Susanna Braund / Glenn W. Most (eds.): Ancient Anger. Perspectives from Homer to Galen (= Yale Classical Studies; XXXII), Cambridge: Cambridge University Press 2004, X + 325 S., ISBN 978-0-521-82625-9, GBP 45,00
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"Singe, Muse, vom Zorn des Helden Achill, der unendliches Leid den Achäern brachte": Die europäische Literatur beginnt, woran jüngst auch Peter Sloterdijk erinnert hat, mit einer Erzählung über den Zorn. Mit unterschiedlichen Begriffen und in vielfältigen Facetten wird diese Emotion in der antiken Literatur immer wieder thematisiert. Für alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens, im privaten Raum der Familie wie im öffentlichen der Polis, in der Psychologie des heroischen Zweikampfes ebenso wie in der epikureischen oder stoischen Tugendlehre, kommt der von den Griechen zunächst μήνις oder χόλος und später zumeist ὀργή genannten Gefühlsregung große Bedeutung zu. Dabei besteht einer der wichtigsten Befunde der hier zu besprechenden Aufsatzsammlung zu "Ancient Anger", die aus einem im September 1999 in Heidelberg veranstalteten Symposium hervorgegangen ist, in der Feststellung der ambivalenten und kontextabhängigen Bewertung des Zornes. Sieht man von der aus organisatorischen Gründen verständlichen, gleichwohl bedauerlichen Tatsache ab, dass sich die vorliegende Publikation, von gelegentlichen Randbemerkungen zur christlichen Morallehre abgesehen, auf die vorchristliche Antike beschränkt, so bietet der Band eine Reihe interessanter Überlegungen zur Historisierung des antiken Zorns. Er zeichnet sich darüber hinaus durch einen intertextuellen Dialog aus, denn die Symposiumsteilnehmer kommen nicht nur wiederholt auf die beiden zentralen Texte der griechisch-antiken Zornliteratur, d. h. auf die homerische Ilias und auf einen Abschnitt aus der Rhetorik des Aristoteles (1378a31ff.) zu sprechen, sondern nehmen auch mehrfach zu Argumenten Stellung, die von ihren Mitautoren vorgebracht werden. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den elf umfang- und inhaltsreichen Aufsätzen des Sammelbandes, die allesamt eine nähere Beachtung vonseiten der Fachwissenschaft verdienen, kann hier nicht geleistet werden; geboten werden kann nur eine thesenhafte Verdichtung einiger zentraler Aussagen.
Der erste Beitrag von D. Cairns verbindet methodologische Fragen mit einer begriffsgeschichtlichen Untersuchung. Cairns widmet sich der Frage, inwieweit ein Gefühl wie der Zorn überhaupt transkulturell untersucht werden kann (11-49). Seine schlüssige Antwort besteht darin, dass ein kultur- und zeitübergreifendes Verständnis möglich ist, weil sich in den Emotionen universale, aus der Evolution folgende Aspekte mit kulturspezifischen Aspekten verbinden. Cairns präsentiert die Ergebnisse der Neurophysiologie sowie der Evolutionspsychologie für die Emotionen-Forschung und deutet Zorn als eine Reaktion auf die Verweigerung von Kooperation.
In seinem der Ilias gewidmeten Beitrag interpretiert G. Most das Epos als eine Erzählung von der moralischen Reifung des Helden Achilles (50-75). Wird in den ersten Versen ein Bericht über den verhängnisvollen Zorn Achills mit seinen Folgen für die Griechen angekündigt, so schildert die Ilias doch auch Achilles' Zorn gegenüber Hektor und dann, im 24. Gesang, eine völlige Umkehr in der Gefühlslage des Peliaden, der nun Priamos gegenüber Mitleid empfindet. Hat die ältere Homer-Philologie deshalb die Einheitlichkeit des Werks infrage gestellt, so votiert Most für eine bewusste Entscheidung des Dichters, der Zorn und Mitleid in der Gestalt des Achilles zusammengeführt habe, um dem Zuhörer einen emotionalen Entwicklungsgang vor Augen zu führen (73-75).
Im 3. Beitrag des Bandes behandelt D. Allen die "politische Ökonomie" des Zorns in Athen (76-98). Zorn wurde in der attischen Demokratie als politischer Handlungsantrieb akzeptiert, wenn er unverstellt und unmittelbar zum Ausdruck kam; folglich sollte ein Ankläger vor der attischen Volksversammlung beweisen können, dass er eine ihn persönlich betreffende Angelegenheit zeitnah zur Sprache brachte. Zugleich aber sollte diese Emotion mit ihren doch auch destruktiven Kräften nicht in die private Sphäre eindringen; zornige Frauen galten, wie etwa in der attischen Tragödie deutlich wird, als Gefahr für Familie und Gesellschaft.
D. Konstans Untersuchung über die Definition von Zorn in der Rhetorik des Aristoteles stellt sodann den Zusammenhang von Gefühl und Status in der Gesellschaft Athens heraus (99-120). Aristoteles zufolge kann Zorn nur entstehen, wenn eine Kränkung als ungerechtfertig empfunden wird; er ist Folge einer Gefährdung des Status des Gekränkten. So verweist Aristoteles' Analyse von Zorn auf eine Gesellschaft, in der für jedes einzelne Mitglied sehr viel davon abhing, wie seine Stellung von den Mitbürgern eingeschätzt bzw. geachtet wurde.
Der nachfolgende Beitrag von W. V. Harris erörtert die Auswirkungen der negativen Bewertung von ὀργή auf das antike Frauenbild (121-143). Da Frauen verdächtigt wurden, ihre Gefühle nicht beherrschen zu können, erfuhren sie in der patriarchalischen Gesellschaft Athens eine zweifache Benachteiligung: Sie wurden aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen, und zudem wurde ihnen das Recht auf bestimmte Bereiche der Emotionalität abgesprochen (139).
