Andrea Giorgi / Stefano Moscadelli: Costruire una cattedrale. L'Opera di Santa Maria di Siena tra XII e XIV secolo (= Die Kirchen von Siena; Beiheft 3), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2005, 524 S., ISBN 978-3-422-06550-5, EUR 58,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Als ein "Beiheft zu einem Sonderforschungsbereich" des am Kunsthistorischen Institut in Florenz angesiedelten Forschungsprojekts 'Die Kirchen von Siena' wird von den Herausgebern bescheiden angekündigt, was in Wahrheit über 500 eng bedruckte Seiten ausmacht. Im 'Sienaprojekt', das in seiner deutsch-italienischen Zusammenarbeit vorbildlich ist, bedeutet 'interdisziplinär' nicht wechselseitiges Methodendefizit oder die Konvergenz durch den virulent gewordenen Zugriff von Historikern auf Kunstwerke, sondern die langjährige Kooperation von Spezialisten, wie sie der durch Stipendienvergaben diktierte Wissenschaftsbetrieb kaum noch zulässt. Gleichwohl handelt es sich nicht um einen Sonderforschungsbereich im Sinne der deutschen Wissenschaftsförderung. Eher ähnelt der Begriff 'Sonderforschung' der gönnerhaften Marginalisierung, wie sie bei Historikern im Begriff der Hilfswissenschaften aufscheint. In Form einer Fallstudie ist das so genannte Beiheft allerdings vielmehr ein gewichtiger Beitrag zu einer kunsthistorischen Stadtforschung und zu einer Architekturanthropologie, deren künftige Konjunktur unschwer vorherzusagen ist.
Der gegenüber den soeben erschienenen Bänden zur Architektur des Sieneser Doms auch im Format kleinere Band hat die schriftliche Überlieferung zur Organisation des Baugeschehens des Sieneser Doms zum Gegenstand aus dem Blickwinkel und der Selbstwahrnehmung derjenigen - oft fälschlicherweise Bauhütte genannten - Institution, in der seit etwa 1260 alle baurelevanten Entscheidungen gefällt, durchgeführt und administrativ begleitet wurden. Derart ist das "Beiheft" integraler und zentraler Bestandteil einer Baumonografie, zumal es wichtige Thesen zur Baugeschichte enthält. Darüber hinaus ist er generell für die Beurteilung des hoch- und spätmittelalterlichen Baubetriebs, aber auch für dessen lebensweltliche Verortung in den Bedürfnissen und Ambitionen der spätmittelalterlichen Stadt fundamental. Allerdings ist es, zumal angesichts der binationalen Kooperation, bedauerlich, dass themenrelevante Überlegungen der deutschsprachigen Forschung (Martin Warnke, Wolfgang Schöller), die ihrerseits die italienische Situation nicht adäquat behandelten, nicht herangezogen wurden.
Methodisch von Lucio Riccettis Analysen der Orvietaner Domopera profitierend, ist es das bislang einzige Buch, das sich ausschließlich und umfassend einer Einzelnen unter den - auch nördlich der Alpen - vielen und oft sehr gut dokumentierten, gleichwohl wenig untersuchten operae oder fabricae widmet. Geradezu zwangsläufig öffnet es so neue Horizonte und geht in den Mikroanalysen des Kontextes (der diesem Namen auch gerecht wird) weit über eine Kunstgeschichte hinaus, in der Kunst als Repräsentation von Patronageinteressen funktionalisiert wird. Indem die Informationen unmittelbar aus Textgattungen mit hoher Dokumentationspräzision und einem niedrigen Grad an Intentionalität gezogen werden, werden auf unspekulative Weise die komplexen Konstellationen von Bauentscheidungen ebenso transparent wie die Bedingungen der Möglichkeit, diese umzusetzen und damit dem permanenten Wandel urbaner Selbstdefinition neue Impulse zu geben.
