Rezension über:

Daniela Gniss: Der Politiker Eugen Gerstenmaier 1906 - 1986. Eine Biographie (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Bd. 144), Düsseldorf: Droste 2005, 514 S., ISBN 978-3-7700-5264-6, EUR 64,80
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Rezension von:
Karl-Joseph Hummel
Kommission für Zeitgeschichte, Bonn
Empfohlene Zitierweise:
Karl-Joseph Hummel: Rezension von: Daniela Gniss: Der Politiker Eugen Gerstenmaier 1906 - 1986. Eine Biographie, Düsseldorf: Droste 2005, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 1 [15.01.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/01/8750.html


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Daniela Gniss: Der Politiker Eugen Gerstenmaier 1906 - 1986

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Eugen Gerstenmaier zählt zu den führenden CDU-Politikern der ersten zwei Jahrzehnte der Geschichte der Bundesrepublik. Wenn ihm auch die Übernahme eines Ministeramtes verwehrt blieb, übte er als Bundestagsabgeordneter und stellvertretender Parteivorsitzender erheblichen Einfluss aus und machte außerdem durch selbstständige außenpolitische Initiativen von sich reden. An seine vierzehnjährige Zeit als Bundestagspräsident (1954-1969) erinnert noch heute unübersehbar der "Lange Eugen", das Abgeordneten-Hochhaus am Bonner Rheinufer.

Daniela Gniss hat mit der überarbeiteten Fassung ihrer Frankfurter Dissertation die erste wissenschaftliche Biografie Eugen Gerstenmaiers vorgelegt und sich dabei ganz auf dessen politische Tätigkeit konzentriert. Der Aufbau ihrer Arbeit folgt weitestgehend der Chronologie der Ereignisse:

Gerstenmaiers Weg in die Politik war keineswegs vorgezeichnet. 1906 wurde er im schwäbischen Kirchheim unter Teck als erstes von acht Geschwistern geboren und wuchs in einem handwerklich-bäuerlich und zugleich protestantisch-pietistisch geprägten Umfeld auf (Kapitel 1). Nach der Realschule absolvierte er eine kaufmännische Ausbildung, entschloss sich aber nach einigen Jahren der Berufstätigkeit, das Abitur nachzuholen, und begann 1931 ein Studium der evangelischen Theologie in Tübingen und Rostock (Kapitel 2). Gerstenmaier engagierte sich in der Rostocker Studentenschaft und war als Fachschaftssprecher in den Beginn der innerkirchlichen Konflikte der Dreißigerjahre involviert. Nach einem Gastsemester in Zürich und dem Vikariat im württembergischen Gaildorf entschied er sich für eine wissenschaftliche Laufbahn und arbeitete von 1936 an mehrere Jahre lang als wissenschaftlicher Mitarbeiter von Bischof Theodor Heckel im Kirchlichen Außenamt in Berlin (Kapitel 3). Auf den Auslandsreisen, die mit dieser Tätigkeit verbunden waren, konnte Gerstenmaier zahlreiche Kontakte knüpfen, die sich für seine spätere Karriere als wertvoll erweisen sollten. Die ersehnte Berufung auf eine Hochschuldozentur, um die Gerstenmaier sich in diesen Jahren angestrengt bemühte, blieb ihm jedoch verwehrt, obwohl er zu diesem Zeitpunkt kein entschiedener Regimegegner war und führenden Vertretern der Bekennenden Kirche reserviert gegenüberstand. Dennoch galt er bei den Machthabern als politisch unzuverlässig.

Im Lauf der Jahre erkannte Gerstenmaier immer deutlicher den verbrecherischen Charakter des NS-Regimes, den er vor allem durch Hitlers aggressive Expansionspolitik seit 1938 bestätigt sah, und schloss sich daraufhin dem politisch-militärischen Widerstand an (Kapitel 4). Über Bekannte kam er in Kontakt mit den Mitgliedern des Kreisauer Kreises und nahm an zweien ihrer Versammlungen teil. Wie die meisten anderen "Kreisauer" wurde er nach dem 20. Juli 1944 verhaftet und vor den Volksgerichtshof gestellt. Zu seiner eigenen Überraschung lautete das Urteil jedoch nicht auf Hinrichtung, sondern auf eine langjährige Zuchthausstrafe. Welchen Umständen er sein Leben verdankte, muss Gniss letztlich offen lassen, sie vermutet aber, analog zu Gerstenmaiers eigener späterer Darstellung, dass die Fürsprache des stellvertretenden Reichspressechefs Helmut Sündermann den Ausschlag gegeben habe.

