Christian Freigang / Jean-Claude Schmitt (Hgg.): Hofkultur in Frankreich und Europa im Spätmittelalter. La culture de cour en France et en Europe à la fin du Moyen-Age. Mit einem Vorwort von Werner Paravicini (= Passagen / Passages. Deutsches Forum für Kunstgeschichte / Centre allemand d'histoire de l'art; Bd. 11), Berlin: Akademie Verlag 2005, 451 S., ISBN 978-3-05-004105-6, EUR 49,80
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Der Sammelband geht von der Voraussetzung aus, dass alles, was an Hof, Stadt und Kirche gestaltet wird, aussagekräftig und interpretationsfähig bzw. -bedürftig ist. Sein erklärtes Ziel ist, vor allem der höfischen Selbstdarstellung auf die Spur zu kommen, weshalb er diese und, als Pendant und Korrektiv, ihre Rezeption untersucht. Der Band konzentriert sich auf Frankreich und Burgund. Als Publikation des Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris vereint er deutsche, französische und belgische Beiträge, von denen einige überarbeitete Vorträge eines Kolloquiums von Teilnehmern des Studienjahrs 2002/03 zur "Konstruktion sozialer Codes und Repräsentationssysteme" sind. So soll das Bild einer Hofkultur entstehen, die im Detail mitunter widersprüchlich erscheint, im Ganzen aber ein Bild durchgängiger Prinzipien ergibt, wie es W. Paravicini in seinem Geleitwort ausdrückt.
Diesem Rahmen fügen sich die Einzelstudien, untergliedert in vier Teile, ein. Die Aufsätze sind jeweils in zeitlicher Abfolge angeordnet, sodass mehrere chronologische Durchgänge entstehen. Da sich zwischen den Beiträgen der verschiedenen Teile viele wechselseitige Bezüge ergeben, wäre diese Untergliederung zwar nicht unbedingt nötig gewesen, lässt aber mögliche Herangehensweisen an den Untersuchungsgegenstand klarer erkennen. Zur Erschließung des Inhalts trägt auch das Namens- und Ortsregister bei, zu dem man sich - so mühsam es in einem Sammelband zu erstellen ist - auch noch ein Sachregister gewünscht hätte. Die Beiträge bieten teilweise neue Sachforschung und stellen diese, soweit möglich, auch in einen größeren Kontext; einige konzentrieren sich auf die Neuinterpretation schon bekannter Werke und Ensembles.
Teil I untersucht die Inszenierung der Macht und das Zeremoniell. Die Rolle des Narren ist nicht festgeschrieben und gerade deshalb in ihrer praktischen Ausformung und im Wechselspiel mit der von "Prinz" und "Weiser" besonders aussagekräftig (M. Clouzot). Die Herkunft, Aufgaben und Bezahlung der Musiker am englischen Hof im Vergleich zum französischen und burgundischen bietet zugleich auch ein Stück Alltagsgeschichte (L. Steens-Vauxion). Die Funktion des Geschenkeaustausches, den Brigitte Büttner und Jan Hirschbiegel andernorts intensiv bearbeitet haben, wird prägnant zusammengefasst (B. Büttner). Reale und fiktive Festumzüge mit ephemerer Festarchitektur werden vom Hof in einer Art "Bildreportage" der Um- und Nachwelt überliefert (D. Eichberger).
Teil II zu Auftraggebern, Mäzenen und Sammlungen rückt die Rolle von Individuen in den Blick. Charlotte von Savoyen im Vergleich zu drei anderen Buchliebhaberinnen entwickelt ein markantes Profil als Auftraggeberin von Handschriften (A.-M. Legaré). Dem Buchmaler Jean Poyer kann kein einziges erhaltenes Werk sicher zugeordnet werden, doch lässt sich ein Teil seines Oeuvres über die nachweislichen Auftraggeber rekonstruieren. Da sie vom Hof, Klerus und Bürgertum stammen, verdeutlicht Poyer in seiner Person deren vielfältige Verflechtungen und die Art ihres Funktionierens (M. Hofmann). Ein ähnliches Beziehungsgefüge zwischen Herzog und Hofbeamten, auch der ihrer Familien untereinander, wird anhand der Ausstattung der Kirche St.-Hippolyte in Poligny fassbar (S. Witt). Die Glasmalerei hält im Vergleich zur Buch-, Wand- und Tafelmalerei an archaisierenden Motiven fest, was sich auf höfische Architekturkonventionen zurückführen lässt (B. Kurmann-Schwarz).