Methodisch zwingend ist der Ansatz, die politischen, sozioökonomischen und mentalen Signaturen eines solchen Unternehmens, das für die Infrastruktur, für die Konzeption von politischer und kultureller Repräsentation und für die technische, handwerkliche und künstlerische Erneuerung der Stadt folgenreich war, aus dem Blickwinkel der Bauinstitution darzustellen, in der die Gleichungen zwischen Repräsentation und Realität gefunden werden mussten. Er schützt vor einseitigen Deutungskonstrukten und macht anders als der archivbasierte und vom Geniebegriff geleitete Positivismus vor und nach 1900 die politische und soziale Semantik des mittelalterlichen Kathedralbaus historisch. Als eine Archäologie des Alltags behandelt er die Daten selbst als Ausdruck historischer Prozesse, und er verliert dabei nicht aus dem Auge, dass Architektur ein wandelndes Regelsystem ist, das auch mit solch umfassender Dokumentation nicht zur Deckung zu bringen ist. Nicht nur deswegen mutet auch der Buchtitel trotz seiner unterschwelligen Pathetik allzu bescheiden an. Er suggeriert einen Unteraspekt des Untertitels und löst nicht einmal ein, was er manchem Leser signalisieren wird. costruire betrifft nur am Rand den technischen Bauvorgang, sondern vielmehr - in einer Ausführlichkeit und Gründlichkeit, die ihresgleichen suchen - die Fülle der Schriftquellen zu den organisatorischen Grundlagen des Bauens in institutioneller, finanzieller, administrativer, organisatorischer, materieller und personeller Hinsicht vor der Folie einer Stadt, die sich mit rasanter Geschwindigkeit von einer kleinen civitas zu einem der mächtigsten Stadtstaaten des Mittelalters entwickelte.
Das nach Quantifizierung verlangende Quellenmaterial, das in acht Kapiteln zur Baugeschichte, zur Ausbildung und Entwicklung der Opera als kommunal kontrollierte bauherrliche Institution sowie zu Baumaterial und Baupersonal verarbeitet wird, legt es nahe, es in statistisch-chronologischen Tabellen, Grafiken und geografischen Schautafeln zum Besitz, zu Einnahmen und Ausgaben vor allem für Personal und Material sowie zu deren preislichen Relationen zu präsentieren. Es empfiehlt sich, die Lektüre mit diesem Teil, der insgesamt ein Drittel des Buches ausmacht, zu beginnen. Die Benutzung dieses Buches geht nicht so sehr von der (ohnehin selten praktizierten) Linearität des wissenschaftlichen Leseakts aus, sondern von einer gleichsam digitalen Nutzung: man sucht im ausführlichen Index und springt von dort nach hier und da. Alle Kapitel können für sich gelesen werden, da in ihnen immer wieder Informationen aufgenommen sind, die sich auch in anderen Kapiteln finden. Vieles, was der Leser sucht, findet sich im - zu klein gedruckten - Anmerkungsapparat mit seinem umfassenden Quellen- und Literaturnachweis. Angesichts der zahllosen Einzelinformationen wäre es nicht nur konsequent, sondern auch benutzerfreundlicher gewesen, den Text nochmals in Form einer CD-Rom beizugeben, um leichter nach Orten und Personen (aber auch nach Begriffen, die im Index nicht erfasst sind) suchen zu können, zumal wenn sie mit der Publikation der Quellen sowie der Bauchronologie, wie sie in den Textbänden zur Architektur auf 380 Seiten zu Wort kommen, kombiniert wären.
Die für die Beurteilung der Auftraggeberschaft grundlegende Frage nach der Finanzierung, in der sich - mitunter verzerrt - Machtverhältnisse und Interessensstrukturen spiegeln, die wiederum in institutionelle Mandate geformt werden, führt weit weg von - gerade in Datierungsfragen irreführenden - Vorstellungen, die den Bau von Bischofskirchen mit dem Bischof (oder gar mit anderen exponierten Individuen der Herrschaftsgeschichte) in Verbindung bringen. Detailliert wird der Entwicklungsgang nachgezeichnet, bei dem sich die Verfügungsansprüche von der klerikalen zur kommunalen Seite verlagern. Diese hatte sich mit der Opera ein Instrument geschaffen, das seinerseits eine emergente Eigendynamik entwickelte. Der zwischen dem späten 12. und dem späten 14. Jahrhundert verfolgte Prozess bildet den roten Faden, um das komplette Schriftmaterial zum Dombau und den umgebenden Immobilien zu diskutieren. Kernstück ist der Wandel der über die Opera organisierten Baufinanzierung als Medium und Katalysator dieses für Bauverlauf und Baugestalt folgenreichen Prozesses. Das Finanzsystem der Opera, die sich von der faktischen Bauarbeit (opera) zu einer institutionalisierten Organisation des Dombaus (Opera) mit Grund- und Hausbesitz und einem parallel dazu systematisierten Dokumentationssystem entwickelte und auch externe Bauaufträge planen und durchführen konnte, basierte hauptsächlich auf Kerzenspenden und wurden bei Bedarf durch direkte Subventionen der Kommune ergänzt.
