W.J.T. Mitchell: What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images, Chicago: University of Chicago Press 2005, xxi + 380 S., 16 plates, 94 fig., ISBN 978-0-226-53245-5, USD 35,00
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In einer Zeit, da Bilder wachsende Bedeutung nicht nur als Darstellung haben, sondern den Betrachter dazu bringen, bestimmte Meinungen zu vertreten oder Produkte zu kaufen, indem sie ihm zu einem bestimmten Image verhelfen, kurz: da Bilder immer größeren Einfluss auf unser gesamtes Weltbild haben, drängt sich zunehmend die oft bange Frage auf: Was wollen diese offenbar wirkmächtigen Bilder? Da hier klassische Ansätze der Kunstgeschichte zu kurz zu greifen scheinen, arbeiten die Bildwissenschaften oder visual studies an einem Ansatz, der die Bilder nicht nur mit klassischen Mitteln wie einer Stilanalyse erforschen, sondern unter Hinzunahme von Medienwissenschaften, Philosophie, Soziologie und weiterer Disziplinen zu einer umfassenderen Beschreibung des Wesens der Bilder kommen will.
Als einer der ersten Vertreter der visual studies stellt W.J.T. Mitchell im Titel seins Bandes "What do pictures want?" die Ausgangsfrage ausdrücklich und teilt seine Untersuchung formal in drei Bereiche: a) Bilder als materielle Objekte, b) Bilder als Erscheinungen, Ideen, Muster oder Images und c) die Rolle der Medien beim Erzeugen von Bildern und Images. Inhaltlich zieht er jedoch den Einstieg mit Bildern als Ideen oder Muster vor und kann so mit aktuellen Bezügen beginnen, welche der Leser aus den Nachrichten kennt, und welche die unmittelbare Relevanz der Problemstellung nachvollziehbar machen. So sind seine ersten beiden Beispiele das Klon-Schaf Dolly und das World Trade Center: das eine als tatsächlich lebendiges Abbild menschlichen Gestaltens, das andere als Ziel, dessen Zerstörung keinen unmittelbaren militärischen Nutzen hat. Indem die Türme als reines Symbol bestimmte Menschen soweit beleidigt hätten, dass sie deren vernichtenden Hass auf sich ziehen konnten, seien sie in gewisser Weise als Akteure anzusehen. Ebenso das geklonte Schaf. Zwar hätte wohl niemand etwas gegen dieses eine Schaf, doch würde es als Symbol einer hybrischen, weil Leben schaffenden Technologie die Abscheu insbesondere religiöser Gruppen entfachen. Beide - das World Trade Center und Dolly - lösten also als Bilder etwas aus und könnten mithin als Handelnde in einem sozialen Zusammenhang angesehen werden, als Idole, die Forderungen an ihre Betrachter stellen. Dabei sei das Handeln der Bilder in der modernen Gesellschaft zu relativieren, eine kindliche Vorstellung von lebendig werdenden Dingen sei übertrieben. Die Frage sei daher nicht: "Was tun Bilder?", sondern tatsächlich: "Was wollen Bilder?", womit die Überschrift des zweiten Kapitels gegeben ist. Entsprechend verschiebt sich hier auch Mitchells Beispiel vom tatsächlich lebenden Schaf zum Rekrutierungsposter, das den Betrachter durch Uncle Sam explizit zuruft: "I want you!" Doch auch weniger plakative Bilder äußerten Wünsche. So gäben die weißen Flächen von Robert Rauschenberg nichts mehr zu sehen und drückten damit den Wunsch aus, nicht als Bild und mithin nicht als Wollendes wahrgenommen zu werden, was allerdings wiederum ein Wunsch sei. Diese unterschiedlichen Wünsche verschiedener Bilder führen Mitchell zu seiner Antwort auf die Titelfrage: Bilder wollen gefragt werden, was sie wollen. Sie wollen einen Wunsch auslösen. Für die Art und Weise, in der Bilder den Betrachter in eine Richtung lenken, gibt Mitchell zwei Möglichkeiten: Zum einen könnten sie in ihm etwas in Gang bringen, was er daraufhin selbst weiterverfolgt (Wittgenstein vergleicht dies in einer Textstelle, die Mitchell immerhin angibt, mit dem Verstehen einer Zahlenreihe, die dadurch weitergeführt werden kann). Zum anderen könnten Bilder ihrem Betrachter "vorangehen", wie es die Israeliten vom Goldenen Kalb erwartet hätten. In beiden Fällen gehe von Bildern eine Initiative aus, durch die sie lebendig zu werden schienen. Zwar könnten diese Wirkungsweisen vom modernen Betrachter durchschaut werden, doch hätten Bildern immer noch etwas Bedrohliches, da sie noch immer wirksam blieben und damit Kräfte im Betrachter und in sozialen Strukturen auslösten, die nicht unbedingt wünschenswert seien.
