Uli Jung / Martin Loiperdinger (Hgg.): Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland. Bd. 1: Kaiserreich 1895-1918, Stuttgart: Reclam 2005, 537 S., 190 Abb., ISBN 978-3-15-010584-9
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Klaus Kreimeier / Antje Ehmann / Jeanpaul Goergen (Hgg.): Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland. Bd. 2: Weimarer Republik 1918-1933, Stuttgart: Reclam 2005, 673 S., 130 Abb., ISBN 978-3-15-010585-6
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Peter Zimmermann / Kay Hoffmann (Hgg.): Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland. Bd. 3: 'Drittes Reich' 1933-1945, Stuttgart: Reclam 2005, 827 S., 180 Abb., ISBN 978-3-15-010586-3
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Wenn der "dokumentarische Kontinent" bislang weit gehend "Terra incognita" war (II, 15), so hat sich dies nun grundlegend geändert: Unter der Gesamtleitung von Peter Zimmermann, seit 1992 wissenschaftlicher Leiter im Stuttgarter Haus des Dokumentarfilms, entstand ein monumentales dreibändiges Werk, das auf mehr als 2.000 Seiten nicht nur punktuell etwas Licht in die Dunkelheit des bisherigen Unwissens zu bringen versucht, sondern eine zum Teil sehr genaue Kartografie vorlegt. Verblüffen muss allerdings, dass die "Geschichte des dokumentarischen Films" - dem Titel nach - nicht über das Jahr 1945 hinauszugehen scheint.
Den vielleicht größten Erkenntnisgewinn präsentiert gleich der erste, von den Trierer Medienwissenschaftlern Uli Jung und Martin Loiperdinger nicht nur herausgegebene, sondern auch in beträchtlichem Maße selbst geschriebene Band zum frühen Dokumentarfilm vor 1918. Eindrücklich vermögen sie zu zeigen, wie brüchig sich das traditionelle Begriffs- und Zeitraster bei genauerer Betrachtung erweist: Was heißt schon 'Dokumentarfilm' in einer Zeit, in der es noch gar keine 'Spielfilme' gab, sondern ein "Kino der Attraktionen" (I, 32), in dem das bloße 'Zeigen' des Abgebildeten im Vordergrund stand, nicht das mehr oder minder fantasievolle Erzählen und schon gar nicht das deutende Erklären? Wendet man so eingestimmt dann den Blick vom 'Kino' späterer Zeit zu den damals üblichen Unterhaltungsformen, in denen die ersten "Films" präsentiert wurden - auf dem Jahrmarkt, im Varieté -, so zeigt sich eine ganze Fülle konkurrierender Möglichkeiten von 'lebenden Fotografien', sodass auch '1895', das Datum des Beginns der traditionellen Filmgeschichte, ins Schwimmen gerät. Als viel wichtigere Zäsur wird deshalb die Zeit um 1910 herausgestellt, in der sich erst mit längeren und abendfüllenden Filmen das Kino in heutigem Verständnis herausbildete. Die nächste Zäsur folgte dann bereits in den Jahren des Ersten Weltkriegs, als der internationale Filmaustausch zusammenbrach und speziell auf dem Feld des dokumentarischen - oder angemessener: des nicht-fiktionalen - Films sich ein ganz neues Propagandainteresse etablierte.
Die Quantität des eigentlich zu Behandelnden lässt sich nur noch näherungsweise abschätzen: Mindestens 10.000 Filme gänzlich unterschiedlicher Länge mögen es gewesen sein, von denen einmal "nur ein geringer Bruchteil" erhalten blieb - verblüffenderweise ein andermal aber doch auf Grund von drei großen Restaurierungsprojekten "an die 2500 frühe nicht-fiktionale Filmaufnahmen in bestmöglichen Kopien zugänglich" sind (I, 23 bzw. 29). Auf jeden Fall stellt sich die Materiallage weitaus günstiger dar als etwa für die frühe Hörfunk- und Fernsehgeschichte.
Nach einem einleitenden Kapitel ist die Forschungsreise im ersten Band weitgehend chronologisch organisiert: Martin Loiperdinger gibt einen prägnanten Einblick in die Welt der Bildautomaten und Kinematografen vor 1900; Joseph Garncarz analysiert die Bedeutung nicht-fiktionaler Filme für das Varieté und das - für die weitere Entwicklung wesentlich wichtigere - Wanderkino für die Jahre 1896-1907; Jung, Loiperdinger, Brigitte Braun und Karsten Hoppe wenden sich danach den Nummernprogrammen in ortsfesten Kinematografentheatern in den Jahren 1907-1910 zu (wobei der Trierer Standort vielleicht etwas zu viel Berücksichtigung findet); Jung betrachtet allein die "Umbrüche durch Einführung des Langfilms" (1912-1914), und schließlich mit Wolfgang Mühl-Benninghaus zusammen die "Front- und Heimatbilder im Ersten Weltkrieg" (wozu Ivo Blom einen Exkurs zu den Niederlanden beisteuert).