In der in ständiger Wandlung begriffenen laikalen Opera und ihrer Administration kreuzten sich die Politisches und Religiöses amalgamierende Interessenvielfalt und die Erwartungshaltungen eines diffusen und auf Expertenkompetenz angewiesenen, indirekt präsenten Auftraggeberkollektivs mit den ökonomischen, technischen und formalen Möglichkeiten der Produzenten (capomaestro; maestri; gignori /Schüler; manovali/Hilfsarbeiter, darunter auch Frauen). Die Überlieferungslage dieser Konstellation bietet die Möglichkeit, dass das Werk anders als in der traditionellen politischen Ikonografie nicht nur parallelisiert wird und/oder kontextuelle Voraussetzungen abbildet, sondern als vielfältig semantisierbares Resultat einer komplexen Verhandlung von Prozessen mit teilweise autopoietischer Wirkmacht erscheinen kann. Trotz ihrer These, dass die Kathedrale das "urbane Geflecht" verändert habe, ziehen Giorgi/Moscadelli nicht alle methodischen Konsequenzen aus der Interdependenz von Bedingung, Praxis und Form. Nur schemenhaft scheint durch, dass die realitätsbildende Kraft eines Werks in der Größenordnung des Sieneser Doms und seiner Ausstattung die Wirklichkeit Sienas vermutlich weitaus mehr geprägt hat, als die kontextuellen Bedingungen das Werk beeinflussten. Je anspruchsvoller das Werk wurde, desto mehr wirkte es auf die politischen und gesellschaftlichen Repräsentationsstrategien der Kommune zurück. Dies zeigte sich beispielsweise, als der Einbezug des Doms in die Inszenierung des politischen Zeremoniells an Orten konstruierter oder simulierter Öffentlichkeit bessere Zugangsmöglichkeiten und damit eine Neustrukturierung von Straßen und Plätzen erforderte. Um den Domplatz zu vergrößern, wurde das alte Baptisterium abgerissen, das an der Ostsseite des Doms einen Ersatz bekam, mit dem zugleich eine der Stadt zugewandte Fassade möglich wurde.
Die Verflechtung von Politik und Religion belegt die seit 1274 rechtlich geregelte Kerzenspende zum Assuntafest, die in einer von der kommunalen Finanzbehörde organisierten und überwachten Prozession zum Dom ritualisiert war. Sie kam spätestens in dem Moment auf, als sich vor/um 1200 die opera/Opera vom Kathedralklerus zu emanzipieren begann. Die monetarisierte Kerzenspenden, die zwischen 70 und 90 Prozent der jährlichen Baumittel brachten, waren in Wahrheit eine - bei Unterlassung durch Geldstrafen sanktionierte - Form der Besteuerung, die den unterstellten Gemeinden und Herrschaften ebenso auferlegt wurde wie den Bürgern der Stadt. Die mit dieser rationalisierten Mittelbeschaffung ermöglichte Finanzierungspraxis garantierte eine - im Vergleich zu transalpinen Modellen der Baufinanzierung - langfristige Planungssicherheit. Mit dieser in ihrer Semantik nicht erörterten und wohl auf Votivpraktiken zurückgehenden Finanzierungsform profitierte die Opera direkt von der Expansionspolitik der Stadt: Jede unterworfene Gemeinde und jeder neu in die Stadt gezogene Bürger mehrten das Baukapital. Mit der faktischen Finanzierung durch die Bevölkerung war die Kerzenspende zugleich ein ritualisierter Akt der Unterwerfung als auch das Symbol einer identifikatorischen Bindung an die Stadt und ihre Stadtpatronin sowie Medium einer symbolischen Präsenz in der Stadt.
