Inge Auerbach (Hg.): Reformation und Landesherrschaft. Vorträge des Kongresses anläßlich des 500. Geburtstages des Landgrafen Philipp des Großmütigen von Hessen vom 10. bis 13. November 2004 in Marburg (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen; Bd. 24,9), Marburg: Elwert 2005, X + 417 S., ISBN 978-3-7708-1283-7, EUR 48,00
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Am 13. November 1504 wurde Philipp von Hessen geboren, den schon seine Zeitgenossen "den Großmütigen" nannten. Der Landgraf zählt zu den international bekanntesten hessischen Fürsten. Der faszinierende Renaissanceherrscher und selbstbewusste Territorialherr gilt als einer der profiliertesten und tatkräftigsten politischen Wegbereiter der Reformation. 2004 jährte sich Philipps Geburtstag zum 500. Mal - Anlass genug, den Landgrafen mit einem Kongress in seiner Geburtsstadt Marburg zu würdigen.
Erfreulich rasch sind die insgesamt 17 Beiträge namhafter Historiker publiziert worden. Die ersten drei Beiträge befassen sich mit der hessischen Landesgeschichte. Bernd Moeller stellt "Hessen in Deutschland um 1500" vor. Moeller betont Hessens 'Bischofsferne', die der eigenständigen Kirchenpolitik und Klosterreform Raum gab und den Boden dafür bereitete, dass die Landgrafschaft von zentraler Bedeutung für die Reformation werden konnte. Fritz Wolff geht auf "Dynastie und Territorium bis ca. 1550" ein. Er unterstreicht, dass das Land Produkt der Dynastie ist: Die Abstammung von den Brabanter Herzögen, die zunächst in den norddeutschen, dann eindeutig in den süddeutschen Raum gerichtete Heiratspolitik und die Position des Reichsfürsten im Zeremoniell werden dargelegt. Das hessische Territorium entstand aus der Umwandlung des alten Lehenstaats in einen Flächenstaat. Davon betroffen waren Land und Leute, deren "Repräsentation" Günter Hollenberg untersucht. Er betont, dass, "wenn Philipp sprach, Hessen sprach - und niemand außer Philipp sprach für Hessen." (34) Die Vertreter der Stände erhoben ihre Stimme nur für ihre eigene Kurie. Hollenberg erläutert, dass der Landesherr die Hälfte aller hessischen Haushalte als Landes- und als Domanialherr vertrat.
Der Kirchen- und Reformationsgeschichte im 16. Jahrhundert widmen sich die folgenden fünf Beiträge. Friedhelm Jürgensmeier berichtet über "Kirche und kirchliche Institutionen in Hessen vor der Einführung der Reformation". Hessen gehörte zum Bistum Mainz. Ungeachtet einiger Konflikte arbeiteten Erzbischof und Landgraf an den klösterlichen Reformen einträchtig zusammen. Dieses Miteinander erlosch erst mit der Einführung der Reformation in Hessen. Philipp wählte neue Kooperationspartner: Martin Brecht beleuchtet das Verhältnis des Landgrafen zu den "Wittenbergern, Schweizern und Oberdeutschen Theologen". Er führt das Zusammenkommen des Landesherrn mit nahezu allen namhaften Reformatoren auf das Fehlen eines großen Theologen in Hessen zurück. Als junger Mann habe der Landgraf die Wittenberger Theologen durchaus als Instanz betrachtet, deren Rat er folgte. Die Bindungen zu den Schweizer Theologen seien insgesamt weniger bedeutend gewesen, wie Brecht anhand der Auseinandersetzung über die Abendmahlslehre nachweist.
Die verschiedenen Phasen der "Formierung einer evangelischen Landeskirche in Hessen" stellt Hans Schneider vor. Philipp ging von Beginn an weit über den kirchlichen Rechtsweg hinaus und setzte sich persönlich für die Implementierung des neuen Glaubens ein. Der Neuordnung wurden insbesondere der Gottesdienst, die Pfarrerschaft sowie die Armenfürsorge unterzogen. Nach der Überwindung innerer und äußerer Krisen stabilisierte sich die kirchenregimentliche Position des Landgrafen, der sich nie selbst als summus episcopus bezeichnet hat. (98) Das Kontrastprogramm zum dynamischen Hessen zeigt Horst Carl, der einen Blick auf das Erzstift Mainz als "geistliches Fürstentum als Nachbar und Antipode" der Landgrafschaft wirft. Er konstatiert, dass sich Mainz als "notorischer Verlierer in allen spätmittelalterlichen Territorialkonflikten" (108) aus der zu Beginn des 16. Jahrhunderts weitgehend erodierten territorialen Grundlage im Merlauer Vertrag von 1582 wieder als ebenbürtiger Partner erwies. Von großer Bedeutung waren "die Täuferbewegungen in Hessen", die Martin Rothkegel untersucht. Er geht zunächst auf die Haltung des Landgrafen gegenüber den Täufern und deren Bedeutung für den Verlauf der hessischen Reformationsgeschichte ein. Philipp war nicht bereit, mehrere christliche Glaubensparteien nebeneinander zu dulden, aber aufgrund seiner Überzeugung verhängte er keine Todesstrafen. Philipps Verbindung zu Bucer hat zur Gewinnung mehrerer Täuferführer für die hessische Landeskirche geführt.