Nach dem Ende des Krieges und seiner Befreiung aus dem Zuchthaus Bayreuth sah Gerstenmaier seine Aufgabe vorrangig im karitativen Bereich. Er begann, in Stuttgart das Evangelische Hilfswerk aufzubauen, dessen Leiter er für mehrere Jahre wurde (Kapitel 5). Sein Wechsel in die Politik wurde der Autorin zufolge nicht von ihm selbst betrieben, sondern ging auf die Werbeversuche einer Gruppe von CDU-Gründungsmitgliedern innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland zurück, die Gerstenmaier 1949 drängten, sich um ein Bundestagsmandat in dem schwäbischen Wahlkreis Backnang-Schwäbisch Hall zu bemühen (Kapitel 6). Gerstenmaier reagierte zunächst zögerlich und hielt sich die Option, in den Dienst der Kirche zurückzukehren, noch viele Jahre lang offen. Nach seinem Wahlsieg über einen starken liberalen Gegenkandidaten wurde er jedoch rasch zu einem hoch geachteten Parlamentarier und war auf Grund seiner Erfahrungen in der Flüchtlingsarbeit sogar als Kandidat für das Vertriebenenministerium im Gespräch.

In den folgenden Jahren engagierte er sich vor allem in der Außenpolitik (Kapitel 7). Loyal unterstützte er Adenauers Kurs der Westbindung und seine Bemühungen um die europäische Integration und zog 1951 als Abgeordneter in den Europarat ein. Daneben entwickelte er eigenständige Initiativen in der Afrika-Politik.

Auch im zweiten Adenauer-Kabinett war Gerstenmaier nicht als Minister vertreten, stattdessen trat er 1954 die Nachfolge des verstorbenen Hermann Ehlers als Bundestagspräsident an - ein weiterer Schritt in seiner Karriere, den er laut seiner Biografin nicht ganz freiwillig unternahm (Kapitel 8). Dennoch vermochte er in seiner neuen Funktion Akzente zu setzen und bemühte sich vor allem um einen würdigen äußeren Rahmen für die Bundestagssitzungen und verbesserte Arbeitsbedingungen für die Parlamentarier. Dazu betrieb er u. a. den Bau des neuen Abgeordnetenhauses, ohne damit den provisorischen Charakter Bonns als Bundeshauptstadt in Frage stellen zu wollen.

Es fiel Gerstenmaier oft nicht leicht, die Balance zwischen dem Präsidentenamt und seiner Funktion als Parteipolitiker zu halten (Kapitel 9). Gniss schildert ausführlich die kleinen und großen politischen Auseinandersetzungen, in die Gerstenmaier in jenen Jahren verwickelt war. Dabei entsteht bisweilen der Eindruck, dass er sich mit der SPD - vor allem mit Carlo Schmid - besser verstand als mit seiner eigenen Fraktion. Zu Recht knüpfte er an eine Große Koalition Hoffnungen für seine eigene politische Karriere, möglicherweise sogar auf die Kanzlerschaft, vor allem aber auf den Außenministerposten. Nur die Aufteilung der Ministerien zwischen den Koalitionspartnern machte laut Gniss diese Hoffnung zunichte.

Einen ausführlichen Exkurs widmet die Verfasserin der Propaganda-Kampagne der DDR-Regierung gegen Gerstenmaier, die in der Veröffentlichung der Schmähschrift "Vom SD-Agenten P 38/546 zum Bundestagspräsidenten" Anfang 1969 gipfelte. Dabei vermag der Befund freilich kaum zu überraschen, dass das SED-Regime mit einer einseitigen Auswahl und Auswertung von Dokumenten sowie verkürzten und damit verfälschenden Zitaten arbeitete, um einem der führenden Politiker der Bundesrepublik eine Beteiligung an den NS-Verbrechen anlasten zu können.

Das zehnte und letzte Kapitel der Biografie ist Gerstenmaiers Rücktritt vom Amt des Bundestagspräsidenten und seinem Lebensabend gewidmet, den er zurückgezogen in sein Privatleben verbrachte. Ausschlaggebend für seinen Rücktritt war die Affäre um eine Wiedergutmachungszahlung in Höhe von rund einer Viertelmillion DM, die Gerstenmaier dafür zugesprochen wurde, dass ihm während der NS-Zeit die Professur verweigert worden war. In der Öffentlichkeit wurde die Höhe der Entschädigung als unangemessen empfunden und Gerstenmaier gar unterstellt, er selbst habe die Veränderung der Wiedergutmachungsgesetzgebung zu seinen eigenen Gunsten betrieben.