Die durch Ratsstatut gesicherten Spenden hatten zur Folge, dass die Opera nie von der Kommune unabhängig wurde. Anders als etwa in Orvieto konnte der Finanzbedarf niemals allein von anderen Einnahmen (Oblationen, Legate, Erbschaften, Renditen aus dem Operabesitz) gedeckt werden. Vielmehr geriet das einseitige Finanzierungssystem in die Krise, als der Wachspreis nach 1350 fiel und mit der Pest, die auch die Anzahl der Kerzenbesteuerten drastisch minderte, Lohn- und Materialkosten stiegen. Das mögliche Arbeitsvolumen sank nach der Pest, die keineswegs das Aus für den Duomo Nuovo bedeutete, um ein Drittel und machte Ende des Trecento nur noch 20-30 Prozent im Vergleich zu den Jahren um 1340 aus. Nicht die Pest, sondern statische Probleme nahm die Kommune nach dem Ende der Regierung der Nove zum Anlass, die Bauarbeiten einzustellen. Spätestens hier offenbarte sich die erfolgreiche Verbindung zum städtischen Rat, dessen Mitglieder wiederholt das Amt des operaio inne hatten, als ein Schwachpunkt der Institution.
Die mit dem Baukapital möglichen, inflationsbedingt variierenden Ausgaben für Löhne, Material und Verwaltung formierten das Anspruchsniveau und legten den Rahmen für das jährliche Bauvolumen und somit die Baugeschwindigkeit fest. Dennoch bleibt das Verhältnis von Bauvolumen und Arbeitstagen, die Giorgi/Moscadelli als inflationsbereinigte Relationsgröße einführen, unklar und wird durch die Ausgaben für Löhne eigentlich noch diffuser. Angesichts der nur 10-12 maestri im 13. Jahrhundert gegenüber 1320-1350 mit teilweise über 40 maestri überrascht die schnelle Bauzeit des Langhauses des alten Doms. Es widerspricht den von den Autoren akzeptierten Thesen, die zwischen rationalisierten Produktionsbedingungen und Bauzeit einen direkten Bezug sehen. Vielleicht liegt es auch daran, dass damals die Meister dauerhaft beschäftigt waren und eine homogene Gruppe mit hohem Identifikationsgrad bildeten, während später gezielt kurzfristige Jobs vergeben wurden. 1339 arbeiteten nur 6 von 47 maestri mehr als 200 Tage im Jahr für die Opera. Viele der magistri lapidum waren nun anders als im 13. Jahrhundert in der arte della pietra organisiert. Es bedurfte nun sich in den Löhnen abbildender Maßnahmen, um die Meister zu binden.
Die Lohnentwicklung spiegelt daher die zunehmende Inhomogenität: die nominelle Steigerung von 2 auf bis zu 20 soldi Tageslohn zwischen 1250 und 1380 war nicht nur dem Verfall der sienesischen libra gegenüber dem Florin, und einer durch die Pest beschleunigten Verteuerung, sondern auch einer zunehmenden Differenzierung der Bezahlung nach Leistungsfähigkeit geschuldet. Das künstlerische Vermögen wurde am Markt verhandelbar. Mit dem Bau von Baptisterium und Duomo Nuovo kamen Stücklöhne hinzu. Lohndifferenzierung und insbesondere Stücklohn verweisen auf eine gelockerte Kohärenz zwischen Opera und maestri. Anscheinend konnte mit Privataufträgen gutes Geld verdient werden, und es scheint zunehmend schwieriger geworden zu sein, die besten Kräfte zu engagieren oder zu halten. Nicht nur hierbei hätte ein stärker komparatistischer Ansatz (etwa mit der ebenfalls guten Quellenlage in Pisa, Florenz, Orvieto oder Neapel) helfen können, die Ergebnisse schärfer zu konturieren. Voraussetzung für den Stücklohn war eine rationalisierte Produktionsstruktur, die auf normierte und seriell hergestellte Formate (die wichtiges Material für eine historische Architekturterminologie liefern) basierte. Sie hatten wohl auch eine Vernachlässigung der Steinmetzausbildung zur Folge, weshalb nach der Pest vermehrt lombardische Steinmetze angeworben wurden. Die Verteuerung wäre dann auch der Effekt der Kosteneinsparung der Jahrzehnte zuvor gewesen. Eine in der Akkordarbeit ausgewiesene neue Effizienz war auf eine präzisere Planungsstruktur (Pläne, Schablonen) angewiesen, die für die Gestaltung nicht folgenlos blieb. Nicht zuletzt auch deswegen ist die Ostfassade langweiliger als die Westfassade Giovanni Pisanos, für welche die 1296 dokumentierten Koordinationsprobleme zwischen Ausführung und Versatz anzunehmen sind.
