Rezension über:

Tilman Struve: Staat und Gesellschaft im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze (= Historische Forschungen; Bd. 80), Berlin: Duncker & Humblot 2004, X + 332 S., ISBN 978-3-428-11095-7, EUR 76,00
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Rezension von:
Tobias Weller
Historisches Seminar, Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Weller: Rezension von: Tilman Struve: Staat und Gesellschaft im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze, Berlin: Duncker & Humblot 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 12 [15.12.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/12/7838.html


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Tilman Struve: Staat und Gesellschaft im Mittelalter

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Der Band versammelt 12 Aufsätze des 2003 emeritierten Kölner Ordinarius Tilman Struve aus den Jahren 1973 bis 2003 zur politischen Theorie des Hoch- und Spätmittelalters. Zugunsten eines einheitlichen Layouts wurden die Beiträge drucktechnisch überarbeitet, sind aber - mit einer Ausnahme (Cola di Rienzo) - im Wortlaut unverändert geblieben. Als Ergänzung wurde im Anhang eine thematisch geordnete Zusammenstellung der wichtigsten Quelleneditionen und Literaturtitel beigefügt, die seit der Veröffentlichung der einzelnen Beiträge erschienen sind (316-322). Eine kurze Einleitung (1-11) führt in die komplexe Thematik ein. Verdienstvollerweise wurde auch die Mühe nicht gescheut, ein Namens-, Orts- und Sachregister zu erstellen (325-332).

Einige der Beiträge berühren sich mehr oder weniger eng mit der einschlägigen Habilitationsschrift des Autors [1], so der Aufsatz über "Bedeutung und Funktion des Organismusvergleichs in den mittelalterlichen Theorien von Staat und Gesellschaft" (12-28), in dem Struve die Grundlinien des Denkmusters beleuchtet, wonach die Gestalt des Gemeinwesens in Analogie zum Kosmos (makrokosmische Ebene) und zum menschlichen Organismus (mikrokosmische Ebene) begriffen wurde, die ihrerseits als strukturell gleich geartet verstanden wurden. Mithilfe dieses Denkmusters konnten die Zeitgenossen ihre Stellung innerhalb eines größeren Ganzen verorten - ohne dabei freilich zu den gleichen Ergebnissen zu kommen.

Als den Denker, der einer konsequent organologischen Sichtweise des Staates zum Durchbruch verholfen hat, stellt Struve Johannes von Salisbury vor (53-71). Über die bloße Parallelisierung von menschlichen Gliedmaßen mit staatlichen Institutionen / Ständen hinausgehend, ordnete er die "Staatsorgane" in einen einheitlichen Funktionszusammenhang ein: Demnach trug der Herrscher als das Haupt des Staates die Verantwortung für das dem gesamten Staatskörper zuträgliche Funktionieren der anderen Glieder. Die Gesundheit des Staatsorganismus wird mit einem Zustand gesellschaftlicher Harmonie gleichgesetzt, der sich im Einklang mit der göttlichen Gerechtigkeit (aequitas) befindet.

Johannes von Salisbury war zudem einer der Ersten, die auch die arbeitenden Stände in seine Staatskonzeption mit einbezog. Er begriff sie als die das Gemeinwesen tragenden Füße und bemaß ihren Stellenwert nach ihrem Beitrag zur Funktionsfähigkeit des Staatsorganismus, weshalb er für die Bauern und verschiedenen Handwerkszweige Schutz und Fürsorge einforderte. Hiermit hob sich Johannes grundlegend von den vom Ordo-Ideal geprägten älteren Ansichten ab (wie z. B. der funktionalen Dreiteilung der Gesellschaft), die zudem häufig mit einer negativen Bewertung körperlicher Arbeit einherging (230-269).