Dieses plausible Schema wird an verschiedenen Stellen allerdings nicht ganz überzeugend aufgebrochen. Es mag noch angehen, dass Jung seine Darstellung der "Filme für Lehre und Bildung" als Kapitel 6 verselbstständigt hat. Aber warum geschah dies auch mit dem fünften Kapitel, dessen Titel "Von der 'Ansicht' zum dokumentarischen Genre" eine Art Entwicklungsgeschichte suggeriert, dann aber doch in eine Reihe von Analysen einzelner Genres (von den Wochenschauen bis hin zur von Annette Deeken verfassten "Geschichte und Ästhetik des Reisefilms") zerfällt? Zumindest hätte man in diesen Kontext auch die etwas deplatziert bei Garncarz angehängten Abschnitte über die höchst moderne "Filmpropaganda des Deutschen Flottenvereins" und die von Wolfgang Fuhrmann behandelten "Filmaufnahmen aus Afrika" einfügen können; und auf jeden Fall hätte eine engere Verknüpfung der Texte erfolgen müssen. Im Sinne verbesserter selektiver Nutzbarkeit wäre es angebracht gewesen, häufiger mit Querverweisen zu arbeiten und so - um nur ein Beispiel zu nennen - die Behandlung von "Wilhelm II. als Filmstar" durch Garncarz und Loiperdinger aufeinander zu beziehen.
Eine vergleichbare, aber noch viel dezidiertere Kritik ist an den beiden Bänden zu Weimarer Republik und NS-Staat zu üben. Vor allem in den jeweils einleitenden Kapiteln zu den Forschungskontexten wird zwar überzeugend herausgearbeitet, wie wenig eine an der politischen Zäsur von 1933 orientierte Filmgeschichtsschreibung den tatsächlichen Entwicklungen gerecht wird - dass der vielleicht viel wichtigere Einschnitt bereits Anfang der 1930er-Jahre mit dem Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm stattfand und die "Entwicklung von den 1920er bis in die 1940er Jahre [...] weit fließender und widersprüchlicher [war] als die politischen Zäsuren von 1933 und 1945 vermuten lassen" (II, 12). Aber bei der Darstellung der Projektergebnisse fand diese Einsicht nur begrenzt Eingang. Im Wesentlichen versuchte man, die Zeitabschnitte von 1918 bis 1933 und von 1933 bis 1945 getrennt voneinander zu behandeln. Und weil dies immer wieder an Grenzen stieß, gibt es nicht nur eine Menge Überschneidungen, sondern auch erhebliche und unerfreuliche Sucharbeit für den am Gesamtzeitraum interessierten Leser, weil konsequent auf interne Querverweise verzichtet wurde.
Am Störendsten erweist sich dies bei den zahlreichen Abschnitten, die einzelnen Genres oder herausragenden Filmern gewidmet sind. Kerstin Stutterheim liefert so in jedem Band einen Beitrag zum Tier- und Naturfilm; Gerlinde Waz schreibt genauso über Expeditions-, Kolonial- und ethnografische Filme; und Thomas Meyer über Missionsfilme der evangelischen Kirche. Alle drei hätten sich mit jeweils einem größeren Beitrag sicherlich leichter getan - und am Ende wären die Bände vielleicht auch noch etwas dünner ausgefallen.
Ähnlich sieht es bei dem großen Kapitel "Grenzgänger" im zweiten Band aus, in dem nicht nur ausführlich Walter Ruttmann (von Karl Prümm) und Arnold Fanck (von Klaus Kreimeier) vorgestellt werden, sondern auch noch Wilfried Basse und Heinrich Hauser (von Antje Ehmann). Sie alle werden von Peter Zimmermann und Kay Hoffmann im dritten Band noch einmal vorgestellt - wenn auch weit weniger ausführlich als im zweiten (III, 110ff). Querverweise fehlen in allen Fällen. Die Herausgeber setzen also auf den engagierten, eifrig das glücklicherweise in allen Bänden vorhandene Personenregister nützenden Leser, der mit diesem Hilfsmittel dann ohne weiteres festzustellen vermag, dass etwa der im dritten Band neben den bereits Genannten behandelte Hans Cürlis im zweiten nicht etwa vergessen wurde. Er galt nur nicht als "Grenzgänger" und wurde deshalb als einziger einzelner Regisseur im Kapitel "Kulturfilm-Genres" untergebracht.
Eine etwas elegantere Gliederung hätte nicht nur den erheblichen Umfang des dritten Bandes reduzieren können, auch die 'Dramaturgie' des Gesamtwerks hätte gewonnen. Nach dem gewählten Modell hat es der zweite Band nämlich schwer, sich zwischen den beiden anderen zu behaupten, weil ihm die spannenderen, nicht nur den Spezialisten interessierenden Themen fehlen. So werden in seinem dritten Kapitel die verschiedenen traditionellen "Kulturfilm-Genres" und im fünften unter dem Titel "Dokumentarischer Film und Modernisierung" die moderneren Aspekte des Werbefilms, des Industriefilms und der Verfilmung des avantgardistischen Bauens und Wohnens dargestellt. Es werden filmtechnische Neuerungen und die bereits erwähnten "Grenzgänger" dargestellt. Ohne Zweifel werden da wichtige Informationen ausführlich präsentiert. Aber man muss schon an sich halten, um nicht gleich weiter zu blättern und im dritten Band die Kapitel über die "Propagandafilme der NSDAP", die "Propagandafilme im Zeichen des Zweiten Weltkriegs" und die "'Deutsche Wochenschau' im Zweiten Weltkrieg" aufzuschlagen.
