Michael Müller: Fürstbischof Heinrich von Bibra und die Katholische Aufklärung im Hochstift Fulda (1759-88). Wandel und Kontinuität des kirchlichen Lebens (= Quellen und Abhandlungen zur Geschichte der Abtei und der Diözese Fulda; XXVIII), Fulda: Verlag Parzeller 2005, 451 S., ISBN 978-3-7900-0368-0, EUR 14,90
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Als vor fast zwanzig Jahren die Diskussion um die Katholische Aufklärung, angeregt durch eine Tagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts, ihrem vorläufigen Höhepunkt zustrebte, drehte sich die Auseinandersetzung vor allem um eine Frage: War die Katholische Aufklärung eine verspätete Übertragung der Prinzipien der protestantischen Aufklärung auf die katholischen Reichsteile, gleichsam eine nachholende Entwicklung intellektueller Modernisierungsprozesse durch den in Rückstand geratenen Katholizismus, oder schöpfte sie, zumindest partiell, aus eigenen geistigen Traditionen und kann mithin (auch) als ein von genuin katholischen Strömungen geprägtes Phänomen betrachtet werden?[1] In der Zwischenzeit hat sich die damals heftig geführte Debatte merklich beruhigt, ist streckenweise fast zum Erliegen gekommen, ohne jedoch einen wirklichen Abschluss gefunden zu haben. Die Frage nach dem wahren Charakter der Katholischen Aufklärung harrt weiterhin einer überzeugenden Antwort.
Ein Weg, sich dieser Fragestellung anzunähern, führt sicherlich über Regionalstudien, die die Leitideen der Katholischen Aufklärung auf eine praktische Ebene herunterbrechen und den geistigen Wurzeln katholischen Reformhandelns im späten 18. Jahrhundert nachgehen. Genau dies hat sich die kirchengeschichtliche Dissertation von Michael Müller über das Hochstift Fulda zum Ziel gesetzt. In der Diskussion um den historischen Ort der Katholischen Aufklärung bezieht sie eindeutig auf Seiten jener Autoren Stellung, die autochthonen Entwicklungen als Erklärungsmodell den Vorzug geben (10 f.); inhaltlich widmet sie sich den annähernd drei Jahrzehnten zwischen Siebenjährigem Krieg und dem Ausbruch der Französischen Revolution, die als Hochzeit der Katholischen Aufklärung in dem geistlichen Kleinstaat gelten können und unweigerlich mit dem Namen des Fürstbischofs Heinrich von Bibra verbunden sind.
Mit dem Benediktinermönch von Bibra bestieg 1759 ein Mann die fuldische Cathedra, der sich deutlich von seinen barock geprägten Vorgängern abhob und dessen Selbstverständnis als "erster Diener seines Staates und als verantwortlicher Hirte seines Bistums" (32) entschieden moderne Züge aufwies. Gleich anderen Fürstenbischöfen der Zeit brachte er ein umfassendes Reformprogramm auf den Weg, das insbesondere im kirchlichen Bereich tiefe Spuren hinterließ. Müller konzentriert sich in seiner Untersuchung denn auch ausschließlich auf die Maßnahmen der geistlichen Regierung des Hochstifts. Im Anschluss an einleitende Überblickskapitel zur Person Bibras und zur Struktur der kirchlichen Verwaltung behandelt er nacheinander Neuerungen im Bereich des Klerus, der Seelsorge und der Volksfrömmigkeit.
In ihrer Stoßrichtung und Ausgestaltung entsprachen diese Reformen jenen anderer katholischer Territorien. Es ging den Verantwortlichen in Fulda um die Formung einer am aufgeklärten Ideal des Volks- und Sittenlehrers geschulten Priesterschaft, um eine zeitgemäße religiöse Unterweisung, um eine stärker muttersprachliche Liturgie und die Ausrottung abergläubischer Praktiken. Die Herausgabe eines überarbeiteten Katechismus (1762), eines neuen Diözesanrituales (1765), eines deutschen Gesangbuchs (1778) oder eines pastoraltheologischen Lehrbuchs (1788-91) zählten deshalb ebenso zu den von Bibra eingeleiteten Maßnahmen wie die Besserstellung der im Hochstift lebenden Protestanten, eine Simplifizierung der Begräbnisfeierlichkeiten oder Einschnitte bei Wallfahrten und Feiertagen.