Die Impulse, die von der im 13. Jahrhundert einsetzenden Aristoteles-Rezeption für die Weiterentwicklung des Organismusvergleichs ausgingen, legt Struve beispielhaft anhand von Alfredus Anglicus dar (29-52), dessen Bild vom menschlichen Organismus sich insofern von den traditionellen platonischen Vorstellungen abhob, als er das Herz wegen seiner den gesamten Körper - und eben auch das Gehirn! - belebenden Funktion als physiologisches Zentrum und Sitz der Seele ansah. Auch Alfreds Annahme der Seele als eines alle physiologischen Lebensprozesse steuernden Prinzips, das seinerseits aber bewegungslos sei, korrespondiert mit aristotelischen Anschauungen.

Schon derartige Veränderungen in der Anthropologie hatten Konsequenzen im Hinblick auf die organologische Sicht des staatlichen Gemeinwesens. Das gilt einmal mehr für die Auseinandersetzung mit Aristoteles' "Politik", die die politische Theorie des Spätmittelalters entscheidend befruchtete (72-91): Thomas von Aquin übernahm die Kernthese vom Menschen als einem zum Leben in staatlicher Gemeinschaft bestimmten Wesen. So erfuhr der Staat bei ihm eine natürliche Legitimation, die er allerdings auf utilitaristischere Weise herleitete als der antike Philosoph, indem er den Menschen als "Mängelwesen" klassifizierte, der nur in Gemeinschaft zu überleben vermöge. Die noch von Thomas vertretene Ansicht, wonach auch dieser aus Naturnotwendigkeit entstandene Staat auf ein transzendentes Ziel - die Anschauung Gottes - ausgerichtet sei, verlor in der Folgezeit an Gewicht gegenüber rein irdischen Zwecksetzungen des Staates, bis Marsilius von Padua in seinem "Defensor pacis" dann endgültig auf jedwede ethische oder religiöse Begründung des staatlichen Gemeinwesens verzichtete. Er begriff den Staat als eine mittels der menschlichen Vernunft in Nachahmung der Natur geschaffene Einrichtung mit ausschließlich diesseitiger Zwecksetzung.

Für das Staatsverständnis Marsilius' waren organologische Momente von entscheidender Bedeutung, insofern er die Gesamtheit der Bürger als "Staatsseele" und somit als bewegendes Prinzip des Staatswesens ansah, das sich im Herrscher (principatus) ein entsprechendes Organ geschaffen habe, von dem aus die Bildung der anderen Staatsglieder erfolge, dessen Regierungsvollmacht aber an das von der bürgerlichen Gemeinschaft erlassene Gesetz gebunden bleibe. Weil dieses von Menschen geschaffene, rein innerweltlichen Bedürfnissen folgende Gesetz nicht mehr als Umsetzung einer überirdischen Norm verstanden wurde, konnte es sehr viel flexibler auf den Veränderungsdruck historischer Entwicklungen reagieren. In dieser Staatskonzeption fiel der Gesamtheit der Bürger als dem menschlichen Gesetzgeber die Rolle des Souveräns zu, was wiederum dem Staat eine über die Person des Herrschers hinausweisende - und in dieser Hinsicht freilich ganz unorganische - transpersonale Dauer verlieh (185-203).

Auf die Aristotelesrezeption zurückzuführen sind auch die vielfältigen Überlegungen zur Begründung der monarchischen Herrschaft in der politischen Theorie des Mittelalters (151-184). Struve bietet einen instruktiven Überblick, der die Vielschichtigkeit der Argumentationsweisen der jeweiligen Denker vermittelt, die - bei grundsätzlicher Einmütigkeit über die Vorzüge der Königsherrschaft - durchaus für unterschiedliche Ausprägungen (Erbmonarchie versus Wahlmonarchie) derselben votierten.