Auf das negative Frauenbild folgt das antike Männlichkeitsideal, für das der θυμός einen wichtigen Bestandteil bildet: Wie diese dem Mann innewohnende Kraft, die positiv wie negativ bewertet werden konnte, durch Zaubersprüche beeinflusst werden sollte, behandelt der Beitrag von C. A. Faraone (144-162). Faraone verweist auf Formen von besänftigender Magie im frühen assyrischen Kulturraum und gelangt so zu einem Vergleich zwischen der orientalischen und der griechischen Praxis. Außerdem kann er die Herkunft der griechischen Magie-Techniken aus der häuslichen Welt der Frauen plausibel machen (159). Seine Argumentation läuft darauf hinaus, diese Art von Magie in ihrem Ursprung als eine weibliche Reaktion auf die in der antiken Mittelmeerwelt dominierende Männlichkeitsvorstellung zu verstehen.
Mit dem kaiserzeitlichen Roman "Chaireas und Kallirrhoe" behandelt D. Scourfield einen Text, in dem ähnlich wie in der Ilias der Zorn eines der Protagonisten für den Handablauf entscheidend ist (163-184). Während Most für den homerischen Achill einen charakterlichen Reifungsprozess plausibel zu machen versucht (s.o.), vertritt Scourfield eine ähnliche Interpretation für die Figur des Chaireas, gelangt der Held des Romans doch im Verlauf seiner Abenteuer zu einem Einsichtsvermögen, das ihn zum Herrn seiner Gefühle macht.
Der folgende Beitrag von A. Ellis Hanson findet seinen Ausgangspunkt erneut in der Gestalt des Achilles (185-207). Seines maßlosen Zornes wegen wurde ihm von den eigenen Genossen nachgesagt, dass er von seiner Mutter mit Galle genährt worden sei (Il. 16,203). Da diese Idee mitunter wörtlich genommen wurde, stellt sich die Frage, inwieweit die Ernährung und Erziehung des jungen Achill den antiken Normen entsprach und worin diese eigentlich bestanden. So untersucht Hanson, wie in der philosophischen und medizinischen Literatur der Antike die Entwicklung der kindlichen Gefühlswelt und der diesbezügliche Einfluss der Erziehung reflektiert wird.
Mit C. Gills Ausführungen zu Vergil kommt die lateinische Literatur in den Blick (208-228). Gill schlägt eine Interpretation der Aeneis vor, derzufolge das Werk als eine komplexe, aber doch konsistente Umsetzung der unterschiedlichen antiken Zorn-Theorien verstanden werden sollte. Dafür kann Gill z. B. auf das 2. Buch der Aeneis verweisen, in dem Aeneas seinen Zorn über Helena überwinden kann, nachdem er durch Venus Einblick in das göttliche Walten gewonnen hat (218 f.). Andererseits bleibt der extreme Zorn des Aeneas im 12. Buch, der ihn zur brutalen Tötung des Turnus führt, vom Dichter unerklärt, sodass Gills Interpretation, wie er auch selbst feststellt, hier an ihre Grenzen stößt.
Vor vergleichbaren Problemen steht E. Fantham, die sich mit dem göttlichen und menschlichen Zorn bei Lucan auseinandersetzt (229-249). Denn in seinem Bürgerkriegsepos lässt Lucan auf der einen Seite Caesar von Fortuna geführt sein, vermeidet es auf der anderen Seite aber, die Niederlage des Pompeius auf eine vorangegangene, durch die Bürgerkriege verursachte römische Schuld zurückzuführen. Warum Lucan zu einer solchen Konstruktion gelangt ist, in der göttliches Handeln ohne menschliche Schuld gedacht wird, wäre vielleicht noch deutlicher geworden, wenn Fantham sie in Bezug zur augusteischen Geschichtsdeutung gesetzt hätte; offensichtlich verweigert sich Lucan der von Augustus, Vergil und Horaz propagierten Idee, nur der Prinzipat habe das Einverständnis zwischen Göttern und Menschen wiederherstellen können.
Der letzte Beitrag, von S. Braund und G. Gilbert gemeinsam verfasst, ist der Darstellung des heroischen Einzelkämpfers in der römischen Epik gewidmet (250-285). Die Tier-Gleichnisse, mit denen Lucan, Statius und Silius Italicus die Vorbereitung auf den Kampf veranschaulichen, zeigen, dass der Zorn als eine den Kämpfer stärkende und deshalb positive Emotion verstanden wurde; indem er sich selbst in Rage versetzt und dabei wie ein Löwe vor dem Angriff seinen Zorn sammelt, gewinnt er übermenschliche Kräfte. Dass aber zu großer Zorn den Menschen seinerseits zum Tier macht, wird durch die wenigen Beispiele für angedrohten oder vollzogenen Kannibalismus deutlich, die sich in der antiken Literatur im Zusammenhang mit Kriegsschilderungen finden. Droht Achilles Hektor Kannibalismus nur an (Il. 22,346f.), und entspricht der zweite von den Autoren angeführte Fall aufgrund der fehlenden Anthropophagie nicht ganz der Definition von Kannibalismus (vgl. Liv. 22,51,9), so veranschaulicht ein Abschnitt aus der Thebais des Statius, dass der kannibalisch wütende Tydeus mit seinem Handeln die Grenze zum Wahnsinn überschritten hat. Solche Schilderungen der Wirkungen maßlosen Zorns erregen den Abscheu des Lesers, wodurch auch in diesem Beitrag einmal mehr deutlich wird, wie sehr die antike Bewertung von Zorn kontextabhängig ist.
Heinrich Schlange-Schöningen