Während über die Zahl der nicht-fiktionalen Filme in der Weimarer Republik auf Grund der außerordentlich schlechten Überlieferungslage keine Aussage gemacht werden, ist die der NS-Jahre recht genau spezifizierbar. Insgesamt sind "rund 850 längere (mehr als 36 Minuten) und 11.000 kürzere Dokumentar- und Werbefilme nachgewiesen worden"; 8-9.000 davon dürften Reklamefilme der Produktwerbung von höchstens fünf Minuten Länge gewesen sein. "Hinzu kamen etwa 4.000 deutsche Wochenschauen" (die nur für die Kriegsjahre komplett erhalten sind) sowie "rund 1.000 Lehr- und Unterrichtsfilme" (III, 38). Versucht man auf der Basis dieser Angaben, die Laufdauer insgesamt zu überschlagen, wird man zu einer Größenordnung von ungefähr 200.000 Film-Minuten kommen - was gut 2.000 Filmen von 90-minütiger Dauer entspräche. Im Vergleich dazu wurden anhand der Zensurunterlagen "etwa 1.350 Spielfilme für die Zeit des 'Dritten Reichs'" ermittelt (ebda.).
Im (in allen drei Bänden gleich lautenden) Vorwort wird zwar gleich zu Beginn davon gesprochen, dass es "nicht nur um eine Auseinandersetzung mit Filmen, die für die Formenentwicklung wichtig oder typisch sind," gehe, "sondern auch um mediale Produktionsbedingungen im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung sowie um Distribution, öffentliche Diskussion und Rezeption", die letztgenannten Aspekte bleiben jedoch gerade in den Bänden zu Weimarer Republik und NS-Staat recht unterbelichtet. Viel häufiger wünscht man sich dabei ausdrückliche und dezidierte Stellungnahmen. Zu oft wird stattdessen zu ausführlich das Vorhandene in möglichst vielen Facetten beschrieben - mit der Folge des Einbezugs sehr vieler Co-Autoren (am Ende listet der dritte Band 32 Verfasser auf, während es beim ersten nur 9 sind).
Eine ausdrückliche Ausnahme bildet eigentlich nur Kay Hoffmann. Im Abschnitt "Antisemitische Hetze" stellt er klar: "Berücksichtigt man die zentrale Bedeutung, die der Antisemitismus in der nationalsozialistischen Politik spielte, überrascht es, wie selten antisemitische Propaganda in den Kulturfilmen und der Wochenschau zu finden sind, sieht man von dem Hetzfilm 'Der ewige Jude' ab" (III, 624). Wichtiger wären antisemitische Spielfilme gewesen und noch wichtiger die antisemitische Hetze in den Zeitungen - auch wenn man ein Fragezeichen hinter seine Behauptung setzen muss, dass Organe wie der 'Völkische Beobachter' oder 'Das Reich' "für die Gefolgschaft der NSDAP erschienen" wären (III, 625).
Hoffmann ist auch der Einzige, der sich ausführlicher mit Fragen der Rezeption und der Publikumswirksamkeit der gebotenen Inhalte beschäftigt. Für die Kriegswochenschauen kommt er zum Ergebnis, dass "insbesondere nach Beginn des 'Russlandfeldzugs' im Sommer 1941 das Interesse merklich nachließ" (III, 683) und sie dann "mit der beschönigenden Darstellung der verheerenden Niederlage in Stalingrad und des deutschen Rückzugs [...] endgültig ihre Glaubwürdigkeit verloren" (III, 686) - ein Befund, den er mit einem Blick auf die Ergebnisse der Hörfunkgeschichte noch hätte abstützen können; immerhin thematisiert er zumindest knapp die Anfänge des Fernsehens (III, 299-308), zu denen mittlerweile ja eine beachtliche Literatur vorhanden ist.
Und Kay Hoffmann ist es schließlich auch, der eine Frage stellt, die gleich das nächste große Projekt des Stuttgarter Hauses des Dokumentarfilms leiten könnte: "Wie sah diese Filmpropaganda <sc. die der nationalsozialistischen Kriegs-Wochenschauen> im Vergleich zu der der Alliierten aus? War sie skrupelloser, demagogischer oder raffinierter?" (III, S. 687). Eine direkte Antwort fehlt; der Blick auf die Schweizer Verhältnisse (III, 450-461) kann in diesem Zusammenhang nicht mehr als ein erster Anfang sein.
Wenn die drei Bände der "Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland" auch monumentaler aussehen, als sie es dann inhaltlich tatsächlich sind, so darf in keiner Weise in Abrede gestellt werden, wie viel Material hier zusammengetragen und wie deutlich gemacht wurde, dass Filmgeschichte sich nicht in Spielfilmgeschichte erschöpfen darf.
Konrad Dussel