Solch unmittelbare Korrespondenzen zwischen Produktionsstruktur und Baugestalt, mithin die "Überleitung zur Form" (Warnke), also jenen Prozess, in der die Gegenstände, die Giorgi/Moscadelli untersuchen, unmittelbar auf ihr eigentliches Ziel, den Kathedralbau, einwirken, kommen nur sporadisch zur Sprache. Welche Kompetenzen leitende Steinmetzen hatten und wie sehr sie an der Konzeption beteiligt waren, wie sich die Kommunikation der Arbeitsabläufe und wie sich die Kooperation untereinander veränderten, wird bei den Überlegungen zur Einführung des Stücklohns angedeutet. Eine Ausnahme macht auch die These, dass das Hexagon Neuplanungen der Ostteile motiviert habe (76), dass also die künstlerischen Resultate sukzessive zu neuen Ansprüchen führte (gleichsam die "Überleitung zum Kontext"). Gerade hier aber scheint der eher prozessuale als konzeptueller Ansatz von Giorgi/Moscadelli zu weit zu gehen. Das Hexagon ist kaum ohne eine Gesamtkonzeption der nach allen vier Seiten anschließen Raumpartien denkbar. Wichtiger hinsichtlich einer diskursiven Wechselwirkung zwischen Realisation und Organisation in der Opera ist die ebenfalls nicht erörterte Tatsache, dass sich die selbstbewusste und mit dem Schwierigkeits- und Anspruchsniveau eines Baus wachsende Macht der Produzenten 1308 ein kommunal garantiertes Mitspracherecht bei Bauentscheidungen zu sichern verstand. Das geschah parallel zur schwindenden Sachkompetenz des operaio-Amtes, das zunehmend politisch vereinnahmt und verstärkt von außen kontrolliert wurde, und daher den Charakter eines Ehrenamts anzunehmen begann.
Die zurückhaltende Position der Autoren in Fragen der Wechselwirkung zwischen formalen Entscheidungen und institutionellen Strukturen ist nicht nur ihrem Spezialistentum als Archivhistoriker und einer an traditionellen Auftraggebervorstellungen geschulten Perspektive, sondern auch der Arbeitsteilung des Projekts in einen historisch-archivarischen und einen bauanalytischen Teil geschuldet. Darin offenbart sich eine grundsätzliche Schwachstelle interdisziplinärer Kooperation: Allzu begrenzt im produktiven Austausch der jeweiligen Fachdiskurse versagt sie sich, so gewinnbringend die vielen neuen Ergebnisse auf beiden Seiten auch sein mögen, ihre methodisch spannendsten und fruchtbarsten Schnittpunkte. Wie Löhne nur als Folgen von Wirtschaftsprozessen präsentiert werden, werden andererseits in den minuziösen, auf traditionellen Methoden der Unterscheidung von Bauphasen basierenden Analysen der für Formfragen zuständigen Bauhistoriker die beobachteten Gestaltungsdifferenzen einigermaßen tautologisch nur als Resultate von Bauphasen (aber nicht unbedingt von konkreten Produktionsprozessen) interpretiert und gegebenenfalls über Zuschreibungsfragen begründet. Folglich bleiben die diskursiven Konstellationen der Opera für ein Verstehen der systemischen Bedingtheiten des Kunst- und Künstlerverständnis innerhalb des Baugeschehens ungenutzt. Dabei scheint das Problembewusstsein, die eigene Forschung durch Heranziehen von Methoden und Ergebnissen anderer Disziplinen zu optimieren, bei den Historikern des Sienaprojekts höher zu sein als bei den Bauforschern, die, indem sie den Bau selbst als wichtigste Quelle für die Baugeschichte ansehen, zu unterschätzen scheinen, in welch hohem Maß das Lesen dieser Quelle ein fortgesetzter Akt der Interpretation ist und die Bedeutung der Bedeutung einfordert.