Unterschied sich Fulda in dieser Hinsicht nicht grundsätzlich von anderen geistlichen Staaten, so kann Müller immerhin darauf verweisen, dass einige der Neuerungen relativ früh erfolgten - der neue Katechismus wurde etwa einige Jahre vor dem weit bekannteren Werk Johann Ignaz Felbigers publiziert - oder ein besonders langes Nachleben aufzuweisen hatten. Gesangbuch und Katechismus blieben in Fulda bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, das Ritual sogar bis zum Zweiten Vaticanum im Gebrauch, was die Langzeitwirkung der Katholischen Aufklärung unterstreicht.
Weniger bekannte und für die allgemeine Diskussion um die Katholische Aufklärung aufschlussreiche Aspekte vermag Müller seinem Thema immer dann abzugewinnen, wenn er die Beweggründe hinter Bibras Reformen analysiert und sie auf den gewissermaßen erst im späteren 18. Jahrhundert zu sich selbst kommenden Reformimpuls des Trienter Konzils zurückführt. So habe sich Bibras Selbstverständnis maßgeblich aus dem tridentinischen Bischofsideal, das im 18. Jahrhundert im Bild des "guten Hirten" neuen Auftrieb erhielt, gespeist. Sein primäres Ziel sei es gewesen, die Seelsorge als die vornehmste Aufgabe der Kirche zu stärken und von barocken Überwucherungen zu befreien. Auf die Beschlüsse des Tridentinums gingen etwa die Verbesserung der Priesterausbildung und der Pfarrverwaltung, die Durchführung regelmäßiger Visitationen oder der Erlass von Fastenmandaten zurück, wobei sich letztere aus der Feder eines Mannes, der von seinem Leibarzt als "ungeheur dick und fett" (35) beschrieben wurde, reichlich komisch ausnehmen.
Selbst das Einschreiten gegen hypertrophe Formen der Frömmigkeit erscheint in diesem Lichte nicht mehr nur als Ausfluss wirtschaftlicher Erwägungen oder vernunftgeleiteter Kritik am Aberglauben, wie oft zu lesen ist. Vielmehr erfolgten Maßnahmen gegen Wallfahrten und Bruderschaften auch, um Vorgaben des Trienter Konzils zur Stärkung der Ortspfarrei als dem eigentlichen Zentrum kirchlichen Lebens Nachdruck zu verleihen. Die während des Barocks auf Kosten der Pfarreien erfolgte Aufwertung von Wallfahrts-, Bruderschafts- und Klosterkirchen in der Seelsorge sollte rückgängig gemacht werden. Gleichzeitig erklärt der Einfluss des Tridentinums aber auch den gemäßigten Charakter vieler Reformen. Wo andernorts Verbote von Feiertagen und Wallfahrten statuiert wurden, beschnitten die fuldischen Behörden zwar vermeintliche Auswüchse, stellten ihre Existenz aber nicht grundsätzlich in Frage. (Gerade Müllers Ausführungen zu den Wallfahrten (364-367) sind allerdings nicht frei von inneren Widersprüchen.) Wo andernorts Geistliche zu besseren Staatsbeamten verkamen, standen in Fulda weiterhin die "Verkündigung des Wortes Gottes" und die "Feier der Sakramente" (127) im Mittelpunkt des Priesteramts. Zusammen mit der benediktinischen Prägung des Hochstifts sorgte das Vorbild Trients für eine gemäßigt aufgeklärte Kirchenpolitik.