In einem weniger engen Zusammenhang zum Themenkomplex der organologischen Staatsauffassung stehen die Beiträge Struves über Königtum und Reich in der Salier- bzw. frühen Stauferzeit (92-150), in denen er die zeitgenössischen Positionen zum Verhältnis von regnum und sacerdotium ausführlich erörtert und auf diese Weise plastisch zeigt, wie sehr die Anfechtungen von gregorianischer Seite (Vorrang der Geistlichkeit, Laiennatur des Königs, umfassende Leitungsbefugnis des Papstes als Nachfolger des hl. Petrus) an den Fundamenten des salischen Königtums rüttelten, es aber auch zu einer erneuten und teilweise sehr innovativen Vergewisserung seines Selbstverständnisses herausforderten. Hierauf konnten die Staufer aufbauen, die zur Begründung ihrer Herrschervollmachten verstärkt auf die Überlieferung der dem römischen Kaisertum eigenen Kompetenzfülle und das römischen Recht zurückgriffen. Für ihr Verhältnis zu den Fürsten war das eigentümliche Spannungsmoment kennzeichnend, das sich ergab aus der einerseits verfolgten Einbindung der Fürsten in die Reichsangelegenheiten und der zunehmenden Betonung des monarchischen Erbgedankens auf der anderen Seite.

In einem weiteren Beitrag legt Struve eingehend die ideellen Grundlagen des kurzlebigen, aber eindrucksvollen Regiments des römischen Volkstribunen Cola di Rienzo dar (204-229). In programmatischer Rückbesinnung auf die glanzvolle römische Vergangenheit, berief sich Cola auf die umfassenden Kompetenzen, die den römischen principes per Senatsbeschluss zugesprochen worden seien. Die überkommene lex regia-Theorie, wonach die Herrschaftsrechte dem Kaiser vom römischen Volk übertragen worden seien, wurde von ihm im Sinne der Widerrufbarkeit dieser Übertragung interpretiert, wodurch er die Souveränität des populus Romanus hervorhob, als dessen Repräsentant und Beauftragter er sich verstand - mit offenkundigen Ambitionen auf die Kaiserwürde selbst.

Abgerundet wird der Band mit zwei Aufsätzen zum politischen Denken des Spätmittelalters. In einer Analyse der Denkschriften Nikolaus' von Kues und Peters von Andlau zur Reichsreform sowie der sogenannten Reformatio Sigismundi (270-290) macht Struve deutlich, dass diese sehr ungleichartigen Traktaten bei aller Verschiedenheit die Übel der gegenwärtigen Verhältnisse als Krankheit deuteten, die von der Verkehrung der rechten Ordnung herrühre. Konsequenterweise war den Reformentwürfen ein restaurativer Zug eigen, der auf eine in der Vergangenheit liegende Idealordnung wies, was im Falle der Reformatio Sigismundi durchaus einherging mit teilweise revolutionär, ja utopisch anmutenden Vorstellungen.

Dies leitet über zur Untersuchung der spätmittelalterlichen Friedenskaiser-Prophetien (291-315), die wegen ihres personalen Bezuges überzeugend als spezifisch mittelalterliche Form der Utopie verstanden werden, in der v. a. die unterprivilegierten Bevölkerungsschichten ihre Veränderungssehnsucht angesichts der tatsächlichen Missstände und sozialen Spannungen artikulieren konnten. Neben der durchweg zu beobachtenden Kritik an Kirche und Geistlichkeit lässt sich seit dem 15. Jahrhundert insofern eine neue Wendung konstatieren, als nun auch dem gemeinen Volk ein aktiver Part bei der Überwindung der Übel zugeschrieben wird. Dabei ist es wohl nicht zuletzt auf die Interpretation des Namens Friedrich als "Friedensbringer" zurückzuführen, dass solche Endkaiser-Prophetien immer wieder auf die Wiederkehr des Stauferkaisers Friedrich II. projiziert wurden.

Mit den hier en bloc vorgelegten Aufsätzen hat Struve in den vergangenen Jahrzehnten unser Wissen um das politische Denken des Mittelalters in eindrucksvoller Weise bereichert. Die große Stärke der Sammlung liegt darin, dass die einzelnen Beiträge sehr unterschiedliche Aspekte dieses Denkens beleuchten, sich aber doch zu einem facettenreichen Gesamtbild runden, dessen Lektüre ausgesprochenen Gewinn bringt.


Anmerkung:

[1] Tilman Struve: Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters, Bd. 16), Stuttgart 1978.

Tobias Weller