Die Beiträge von Christina Vanja über die "Armen- und Krankenfürsorge" und William J. Wright über das "state system of schools" sind sozialgeschichtlich angelegt. Vanja erläutert das Verständnis des Landgrafen vom Gemeinwohl, das sich in der für die Zeit ungewöhnlichen Stiftung der vier Hohen Hospitäler ausdrückte. Der Landesherr stilisierte sich als mildtätiger Landesvater, indem er diese nach dem Vorbild der Bürgerspitäler zu Hospitälern erklärte, in die niemand gegen Geld, sondern nur aufgrund von Bedürftigkeit aufgenommen werden sollte. Wright weist nach, dass Philipp Schulen in jeder "Stadt oder Flecken" (152) gründete. Der Landgraf wollte Jungen unabhängig ihrer sozialen Herkunft mittels eines Stipendienwesens eine schulische Ausbildung ermöglichen und ihnen den Weg zum Studium in der von ihm neu gegründeten Universität ebnen - zum "gemeinen Nutzen und dem gantzen Vatter Land zu Ehren und Wolfahrt". (158)
Dynastiegeschichtlich ausgerichtet sind die beiden Beiträge von Manfred Rudersdorf über "die Fürstenfamilie und das Ringen um die hessische Sukzession" und von Eckhart G. Franz über "das Erbe Philipps des Großmütigen". Rudersdorf analysiert die Testamentspolitik des Landgrafen, der zunächst seinen ältesten Sohn als Alleinerben eingesetzt hatte, am Ende seiner Regierung aber einen Ausgleich zwischen den Ansprüchen seiner insgesamt 18 Kinder aus der ersten und der morganatischen Ehe finden musste. Rudersdorf unterstreicht, dass die ursprünglich nicht gewollte Landesteilung unter den vier legitimen Söhnen dennoch dem aristokratischen Familiensinn des Landgrafen entsprach. Franz fragt, "ob die Krokodilstränen über die verlorene Chance, der Gesamt-Landgrafschaft eine dauerhafte Führungsrolle à la Brandenburg-Preußen zu sichern, berechtigt sind." (335) Immerhin seien Errungenschaften durch den Brüdervergleich von 1567 gemeinschaftlich zu verwalten, zu nutzen und zu genießen: Samthofgericht, Samtarchiv, Samthospitäler, Generalsynoden usw. überdauerten die Zeit.
Eine erweiterte Perspektive auf Hessen und das Reich nehmen vier Beiträge ein: Dieter Stievermann legt eine Bilanzierung einiger wichtiger Aspekte der hessischen Außenpolitik bis zum Jahr 1546 vor und betont, dass Philipps Bekenntnis zur evangelischen Lehre nicht hinreiche, um sein bisweilen durchaus riskantes politisches Handeln zu erklären. Philipp habe es verstanden, auch überkonfessionell die Reichsstruktur und den Antagonismus von Kaiser und Reichsständen optimal zu nutzen. Stievermann zeigt fünf konzentrische Kreise vom Kern-Territorium bis Europa auf, in denen sich das Handeln des Landgrafen abbilden lasse. Je größer die Perspektive, desto kleiner falle das Objekt Philipp aus. Alfred Kohler erforscht die Haltung der Reichsstände zur Religionsfrage im politischen Kalkül Karls V., vor dem Hintergrund der Monarchia universalis ein Moment ersten Ranges. Kohler betont, dass sowohl Karl als auch Ferdinand die antimonarchische Solidarität der Reichsstände und die Dynamik der reformatorischen Bewegung von Anfang an unterschätzt hätten, und kommt zu dem Schluss, dass die religionspolitische Entwicklung im Reich einen Katalysator für die Abdankung des Kaisers gebildet habe. Der "Reichspolitik Philipps in der letzten Dekade" wendet sich Ernst Laubach zu. Die Jahre nach der Gefangenschaft seien bisher von der historischen Forschung nicht unter dem Aspekt der reichspolitischen Haltung des Landgrafen untersucht worden. Die Bereitschaft des Landgrafen von Hessen sich für die Einigung der Stände über die Glaubensfrage einzusetzen, zeigt sich an den Instruktionen für seine Gesandten auf den Reichstagen. Laubach hebt hervor, dass Philipp zum einen alles vermeiden wollte, was bei den Habsburgern Argwohn gegen die Protestanten hätte erwecken können. Zum anderen aber habe sich Philipp nicht in die kaiserliche Politik einbinden lassen. Inge Auerbach untersucht die Außenpolitik Philipps und geht dabei detailliert auf Ungarn, Preußen, Livland, Polen und Böhmen ein und fragt nach den Chancen der Ostpolitik des Landgrafen. Anschließend untersucht Auerbach Philipps 'Türkenpolitik' und kommt zu dem Ergebnis, dass der Hesse reine Machtpolitik betrieb, deren Priorität auf dem Erwerb neuer Territorien beruhte.
Die europäische Perspektive schließlich nimmt Anton Schindling ein, der die "Erfahrungsräume eines Reformationsfürsten" in Reich und Europa absteckt. Landgraf Philipp, Fürst eines der 'modernsten' Territorien des Reichs, hatte an den entscheidenden Ereignissen der Reformation Anteil als engagierter Beobachter, dynamischer Vorreiter des Protestantismus und Herausforderer von Papst und Kaiser. Schindling, der darauf hinweist, dass religiöse von machtpolitischen Ansichten nicht getrennt werden können, resümiert, dass Philipp trotz seiner Überzeugung von der evangelischen Lehre immer konsequent auf der Seite der politischen Pragmatiker blieb und so den Kern seines reformatorischen Lebenswerks sichern konnte.
Der Sammelband, der mit den Verzeichnissen gedruckter Quellen (377-381) und häufiger genannter Literatur (383-417) abschließt, präsentiert den aktuellen Stand der Forschungen zur Person des Landgrafen, zur maßgeblich von ihm beförderten Reformation und zur hessischen Landesherrschaft aus Sicht von Landes- und Reichshistorikern, von Katholiken und Protestanten sowie von Spezialisten für deutsche und europäische Geschichte.
Pauline Puppel