In all diesen Beispielen ist die These von der Katholischen Aufklärung als Erbin und Vollstreckerin des Trienter Konzils durchaus überzeugend nachgewiesen. An anderen Stellen regen sich jedoch immer wieder Zweifel, ob der Einfluss der Kirchenversammlung nicht überschätzt wird. So lassen sich bei weitem nicht alle Reformen bruchlos auf Konzilsdekrete zurückführen, zumal sich die Problemlage in vielen Bereichen seit dem 16. Jahrhundert grundlegend verändert hatte, wie Müller selbst zugesteht (z. B. 63, 125). Bisweilen erliegt die Studie deshalb der Gefahr, den Geist Trients lediglich zu beschwören, ohne einen wirklichen Zusammenhang mit aufgeklärten Reformen herzustellen. Hin und wieder treten auch offene Widersprüche zwischen Positionen der Trienter Reformbewegung und der Katholischen Aufklärung zutage, etwa in der Diskussion um die Verwendung der Muttersprache in der Liturgie.
Wichtiger noch ist ein weiterer Einwand gegen Müllers Studie. Sie zeichnet ein allzu harmonisches, streckenweise einseitiges Bild der Katholischen Aufklärung in Fulda, was wohl zu einem Teil der problematischen Beschränkung auf die geistliche Regierung und der vollständigen Ausklammerung des Wirkens der weltlichen Administration geschuldet ist. Welche Reformen auch immer behandelt werden, stets präsentiert Müller die geistliche Regierung als eine homogene, effizient arbeitende Behörde, die erkannte Missstände tatkräftig, aber mit Augenmaß und einem untrüglichen Gespür für den Mittelweg zwischen kirchlicher Doktrin und aufgeklärten Idealen abstellte. Von Friktionen innerhalb des Verwaltungsapparats, die Reformen in anderen Territorien begleiteten, von den Schwierigkeiten des frühmodernen Staates, Neuerungen vor Ort durchzusetzen, von der kontroversen öffentlichen Diskussion staatlicher Maßnahmen, die gerade die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts kennzeichnete, erfährt man nichts. Dabei hätte allein die Tatsache, dass viele der Bibraschen Reformen von seinem Nachfolger widerrufen wurden, zu denken geben müssen. Doch erst im letzten Viertel des Buches, im Zusammenhang mit der Reduzierung der Wallfahrten und der Feiertage, finden wenigstens die Widerstände in der Bevölkerung Erwähnung.
Bezeichnenderweise werden auch andere, das harmonische Erscheinungsbild störende Themen, wie etwa die Zensur, die in den Zuständigkeitsbereich der geistlichen Regierung fiel, oder das staatliche Vorgehen gegen missliebige Geister, so gut wie ausgeklammert. Aufmüpfigere Aufklärer, allen voran Philip Anton (Sigismund) von Bibra, Herausgeber des 'Journals von und für Deutschland', oder Adam Melchior Weikard, Leibarzt des Fürstbischofs und kurzzeitiger Redakteur eines Landkalenders (408-415), spielen nur eine marginale Rolle. Und inwieweit das selbst in dieser Studie wiederholt durchscheinende Repräsentationsbedürfnis des Fürstbischofs (54, 242-246) mit seinem Auftrag als geistlicher Oberhirte kollidierte, bleibt ebenfalls im Dunkeln.
Letztlich vermittelt Müllers Studie ein recht statisches Bild der Fuldaer Verhältnisse, in dem die Dynamik und Erregtheit des Aufklärungszeitalters gerade auch in den katholischen Territorien nicht recht deutlich wird. Der durchaus wichtige Verweis auf die Traditionslinien, die zwischen den Reformen des 16. und des späten 18. Jahrhunderts verliefen, verstellt allzu oft den Blick auf die Sprengkraft aufgeklärter Ideen. Die Diskussion um die Natur der Katholischen Aufklärung ist noch lange nicht beendet.
Anmerkung:
[1] Harm Klueting (Hg.): Katholische Aufklärung - Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993.
Michael Schaich