Die mehr als 500 Seiten starke Studie von Daniela Gniss beruht auf der Auswertung eines enorm umfangreichen Quellenmaterials. Neben gedruckten Quellen hat die Verfasserin Dokumente aus 26 Archiven herangezogen, darunter allein mehr als 70 Nachlässe west- und ostdeutscher Politiker. Entsprechend detailliert und kenntnisreich fällt ihre Biografie demzufolge aus.

Dabei scheint die Fülle des Materials jedoch bisweilen eher hinderlich gewesen zu sein, denn es gelingt der Verfasserin nur begrenzt, Gerstenmaier als Persönlichkeit aus den Einzelheiten seines Lebenswegs hervortreten zu lassen. Die in der Einleitung aufgeworfenen Fragen, "ob Eugen Gerstenmaier als typischer Vertreter seiner Generation betrachtet werden kann" und "in welchem Maße Gerstenmaiers späteres Wirken durch die von ihm durchlaufene Sozialisation in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus geprägt wurde", bleiben am Ende unbeantwortet. Bisweilen wird innerhalb der Schilderung der Rahmenbedingungen, in denen Gerstenmaier agierte, die Bedeutung seines persönlichen Wirkens nicht klar (vor allem in Kapitel 3). Wesentliche Informationen sind nicht selten in den umfangreichen Anmerkungen versteckt. Typische Charakterzüge Gerstenmaiers wie sein ungezügeltes Temperament, aber auch seine Verwurzelung im Protestantismus werden zwar gelegentlich in attributiver Form postuliert, aber nicht anhand konkreter Begebenheiten verdeutlicht. Infolgedessen kann der Leser sich kein klares Bild davon machen, wie Gerstenmaier z. B. in seiner eigenen Partei tatsächlich positioniert war. Waren die vielen Reibereien mit Adenauer nur Auseinandersetzungen im politischen Arbeitsalltag oder doch Symptome tiefer gehender Differenzen? Schätzte Adenauer Gerstenmaier nur als "Quoten-Protestanten" oder auch als Person? Wie ist es zu erklären, dass Gerstenmaier trotz ständiger Querelen in Umfragen unter den beliebtesten drei Politikern in Deutschland genannt wurde?

Unterbelichtet bleiben auch Gerstenmaiers persönliche Motive für bestimmte Entscheidungen, nicht zuletzt für seinen Weg in den Widerstand. Welche der zahlreichen in der Biografie erwähnten Personen waren seine einflussreichsten Weggefährten? Selbst diejenigen, die für so zentrale Entwicklungen wie seine Kontakte zum Kreisauer Kreis oder gar seine Bewahrung vor der Hinrichtung ausschlaggebend waren, werden in der Darstellung nur gestreift. Offenbar vermochte an diesen Stellen die Quantität der Quellen deren mangelnde Aussagekraft nicht zu kompensieren, und es fehlt auch eine quellenkritische Auseinandersetzung mit Gerstenmaiers 1981 erschienenen Erinnerungen.

Die Schlussbetrachtung hätte die Möglichkeit geboten, die vielen Fäden, die in der Darstellung gesponnen werden, zu einem einheitlichen Strang zu verknüpfen und zu verdeutlichen, worin die neuen Ergebnisse dieser Studie gegenüber früheren Arbeiten über Gerstenmaier liegen. Leider bietet sie aber wenig mehr als ein Lebensbild unter Hervorhebung der wichtigsten Stationen von Gerstenmaiers politischem Leben.

Bei einer gründlichen Durchsicht des umfangreichen Werkes hätten sicher einige der beschriebenen Mängel behoben werden können. Sie wäre auch dringend notwendig gewesen, um wenigstens einen Teil der gehäuft auftretenden sprachlichen, grammatikalischen, orthografischen und Zeichensetzungsfehler (mehr als 600 allein im Haupttext!) zu korrigieren, die den Lesefluss neben vielen stilistischen Ungeschicklichkeiten erheblich beeinträchtigen. An Material und an Kenntnissen hat es der Verfasserin nicht gefehlt, leider aber bisweilen an dem nötigen Geschick, die Masse der Dokumente übersichtlich zu ordnen und zu präsentieren.

Karl-Joseph Hummel