilen prägt. So sind die Kapitel "Die Kriegsgefangenen in den Lagern Sibiriens" und "Gefangenschaft als Struktur- und Organisationsgeschichte der russischen Kriegsgesellschaft" vor allem der Arbeit von Wurzer gewidmet, während unter der Überschrift "Gefangenschaft als Geschichte der Revolution 1917-1920" ausschließlich eine Auseinandersetzung mit der zu diesem Thema 2003 publizierten Studie von Hannes Leidinger und Verena Moritz zu finden ist. [3] Alon Rachamimovs vergleichsweise breit angelegte Untersuchung zur Kriegsgefangenschaft an der Ostfront steht im Zentrum des Abschnitts "Loyalität und staatliche Fürsorge - österreichisch-ungarische Gefangene in Russland". [4]
Wer angesichts des Inhaltsverzeichnisses einen klar gegliederten Überblick über das Themenfeld erwartet, wird also enttäuscht. Die offensichtlich angestrebte Mischung aus Wissensvermittlung und kritischer Analyse der Forschungsmeinungen ist wenig übersichtlich. Dennoch bietet Nachtigal einen guten Einstieg in die einschlägige Literatur. Sein Bericht eignet sich insofern als Hilfsmittel zum gezielten Bibliografieren und zeichnet zudem Konturen der Forschungsdiskussion nach, die auch militärhistorisch interessierten Lesern weitgehend unbekannt sein dürften. Deutlich erkennbar wird Nachtigals besonderes Interesse für die völkerrechtliche Dimension in der Praxis der Behandlung von Kriegsgefangenen, so beispielsweise für die wichtige Rolle von Reziprozität und Repressalie oder für die völkerrechtswidrige Rekrutierung von Kriegsgefangenen. Die teilweise katastrophale Behandlung vor allem österreichisch-ungarischer Gefangener in Russland nicht vergessen zu lassen, ist Nachtigal ein Anliegen. Er stellt klar, dass es sich dabei nicht um einen Versuch gezielter Massentötung handelte, sondern um ein Versagen politischer Kontrolle gepaart mit einer erheblichen Gleichgültigkeit gegenüber völkerrechtlichen Normen. Insgesamt lässt Nachtigals Literaturbericht erkennen, wie stark die Forschung noch von Detailstudien dominiert wird und wie schwierig es selbst heute ist, ein klares Bild der Entscheidungsprozesse, Strukturen und konkreten Erscheinungsformen von Kriegsgefangenschaft an der Ostfront zu gewinnen. Trotz der Forschungsanstrengungen der letzten Jahre mangelt es noch an großen, länderübergreifenden Synthesen und an der vergleichenden Einordnung eines zentralen erfahrungsgeschichtlichen Aspekts des Großen Krieges.
Anmerkungen:
[1] Uta Hinz: Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914-1921, Essen 2005 [Vgl. Hierzu die Rezension in sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8, URL: http://www.sehepunkte.de/2006/07/10071.html]; Georg Wurzer: Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Russland im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2005 [Vgl. Hierzu die Rezension in sehepunkte 6 (2006), Nr. 3, URL: http://www.sehepunkte.de/2006/03/9738.html].
[2] Reinhard Nachtigal: Russland und seine österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen 1914-1918, Remshalden 2003; ders.: Die Murmanbahn. Die Verkehrsanbindung eines kriegswichtigen Hafens und das Arbeitspotential der Kriegsgefangenen, Grunbach 2001.
[3] Hannes Leidinger/Verena Moritz: Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr. Die Bedeutung der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa 1917-1920, Wien 2003.
[4] Alon Rachamimov: POWs and the Great War. Captivity on the Eastern Front, New York 2002.
Günther Kronenbitter