Freilich rührt die Zurückhaltung von Giorgi/Moscadelli auch daher, dass die Befehlsstruktur der Arbeitsabläufe zwischen dem - im mittleren 13. Jahrhundert noch mit hoher Sachkompetenz ausgestatteten - operaio, dem capomaestro - sofern es einen gab und nicht nur einen maestro, der besser bezahlt war als die übrigen maestri - und diesen selbst in den Quellen kaum zu ersehen ist. Im Fall von Lando di Pietro, der deutlich besser bezahlt wird als der gleichzeitige capomaestro Giovanni di Agostino, der unter anderem Schablonen für die Akkordarbeiter anfertigt, kommt eine Person hinzu, dessen Gehalt durch die inventive Kompetenz (subtilitas, adinventio, disegnamento) gerechtfertigt wird. Andererseits sind Zuschreibungen von bauplastischen Arbeiten an Meister, die überhaupt nicht dokumentiert sind, gut begründet. Dass die jeweils anspruchsvollste Bauskulptur, über die wir in aus den Quellen so gut wie nichts erfahren, als Werke durchschnittlich bezahlter maestri gelten können, ist kaum anzunehmen. Für diese Fähigkeit hätten sie andernorts ungleich mehr verdienen können. Hier, wo der sich in den Quellen entziehende Prozess des tatsächlichen costruire ganz konkret ist, wo also in der alltäglichen Produktion Architektur wesentlich Skulptur bedeutet, müssten - das wäre eine wichtige Aufgabe für die Zukunft - die Quellen verstärkt mit Bauforschung und Formanalysen kombiniert werden. So erst ließe sich etwa beantworten, worin die Unterschiede zwischen einem gut und einem mittelmäßig bezahlten capomaestro sowie zwischen diesen und einem nur leitenden Meister liegen, der wie Camaino di Crescentino diesen Titel nicht führen durfte.
Für die Kommunikationsprozesse, in denen sich die Kunst gegenüber der Patronage Geltung verschafft, und damit für die Reziprozität von Auftrag und Ausführung bietet die Analyse der Sieneser Opera vielfältiges Grundlagenmaterial ebenso wie für eine empirische und nicht nur spekulative Sozial-, Wirtschafts- und Mentalitätsgeschichte mittelalterlicher Kathedralen. Das Buch von Giorgi/Moscadelli, die die methodische Leistungsfähigkeit ihres Vorgehens nicht immer ausschöpfen und mitunter zu vorsichtig sind, wenn es darum geht, von der empirischen Dokumentation aus problemorientiertere Hypothesen und Deutungen zu entwickeln, belegt jedoch, welch zeitintensiver Quellenforschung und welcher Quantität an Quellen es bedarf, um zu einer Auftraggeberkunstgeschichte im mittelalterlichen Kathedralbau gelangen, die diesen Namen auch historisch verdient. Was es nicht leisten kann und will, worin hingegen die Kunstgeschichte genuin gefragt ist: Rang und Bedeutung der Konzeption (im Austausch von Bildhauer-Baumeister und Auftraggeber), des Entwurfs und der Ausführung aus der Konstellation ihrer institutionellen Bindungen heraus zu klären. Trotz der Fülle von Nachrichten über die konkreten Tätigkeiten sind diese kunsthistorisch besonders relevanten Aspekte in eigentümlich widerspenstiger Weise fast nicht dokumentiert. So legitimiert das vorgestellte Material nicht zuletzt auch die Notwendigkeit genuin kunsthistorischer Methoden von der Bauarchäologie über die Bauforschung bis hin zu semantisch-bautypologischen und stilanalytischen Untersuchungen bis hinein in die Details der Bauplastik. Mit Fallanalysen wie diese zur Sieneser Opera schwindet die Verunsicherung der Kunsthistoriker, die bei ihren Gestaltanalysen das Damoklesschwert der Archivforschung über sich spüren.
Die wichtige Perspektive des Buchs von Giorgi/Moscadelli liegt darin, dass es das Werk als Produkt eines Systems akzeptiert, das eigene Formen der Beobachtung jenseits der in historisch-politischen und sozioökonomischen Realitäten verankerten schriftlichen Dokumentation erfordert und zugleich darum weiß, dass dieses System ohne die durch diese Realitäten garantierte Produktionsformen inexistent wäre. Formale oder semantische Gleichungen zwischen Voraussetzungen und Ergebnissen, die restlos aufgehen, gibt es nicht, aber für das kontingente Feld der Vermittlungen, auf dem historisch legitimierte Semantisierungen je nach Beobachtungsposten entstehen und vergehen, haben die Autoren eine Fülle von werknahen Faktoren umrissen.
Jürgen Wiener