Die Frage des Titels scheint mithin nach einem Drittel des Buches bereits beantwortet, doch lässt Mitchell sich die Gelegenheit nicht entgehen, seine Position in den visual studies umfassender darzustellen. Im zweiten Teil untersucht er daher, inwieweit Bilder als materielle Objekte Wirkungen entfalten können, wobei der Bezug zur ursprünglichen Problemstellung eher weiträumig anhand einiger Beispiele eingekreist wird. Die Arrangements von Alltagsgegenständen durch Jeff Koons etwa würden erst durch die Struktur, in welche vorgefundene Dinge organisiert werden, zu Bildern. Schade, dass Mitchell hier den Bezug zu Wittgenstein auslässt. Immerhin bildet sich in dessen Theorie die Aussage eines Satzes in sehr vergleichbarer Weise erst aus der Beziehung einzelner Wörter zueinander, womit auch die Ähnlichkeit des pictorial turn zum älteren linguistic turn anschaulich zu machen gewesen wäre. Ein Vergleich, den Mitchell mit seinem Beispiel der "Schwarzen Madonnen" von Chris Ofili hätte fortführen können, ist doch der Skandal um dieses Bild nicht durch das Bild, sondern durch die Verwendung eines bestimmten Materials in unterschiedlichen Sprachspielen entstanden - Elefantendung wird in Europa als Beleidigung und nicht, wie in Afrika, als Huldigung an die Fruchtbarkeit verstanden.
Das darauf folgend untersuchte Verhältnis von Objekten und Imperien ist ein zweifelsohne interessantes Thema, das aber nur noch teilweise in das vorliegende Buch zu passen scheint. Hier zeigt sich, dass es sich beim vorliegenden Band nicht um ein konsistentes Werk handelt, sondern um die Zusammenstellung mehrerer Texte, welche aus Aufsätzen der Jahre 1994 bis 2003 zu jeweils pointierten Fragestellungen hervorgegangen sind.
Der dritte Teil des Buches ist den Medien gewidmet. Medien seien nicht nur die Transportmittel von Informationen, sondern auch die Systeme, in denen Information von Sendern zu Empfängern transportiert würden, insofern selbst wiederum soziale Systeme. Insbesondere wenn die Theorie der Medien in die Medienpraxis eingebettet sei - genannt werden hier als Beispiele Malerei, Skulptur und Film -, entstünden wiederum Metabilder, Images.
Abgeschlossen wird das Buch mit einer Betrachtung der visual studies an sich. Es sei nicht zu befürchten, dass diese Disziplin den Unterschied zwischen Kunst und Massenbildern verwische, da beide auch innerhalb dieser Disziplin stets voneinander unterscheidbar blieben. Ferner würden auch die wünschenden Bilder innerhalb der visual studies nicht als reine Sender betrachtet. Vision entstünde immer erst zwischen Bild und Betrachter.
Die Frage "What do pictures want?" wird von W.J.T. Mitchell anhand der Beispiele von Werbung bis abstrakter Malerei erfreulich umfassend untersucht, was sicher eine Stärke des Buches ausmacht. Doch so breit sein Fundament an Beispielen ist, so schmal scheint er bestehende Literatur in seine Überlegungen aufgenommen zu haben. Für einen gesicherten Standpunkt, den eine Monografie eines der prominentesten Vertreters seiner Disziplin eigentlich beanspruchen darf, greift er zwar gern auf große Namen zurück, bezieht sich dabei aber recht häufig auf englischsprachige Zusammenstellungen ( "The Freud Reader" oder "The Deleuze Reader", "The Vienna School Reader" zu Otto Pächt) oder auf englischsprachige Übersetzungen, was bei Autoren wie Wittgenstein oder Heidegger zu Verständnisschwierigkeiten führen kann und manche Anknüpfungsmöglichkeiten ungenutzt lässt. Ebenso ungenutzt bleibt Mitchells Chance, sich mit anderen Positionen der Bildwissenschaften auseinander zu setzten. So wird Gottfried Boehm, der immerhin etwa zeitgleich und unabhängig von Mitchells pictorial turn den iconic turn beschrieben hat, nur am Rande, aber immerhin erwähnt. Warnungen wie die von Rosalind Krauss [1] vor einer Erosion der Kompetenzen klassischer Kunstgeschichte scheint Mitchell zwar in seinem letzten Abschnitt im Bewusstsein gehabt zu haben, doch verzichtet er auch hier auf eine Benennung der Position, mit der er seine eigene ohne Angst hätte konfrontieren können.
"What do pictures want?" hinterlässt den Eindruck eines eigentlich kürzeren Buches, dem weitere Beiträge aus dem Umfeld seines Themas angefügt wurden, und das dabei Möglichkeiten zur weitergehenden Untersuchung seiner Problemstellung ungenutzt lässt.
Anmerkung:
[1] Rosalind Krauss: Welcome to the cultural revolution in: October 77 (1996), 83-96.
Jan Bykowski