Teil III analysiert das Gefüge von Bildwelten, Vorbildern und Referenzen. Vasco da Lucenas "Alexander" gestaltet den Helden im Vergleich zu anderen Handschriften in Text und Illustrationen als höfisches Vorbild und wird am Hof Karls des Kühnen mit strategischem Kalkül verteilt. Die Exemplare dieser Handschrift markieren, trotz ihrer Abweichungen auf Grund der Fertigung in verschiedenen Skriptorien, die Zusammengehörigkeit einer bestimmten Gruppe des frankophonen Hochadels (Ch. Blondeau). Der Hof von Anjou-Provence unter René I. profiliert sich dank einer besonderen Selbstreflexion, die am Beispiel der literarischen Produktion pointiert herausgearbeitet wird und auch Ironie und Parodie kennt (Ch. Freigang). Das Selbstverständnis von Autoren an den Höfen von Bourbon und Burgund tritt in Briefwechseln und Rhetoriktraktaten zu Tage (K. Straub). "Le Séjour d'Honneur" in der Redaktion des Dichters und Bischofs von Angoulême, Octovien de Saint-Gelais, wendet sich sowohl an Charles VIII. als auch an ein breiteres Publikum, das durch eine spätere Druckfassung erreicht wurde. Äneas als Identifikationsfigur eines Klerikers wird zum Beispiel, wie sich Geistlichkeit am Hof in Ritterideale integriert und zugleich im Sinne religiöser Lebensideale davon abgrenzt (J.-C. Mühlethaler).
Teil IV zur Memoria könnte mit Fug und Recht auch in jeden der anderen Teile integriert werden. Die Architektur von Poissy, einer Stiftung Philipps des Schönen, erweist sich im Vergleich mit anderen Kirchenstiftungen weder als spezifischer "Hofstil" noch retrospektiv, wie bisher angenommen wurde, bricht aber mit den Bau- und Ausstattungsregeln der Dominikaner. Der königliche Status sowohl des Stifters als auch des Kirchenpatrons mochte die Ausnahme rechtfertigen. Deshalb erscheint es fraglich, ob der Bau wirklich als "skandalös" (312, 313) empfunden wurde (M. Schlicht). Vier königliche Grabkapellen in St.-Denis, im 14. Jahrhundert ausgestattet und dotiert von Frauen, erproben neue Bildmittel, um nicht nur als Grablege, sondern auch als politisches Monument zu wirken, was einen Paradigmenwechsel einleitet (E. Leistenschneider). Die Grabmalskonzepte in England sind zwar vom französischen Hof beeinflusst, unterscheiden sich aber in einigen Punkten. Die Gründe für die Besonderheiten der Grabkapelle Heinrichs V. liegen in den "Legitimationsstrategien" (370), die er betrieb (A. Fehrmann). Das Selbstverständnis einer adligen Familie, der Montfort, dokumentiert sich in einem Grabmal in der Karmeliterkirche von Nantes und - als Dynastie und als Wohltäter der Karmeliter - im einzigartigen Bilderzyklus eines Missales dieser Kirche, dessen Auftraggeber jetzt aber nicht mehr in der Familie, sondern in den Karmelitern vermutet wird (A.-F. Köllermann). Die Siegesfeiern über Karl den Kühnen in Form verschiedener Zeremonien geraten zu einer regelrechten Memoria zu Ehren der Sieger, die sich auch in allegorisierter Chronistik und in Anfängen politischer Karikatur niederschlagen, was alles letztlich auch den Nachkommen der Sieger zur Ehre gereichen soll (Ch. Brachmann). Nicht ohne Humor beschließt dieser Beitrag zum Ende Burgunds den Band.
Es ist eine Kultur der Oberschicht, in der sich Hof, Stadt und Klerus zwar voneinander absetzen wollen, die drei Bereiche sich aber gegenseitig beeinflussen und der Hof die prägende Rolle behält. Mit seinem idealtypischen Rittertum präsentiert er sich mit strategisch geplanten Außenwirkungen auf städtische und klerikale Kultur und Kulturträger, deren Rezeption in der Folge oft genug auf den Hof bzw. Fürsten zurückwirkt. Dieser Ansatz ist nach Freigang in dem Sinne Johan Huizinga verpflichtet, dass höfische Kultur im Geflecht "komplex funktionierender Medien" (10) verstanden wird. Auch ohne dass man Huizinga hätte bemühen müssen, wird dieses System in allen Beiträgen eindrucksvoll herausgearbeitet. Ein geschlossenes Bild dieser Hofkultur kann nicht entstehen, weil der zeitliche Rahmen vom Beginn des 14. Jahrhunderts bis hin zu Maximilian I. sehr weit gesteckt ist. Das ist aber nicht als Nachteil, sondern als Anreiz zu weiteren Arbeiten zu verstehen, zeigen doch die Studien Grundlinien und zugleich vielfältige Möglichkeiten weiterer Forschung, die sich nicht speziell als historische, kunsthistorische, musikgeschichtliche usw. versteht, sondern als kulturgeschichtliche.
Die meisten der Beteiligten stehen am Beginn ihrer Karriere und liefern hier ein Beispiel übergreifender, ineinander greifender Forschung, die sie hoffentlich noch lange in dieser Weise betreiben werden. In diesem Sinn, nicht nur auf Grund von Ansatz und Genese, ist der Sammelband auch eine Hommage an W. Paravicini.
Renate Prochno-Schinkel